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2012/07/20 17:47:35
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[Regionalforum-Saar] Konf: Buergerliche Lebenswelten im Spaetmittelalter und in der fruehen Neuzeit
Datum 2012/07/26 23:21:41
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[Regionalforum-Saar] Konf: Buergerliche Lebenswelten im Spaetmittelalter und in der fruehen Neuzeit
Autor 2012/07/26 23:21:41
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Tagesexkursion nach Haroué

[Regionalforum-Saar] Soldatenleben.

Date: 2012/07/25 23:17:33
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

Furrer, Daniel: Soldatenleben. Napoleons Russlandfeldzug 1812.
Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag 2012. ISBN 978-3-506-77408-8; 328
S.; EUR 34,90.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Dierk Walter, Hamburger Institut für Sozialforschung
E-Mail: <Dierk_Walter(a)... Geschichtsschreibung, die als Wissenschaft an der Universität
betrieben wird und es nicht versteht, sich in verständlicher Form an ein
breites Publikum zu wenden, hat geringe Daseinsberechtigung." (S. 315f.)
So motiviert der Kulturhistoriker Daniel Furrer seine quellennahe
Alltagsgeschichte des Russlandfeldzuges von 1812. Zweifellos wendet sich
die Darstellung eher an ein "breites Publikum". Schon das an ein
Schulbuch erinnernde Design des Bandes, mit illustrierten und mehrfarbig
hinterlegten Kapitelvorsatzblättern, auf deren Rückseite sich jeweils
ein (übrigens nicht nachgewiesenes) Mottozitat findet, und mit
zahlreichen (allerdings bezaubernden zeitgenössischen) Illustrationen
legt das nahe. Die Sprache Furrers ist entsprechend anschaulich und
allgemeinverständlich, dabei aber dennoch präzise; für einen
wissenschaftlichen Text allerdings würde sie wohl als etwas zu
emphatisch ("Das war ein gravierender Fehler!", S. 303) und malerisch
empfunden.

Sehr für das "breite Publikum" gedacht ist sicher auch der Aufbau des
Bandes, der nach einer Vorstellung der wesentlichen Zeitzeugen, die in
den Quellen zu Wort kommen, in vier kürzeren Kapiteln auf sehr
einführendem Niveau die historischen Hintergründe darstellt, vom
napoleonischen Kaiserreich über die Mächtekonstellation und die
Kriegführung um 1800 zu den unmittelbaren Umständen des
Russlandfeldzuges. Stellenweise fühlt man sich hier erneut an ein
Schulbuch erinnert, etwa wenn mit einer entsprechenden Schulatlaskarte
erneut die Zersplitterung des Heiligen Römischen Reiches
hervorgestrichen wird (S. 78f.). Ins Bild passt schließlich auch der
sehr spärliche wissenschaftliche Apparat; im Schnitt kommen auf jede
Textseite weniger als eineinhalb Endnoten.

Das jedoch nur zur Einordnung: Ein Forschungsbeitrag ist dieses Buch
nicht, und selbst wer als Historiker nicht eine der einschlägigen
vorliegenden Darstellungen des Russlandfeldzuges von 1812 gelesen
hat[1], wird bei Furrer wenig Neues entdecken. Vieles, was man hier über
das Soldatenleben im Jahr 1812 erfährt, sind letztlich nur die
allgemeinen Umstände der Kriegführung unter Bedingungen frühmoderner
Hygiene und Transportmittel und miserabler Logistik. Das aber stellt
Furrer für den interessierten Leser ohne große Vorkenntnisse ziemlich
umfassend, sehr anschaulich und ausgesprochen kenntnisreich und souverän
dar. Kern des Buches ist zweifellos das systematische Kapitel 6 zum
eigentlichen Soldatenleben. Übernachten im Freien und im Quartier,
(Gewalt-)Märsche, Hunger, Durst, Seuchen, Kälte, Gefecht,
Gefangenschaft, Plünderung, Desertion und Strafe sowie ein kurzer
Bauchladen-Abschnitt "Kurioses und Unglaubliches" (wo es um aufopfernde
Tierfreunde und heimwehkranke Schweizer geht) - alles wird quellennah im
Detail berichtet. Dem schließen sich ebenfalls quellennahe Vignetten zu
Wendepunkten des Feldzuges an: Die Hauptschlacht bei Borodino, blutigste
der napoleonischen Kriege; der Brand von Moskau; der Übergang über die
Beresina; die enttäuschte Hoffnung des Desasters von Wilna. Weitere
Kapitel widmen sich der Heimkehr der (wenigen) Überlebenden und der
Konfrontation zwischen Soldaten und Zivilbevölkerung anlässlich von
Requisitionen bzw. Plünderungen. Die ausführlichen Zitate aus den recht
banalen Feldzugserinnerungen einer einzelnen Soldatenfrau, die das ganze
Kapitel 13 füllen, lösen allerdings den Anspruch einer "weiblichen Sicht
auf den Russlandfeldzug" (so der Covertext des Buches) nur rein formal
ein und sind mit "Kriegsamazonen" jedenfalls viel zu theatralisch
überschrieben. Dass auf dem Rückzug aus Moskau Soldatenfrauen auch
Kinder bekommen haben, die dann bei -20°C erfroren sind, ist ebenfalls
keine "unglaubliche Geschichte" (S. 280). Hier wird Alltägliches allzu
werbewirksam hochstilisiert. Abgeschlossen wird das Buch mit kurzen
Bemerkungen zur Erinnerung an die napoleonischen Kriege.

Die darstellenden Teile des Bandes basieren, wie bereits gesagt, auf
teilweise seitenlang wörtlich wiedergegebenen Zeitzeugenberichten. 28 an
der Zahl, reichen sie von der klassischen Memoirenliteratur
(Caulaincourt, Larrey, Marbot, Segur, Clausewitz) bis zu
Selbstzeugnissen einfacher Soldaten. Zählt man, wie es Furrer tut, den
Wahlfranzosen Jomini mit, so stammen zehn der 28 Berichte von Schweizern
und einer von einer Schweizerin. Und das führt uns zu einem veritablen
(und im Titel unbenannten) Nebenthema von Furrers Darstellung: Es
handelt sich nicht zuletzt um eine Geschichte der Schweizer Beteiligung
am Russlandfeldzug. Das ist aus mehrfacher Hinsicht interessant: Nicht
nur, weil es ein Licht darauf wirft, dass die Grande Armée, die eine
halbe Million Mann stark in Russland einfiel, nur zur Hälfte aus
Franzosen und gar nur zu einem Viertel aus dem eigentlichen
(vornapoleonischen) Frankreich stammte: Unter anderem marschierten vier
Schweizer Regimenter nach Moskau (und rund 300 Mann kamen zurück).
Ferner ist dieser Umstand interessant wegen der - von Furrer denn auch
ausführlich gewürdigten - Tradition des Solddienstes von Schweizern für
fremde Heere. In vielen europäischen Kriegen bis ins 19. Jahrhundert
kämpften Schweizer, mitunter auf beiden Seiten, stets eng war ihre
Verbindung zur Bourbonenmonarchie und überrepräsentiert waren sie noch
im 20. Jahrhundert in der französischen Fremdenlegion. Aber für einen
Schweizer hat die Teilnahme von Schweizern am Russlandfeldzug von 1812
noch eine tiefere, spezifische Bedeutung: Beresina. Lassen wir noch
einmal Furrer selbst sprechen:

"In der Schweizer Geschichtsschreibung wird der Russlandfeldzug in die
(glorreiche) Geschichte der fremden Dienste eingeordnet. [...] Im
Russlandfeldzug erstrahlte nochmals in hellstem Glanz, wofür die Schweiz
bis heute gerne steht: Zuverlässigkeit, Präzision und vollkommene
Beherrschung eines Handwerks - wobei es sich in diesem Fall um das
Söldnerwesen handelt. Die Schlacht an der Beresina wird nämlich als Echo
des Heldenmuts der Altvorderen von Morgarten und Sempach verstanden."
(S. 300f.)

Bis heute kennt man denn auch in der Schweiz das im 20. Jahrhundert (!)
popularisierte "Beresinalied". Kein Wunder also, dass Furrer recht
ausführlich diskutiert, ob außergewöhnlicher Heldenmut der Schweizer
Truppen an der Beresina die Armee gerettet hat. Mag die Frage von
verständlichem Patriotismus beeinflusst sein, so ist die Antwort ein
sachliches Nein. Weder war die betreffende Aktion militärisch
ausschlaggebend, noch waren die Schweizer die einzigen Helden der
Beresina: Die französischen Kürassiere, die sie nach ihrem unklugen
Gegenangriff heraushauen durften, vor allem aber die Pioniere, die im
eiskalten Wasser die Pontonbrücken erbauten, über die sich die Reste der
Grande Armée in Sicherheit brachten, haben für Furrer wenigstens
denselben Anspruch auf den Lorbeerkranz - wenn denn Ruhm und Ehre
überhaupt relevante historische Kategorien sind, was Furrer klugerweise
stark relativiert. Eine gewisse Faszination mit dem Schweizer Heldentum
im Jahre 1812 kann die Darstellung dennoch nicht verleugnen.


Anmerkung:
[1] Zuletzt sehr anschaulich und erheblich quellenreicher: Adam
Zamoyski, 1812. Napoleon's Fatal March on Moscow, London 2004.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Daniel Menning <daniel.menning(a)...