Date: 2022/10/04 19:45:17
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Olgas Tagebuch
(1941–1944). Unerwartete Zeugnisse einer jungen Ukrainerin
inmitten des
Vernichtungskriegs
Herausgeber Tanja Penter; Stefan Schneider,
Erschienen Köln 2022: Böhlau
Verlag
Anzahl Seiten 432 S.
Preis € 39,00
ISBN 978-3-412-52182-0
Inhalt => meinclio.clio-online.de/uploads/media/book/toc_book-76544.pdf
Rezensiert für H-Soz-Kult von Maria Kovalchuk, Historisches
Seminar,
Ludwig-Maximilians-Universität München
[Die Originalbesprechung wurde in englischer Sprache verfaßt.
Ich habe sie „nur“
durch den Google-Übersetzer geschickt. gr]
Wie erlebt ein heranwachsendes Mädchen einen Krieg? Warum sind
ihre
Alltagserfahrungen des Lebens unter einem Besatzungsregime eine
wertvolle
Quelle für die historische Forschung? Wenn wir diese Fragen
stellen, denken wir
vielleicht an Anne Franks Tagebücher und ihr 25-monatiges Leben
im Versteck im
von Deutschland besetzten Amsterdam. Ihr Schreiben wurde zum
Non-Plus-Ultra der
Erzählung junger Erwachsener über den Zweiten Weltkrieg und
konstruierte eine
Weltanschauung und Routine des jugendlichen Lebens in
Kriegszeiten. Zur
gleichen Zeit schrieb in einem anderen Teil Europas, in der
Sowjetukraine, auch
die 17-jährige Olga Kravtsova im Sommer 1941 ein Tagebuch, in
dem sie ihr Leben
unter wechselnden Diktaturen, der deutschen Besatzung und dem
Sowjetregime reflektierte.
Olgas Tagebücher sind eine immens wichtige Quelle für
Historiker, die ein
breites Themenspektrum aufzeigen, wie z. B. die Interaktionen
zwischen der
lokalen Bevölkerung und Deutschen in der besetzten Ukraine, das
Zugehörigkeitsgefühl sowie die Identitätskonstruktion unter
autoritären
Regimen, die Entwicklung von Loyalitäten, das Psychische
Transformation ins
Erwachsenenalter, Probleme der Zusammenarbeit mit
Besatzungsmächten und junge
weibliche Perspektiven auf den Krieg. Olgas Kriegszeugnisse
wurden nun erstmals
von Stefan Schneider ins Deutsche übersetzt und mit einer
Einführung von Tanja
Penter veröffentlicht.
Olgas Geschichte spielte sich in einer einzigartigen
Konstellation ab: Sie war
das Produkt einer spezifischen ideologischen Erziehung, belesen
und neugierig
und lebte in einer strategisch wichtigen Stadt, wo sie als
Dolmetscherin für
Deutsche in der besetzten Ukraine arbeitete. Die Stadt Znamianka
hat einen
bedeutenden Eisenbahnknotenpunkt, der sowohl für die deutschen
als auch für die
sowjetischen Streitkräfte von strategischem Interesse war und
daher zu einem
Zentrum der Interaktion mit den deutschen Behörden, der
Wehrmacht und den
Eisenbahnarbeitern wurde. Dank ihrer Deutschkenntnisse bekam
Olga eine Stelle
als Dolmetscherin bei der Bahnverwaltung und traf zahlreiche
deutsche Arbeiter,
Soldaten und Offiziere und sogar hochrangige Führungskräfte.
Olga beschrieb
diese Begegnungen und die Gefühle, die sie in ihrem Tagebuch
hervorriefen,
dokumentierte den Prozess, eine erwachsene Frau zu werden, die
in Kriegszeiten
gezwungen war, schneller erwachsen zu werden, reflektierte die
ideologischen
Fehler beider Regime und überdachte alles, was sie zuvor in der
sowjetischen
Schule gelernt hatte .
Diese Ausgabe bietet eine hervorragende Einführung von Tanja
Penter, die
umfassend über die deutsche Besatzungspolitik in der Ukraine im
Zweiten
Weltkrieg, Jugendkriegsberichte und Ego-Dokumente veröffentlicht
hat. Ihr knapp
80 Seiten langer Einführungsartikel ordnet Olgas Tagebuch
Forschungsfeldern zu,
kontextualisiert detailliert Zeit, Ort und Politik, analysiert
und definiert
zentrale Themen und Probleme und zeigt das große Potenzial
dieser besonderen
Quelle für Forscher auf. Dazu gehört zum Beispiel das Verfassen
einer
verwickelten Geschichte der Stadt Znamianka. Der Autor
diskutiert die
Tagebuchstudien, die für die Sowjetzeit und das NS-Regime
durchgeführt
wurden.[1] Penter verdeutlicht aber auch die Grenzen von Olgas
Erzählungen, die
typische weibliche Erfahrungen mit Gewalt, Deportation oder
Zwangsarbeit und
anderen Kriegsverbrechen des NS-Regimes während des
„Vernichtungskrieges“ nicht
vollständig widerspiegeln, sondern vielmehr ein bestimmtes
Weltbild einer
jungen Frau vermitteln persönliche und ideologische
Transformationen während
der Kriegserfahrung (S. 20; 50–53).
Bei der Erörterung der ukrainischen Erfahrungen des Zweiten
Weltkriegs hätten
Beispiele anderer Tagebücher und Korrespondenzen erwähnt werden
können, die in
der Ukraine oder von Ukrainern geschrieben wurden. Dazu gehören
die Tagebücher
der Kiewer Bürgerin Nina Herasymova[2], die ein jüdisches
Ehepaar versteckt und
vor dem Massaker von Babyn Jar gerettet hat, oder die Briefe von
Osyp
Kladochnyi[3], einem Sekretär des Mytropolyten Andrey Sheptytsky
(Metropolitan-Erzbischof der Ukraine). Griechisch-Katholische
Kirche
1901–1944), der über die Lage im von den Nazis besetzten Kiew,
Schytomyr und
Winnyzja berichtete. Ein weiteres interessantes Beispiel
ukrainischer
Ego-Dokumente sind die Tagebücher des ukrainischen
Filmregisseurs und
Schriftstellers Oleksandr Dovzhenko, der über die Rolle und das
Schicksal der
ukrainischen Intelligenz im Stalinismus und während des Zweiten
Weltkriegs
nachdachte, und der Zeugenbericht des ukrainischen Ingenieurs
Viktor
Kravchenko. der die stalinistischen Säuberungen überlebte und
1946 in die USA
überlief.[4]
Ansonsten ist die Einführung in Olgas Tagebücher von Penter eine
großartige Lektüre
für alle, die sich für die Erforschung von Ego-Dokumenten, der
sowjetischen
ukrainischen Geschichte, der Ukraine unter deutscher Besatzung
und den
Interaktionen zwischen Deutschen und der lokalen Bevölkerung
interessieren.
Penter bereitet den Leser vollständig auf den Kontext der
Tagebücher vor, indem
er Details zur Jugendpsychologie und Adoleszenzkrisen,
transkulturellen
Interaktionen in Znamianka und zur Kontextualisierung weiblicher
Kriegserfahrungen liefert, indem er auf die Geschichte sexueller
Gewalt während
des Zweiten Weltkriegs, Beziehungen und Ehen hinweist mit
Besatzern und
Bordellen der Wehrmacht usw. Insgesamt hilft es dem Leser,
unabhängig von
seinem Fachwissen, in Olgas Welt einzutauchen und die Details
und den Kontext
der Erzählung zu verstehen.
Olga schrieb ihre Tagebücher auf Russisch mit einigen
ukrainischen Wörtern, die
in ihre Sprache eingebettet waren, sowie einigen Passagen auf
Deutsch. Solche
Tagebücher zu übersetzen kann eine sprachliche Herausforderung
sein und Stefan
Schneider hat seine Aufgabe als Übersetzer perfekt erfüllt.
Seine sprachliche
Einführung geht detailliert auf Olgas sprachliche Eigenheiten
und Umgebung ein,
die ihre Erzählung geprägt haben, und füllt sie mit regionalen
dialektischen
Wörtern und ukrainischen Einflüssen auf lexikalischer und
syntaktischer Ebene.
Zu den überzeugendsten Themen in Olgas Tagebüchern gehören
Ideologie,
Identitätskonstruktion und Zugehörigkeit, die Entwicklung von
Loyalitäten,
persönliche Veränderungen und Kontakte zu Deutschen. Die Kraft
der persönlichen
und ideologischen Transformation ist eine der sichtbarsten
Dynamiken in den
Tagebüchern, denn am Anfang stehen wir Olga gegenüber, einer
loyalen Komsomolka
(Mitglied der sowjetischen Jugendorganisation, der
Kommunisticheskii soiuz
molodzhyozhi), die es auch unter der deutschen Besatzung
versucht deutsche
Soldaten und Arbeiter von der Überlegenheit des Kommunismus und
der
sowjetischen Führung zu überzeugen (S. 163). Als sie zufällig
eine sowjetische
Propagandanachricht im Radio hört, schreibt Olga: „Glück ist,
Liebe für das
Vaterland und Hass auf Feinde zu empfinden. Nein, ich kann nicht
umerzogen
werden; Nie zuvor hatte ich das Gefühl, vom Komsomol so stark
erzogen worden zu
sein. Obwohl ich wütend auf die sowjetische Presse war, gab es
zwar Sünden,
aber dennoch blieb ich meinen Ideen treu und würde sie niemals
ändern“ (S.
183). Der Krieg verdeutlicht und stärkt zunächst ihre Loyalität
und
Zugehörigkeit zum sowjetischen Gedankenreich, sie schreibt stolz
„uns/unser“ in
Bezug auf Sowjets und verwendet oft Propagandabegriffe (S. 171).
Gleichzeitig
bemerkt sie, wie gebildet und charmant deutsche Männer sein
können, und dank
ihrer Sprachkenntnisse gelingt es ihr, mit ihnen ins Gespräch zu
kommen, aus
einer Begegnung werden Freundschaften und Liebe. Ihre Beziehung
zu einem
österreichischen Eisenbahnarbeiter Heinz löst eine große
Veränderung in Olgas
Leben aus und drängt sie dazu, ideologische Erzählungen und
Verallgemeinerungen
über Männer im Allgemeinen und „Feinde“ im Besonderen zu
überdenken (S. 184,
187). Im Laufe des Schreibens entwickelt Olga ein komplexes
Weltbild und
entdeckt die vielschichtigen Loyalitäten ihrer Loyalität
gegenüber der
Sowjetunion, der Ukraine, ihrer Familie und ihren Freunden,
ihren Lieben und
wie sich ihre Loyalität verändert. In ihren Schlussnotizen
äußert Olga eine äußerst
kritische Meinung sowohl zum Sowjet- als auch zum Nazi-Regime,
kritisiert
ausdrücklich die sowjetischen Behörden und weigert sich, sich
mit ihnen zu
identifizieren (S. 415, 419, 422).
Diese Veröffentlichung ist nicht nur das Ergebnis umfangreicher
Recherchen,
sondern auch eine großartige Übersetzungsarbeit. Der Band bringt
dem Leser die
Erfahrung eines jungen Mädchens in der von den Nazis besetzten
Ukraine näher
und zeigt ihre Emotionalität, tiefe Selbstreflexion und ihre
Wandlungen im
Laufe der Zeit. Dank der brillanten Einführung von Penter wird
deutschen Lesern
eine tiefgreifende Analyse des Tagebuchkontexts geboten, und
dank Schneiders
raffinierter Arbeit werden diese Tagebücher nun auch für
Deutschsprachige mit
allen Nuancen des Originals zugänglich sein und dem Ukrainischen
eine Stimme
geben den Zweiten Weltkrieg mitzuerleben und dadurch ihre
Präsenz in deutschen
Wissenschaftsdebatten zu verstärken. Aber auch für ein breiteres
deutsches
Publikum ist dieses Buch von großem Interesse, da es als Impuls
dienen kann,
die Ostfront und die Besatzungspolitik in der Ukraine aus der
inneren
Perspektive einer jungen Frau neu zu betrachten und einzigartige
Einblicke in
das Leben lokaler Ukrainer zu geben wahrgenommene Nazi-Besatzung
während des
deutschen Vernichtungskrieges. Heute, im Jahr 2022, wo aufgrund
der russischen
Aggression ein neuer grausamer Krieg in der Ukraine tobt und
ukrainische Kinder
und Jugendliche wieder Kriegstagebücher schreiben, ist die
Präsenz ukrainischer
Perspektiven auf die Geschichte des Zweiten Weltkriegs von
äußerster Bedeutung
und verdient es, gelesen und studiert zu werden.
Anmerkungen:
[1] Zum Beispiel Jochen Hellbeck, Revolution on My Mind.
Schreiben eines
Tagebuchs unter Stalin, Cambridge 2006.
[2] Die Tagebücher von Nina Herasymova sind Teil der Sammlung
des
Nationalmuseums für ukrainische Geschichte. Digitalisierte
Auszüge sind hier
verfügbar (auf Ukrainisch):
https://www.radiosvoboda.org/a/ninas-war-diary/29510966.html
(26.09.2022).
[3] Verfügbar auf der Website des Digital Archive of Ukrainian
Liberation
Movement: https://avr.org.ua/?idUpCat=907 (26.09.2022).
[4] Krawtschenko Victor. Ich habe mich für die Freiheit
entschieden. Das
persönliche und politische Leben eines sowjetischen Beamten. New
York 1946.
Zitation
Maria Kovalchuk: Rezension zu: Penter, Tanja; Schneider,
Stefan (Hrsg.): Olgas
Tagebuch (1941–1944). Unerwartete Zeugnisse einer jungen
Ukrainerin inmitten
des Vernichtungskriegs. Köln 2022: ISBN 978-3-412-52182-0, , In: H-Soz-Kult,
05.10.2022, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-128327>.
Date: 2022/10/07 16:38:54
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Displaced
Persons-Forschung
in Deutschland und Österreich. Eine Bestandsaufnahme zu Beginn
des 21.
Jahrhunderts
Herausgeber Hagen, Nikolaus; Nesselrodt, Markus; Strobl,
Philipp;
Velke-Schmidt, Marcus
Reihe DigiOst (14)
Erschienen Berlin 2022: Frank
& Timme
Anzahl Seiten 366 S.
Preis € 59,80
ISBN 978-3-7329-0667-3
URL https://doi.org/10.23665/DigiOst/HI-14
Inhalt => meinclio.clio-online.de/uploads/media/book/toc_book-76290.pdf
Rezensiert für H-Soz-Kult von Anna Holian, School of Historical,
Philosophical
& Religious Studies, Arizona State University
[Die
ursprüngliche Rezension
war in Englisch, Übersetzung von Dr. Google]
Der Begriff „Displaced Person“ (DP) wurde von den Alliierten
während des
Zweiten Weltkriegs geprägt, um Menschen zu beschreiben, die
„durch den Krieg
aus ihren Heimatländern vertrieben“ wurden.[1] Theoretisch
umfasste der Begriff
alle Gruppen vertriebener Europäer, darunter auch Deutsche, die
nach Kriegsende
aus ihrer Heimat in Ostmitteleuropa geflohen oder vertrieben
wurden. In der
Praxis galt es jedoch nur für die vertriebenen
Bevölkerungsgruppen, die sich
für die Hilfe der Alliierten und der Vereinten Nationen
qualifizierten, die
Angehörigen „feindlicher“ Länder (z. B. Deutschland, Österreich)
und
„ex-feindlicher“ Länder (z. B. Rumänien, Bulgarien) größtenteils
ausgeschlossen
(eine Ausnahme wurde für Juden und andere ehemalige Verfolgte
gemacht). Insbesondere
wurde der Begriff zum Synonym für jene vertriebenen
Ostmitteleuropäer, die aus
irgendwelchen Gründen nicht wie von den Alliierten erwartet in
ihre Heimat
zurückkehrten und so zu einer vor allem im Westen konzentrierten
längerfristigen Flüchtlingsbevölkerung wurden Besatzungszonen
Deutschlands.
Obwohl es in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein reges
wissenschaftliches
Interesse an Vertriebenen gab, wurden DPs erst in den 1980er und
90er Jahren zu
einem kritischen Thema der historischen Forschung, wobei
Wolfgang Jacobmeyers
Buch über die DP-Politik der Alliierten von 1985 die erste große
Studie war.
[2] Seitdem ist das Interesse an dem Thema stark gewachsen,
wobei die Forschung
zu jüdischen DPs besonders stark ist.[3] Dennoch wird das Thema
oft weiterhin
als Randerscheinung gesehen, insbesondere zur Nationalgeschichte
der
Nachkriegszeit. Im deutschen Kontext werden die ausländischen
Flüchtlinge, die
die DP-Bevölkerung ausmachten und Anfang der 1950er-Jahre
größtenteils
abwanderten, weitgehend überschattet von den zeitgleich
ankommenden und
größtenteils zurückgebliebenen ethnischen deutschen Flüchtlingen
und
Vertriebenen.
Die Autoren des aktuellen Bandes haben sich ein ehrgeiziges Ziel
gesetzt, um
die Forschung zu Vertriebenen voranzubringen. Die meisten sind
Mitglieder eines
losen Netzwerks von DP-Wissenschaftlern, das virtuell vom
Institut für
Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn beherbergt
wird.[4] Eines ihrer
vorrangigen Ziele ist es, die Arbeit an DPs in den Mainstream
der historischen
Forschung zu Deutschland und Österreich der Nachkriegszeit zu
integrieren.
Dabei beabsichtigen sie auch, dass Historiker über den Rahmen
des „DP-Problems“
hinausgehen, der die Diskussion über DPs in diesem größeren
Kontext weitgehend
dominiert. Stattdessen streben sie einen Rahmen an, der
Vertriebene vollständig
in die nationalen Narrative der Nachkriegszeit integriert und
gleichzeitig den
transnationalen Charakter der DP-Geschichte und ihre Beziehung
zu globalen
Migrationsprozessen und der Bildung eines internationalen
Flüchtlingsregimes
anerkennt.
Zwei der zentralen Themen des Bandes sind, dieser Agenda
folgend,
Transnationalismus und internationale Flüchtlingshilfe. Weniger
offensichtlich
mit dieser Agenda verbunden und eher im Einklang mit früherer
Forschung stehen
die beiden anderen Hauptthemen des Bandes, das Lagerleben und
die frühen
Bemühungen, sich mit der Kriegsvergangenheit
auseinanderzusetzen. Tatsächlich
gibt es manchmal eine Diskrepanz zwischen den programmatischen
Aspekten des
Bandes und den einzelnen Fallstudien. Folglich unterscheiden
sich die
wichtigsten Beiträge des Bandes zur Literatur, und davon gibt es
mehrere, etwas
von dem, was ausdrücklich beabsichtigt war.
Der erste Beitrag des Bandes besteht darin, dass er Vertriebene
in einen
deutlich erweiterten geografischen Kontext stellt. Während sich
bisher die
meisten Forschungen auf Deutschland konzentrierten, befassen
sich die Autoren
nicht nur mit dem österreichischen und italienischen Kontext,
sondern auch mit
zahlreichen außereuropäischen Orten, an denen sich DPs
vorübergehend aufgehalten
oder dauerhaft niedergelassen haben. Besonders interessant sind
Jochen
Lingelbachs Essay über polnische Vertriebene im britischen
Kolonialafrika
(1942–1950) und Aivar Jürgensons Untersuchung der
aufeinanderfolgenden Wellen
estnischer Migration nach Argentinien. Das Bekenntnis des Bandes
zu einer
transnationalen Perspektive kommt hier am deutlichsten zum
Ausdruck,
insbesondere in Jürgensons Erörterung der unterschiedlichen
Beziehungen
estnischer Migranten der Vor- und Nachkriegszeit zu ihren
Heimat- und
Aufnahmegesellschaften.
Zweitens befassen sich zahlreiche Autoren eingehender mit den
Prozessen, durch
die Vertriebene ein Gefühl für gemeinschaftliche Identität und
Zweck
organisierten und entwickelten. Während ein Fokus auf interne
Gruppendynamiken
in der Erforschung von DPs bereits gut etabliert ist, bieten
diese Essays neue
Einblicke in die Kontexte und Schauplätze, in denen
selbstbewusste
DP-Gemeinschaften entstanden. Dieses Thema kommt am stärksten in
den Kapiteln
von Stephanie Ligan und Evita Wiecki über jüdische DPs zum
Ausdruck, vielleicht
weil die bereits umfangreiche Literatur zu dieser Gruppe eine
starke Grundlage
für mikrohistorische Analysen bietet. Interne Gruppendynamiken
stehen auch im
Mittelpunkt von Kateryna Kobchenkos Essay über die Entwicklung
einer
transnationalen ukrainischen DP-Community.
Drittens bereichert der Band unser Wissen über die
institutionelle Matrix, in
der DPs lebten. Obwohl die Autoren Wolfgang Jacobmeyers
Prämisse, Vertriebene
seien „verwaltete Menschen“, zurückweisen, führt kein Weg daran
vorbei, dass
der Alltag der Vertriebenen – und mögliche Zukünfte – zutiefst
von
Institutionen, allen voran den alliierten Besatzungsbehörden,
geprägt war und
den Flüchtlingshilfswerken der Vereinten Nationen.[5]
Einige Autoren behandeln dieses Thema, indem sie wenig bekannte
Facetten
bekannter Organisationen untersuchen. Dies ist der Fall bei
Stella Maria Frei
und Wolfgang Piereth, die sich beide mit Projekten der United
Nations Relief
and Rehabilitation Administration (UNRRA), dem ersten
UN-Flüchtlingshilfswerk
im Europa der Nachkriegszeit, befassen. Andere Autoren setzen
sich mit der
Arbeit weniger bekannter Institutionen auseinander. Jim G.
Tobias konzentriert
sich auf den Canadian Jewish Congress und sein War Orphans
Project, während
Philipp Lehar sich mit den britischen Quäkern befasst. Diese
spezifischen
Essays passen gut zu anderen neueren Arbeiten über die Rolle von
Nichtregierungsorganisationen im Flüchtlingsregime der
Nachkriegszeit, obwohl
eine explizitere Beachtung dieser Verbindung hilfreich gewesen
wäre.[6]
Schließlich erweitert der Band unsere Vorstellung von der
Kategorie der
Vertriebenen. Obwohl die Herausgeber dies nicht explizit
artikulieren, ist ihr
Analysegegenstand wesentlich breiter als die
Anti-Rückführungs-Ostmitteleuropäer,
die im Mittelpunkt der meisten Arbeiten zu DPs stehen. Der Band
enthält
Aufsätze über tschechische Vertriebene, die nach dem Krieg in
ihre Heimat
zurückkehrten (Jana Kasíková) und über die Bildung neuer Gruppen
tschechischer
Flüchtlinge in Österreich nach der Errichtung der
kommunistischen Herrschaft in
der Tschechoslowakei 1948 (Martin Nekola). Es wird auch kurz auf
Südtiroler
eingegangen, die nach 1939 nach Österreich (genauer: ins
Großdeutsche Reich)
ausgewandert sind und dort nach dem Krieg geblieben sind
(Philipp Strobl und
Nikolaus Hagen). Diese erweiterte Konzeption von DPs – die im
Wesentlichen eine
Rückkehr zu den Ursprüngen des Begriffs darstellt – ist sehr zu
begrüßen und
unterstützt das Interesse der Herausgeber, Vertriebene in der
globalen
Migrationsgeschichte des 20. Jahrhunderts zu verorten.
Einige der Ziele dieser ehrgeizigen Sammlung bleiben jedoch nur
teilweise
verwirklicht. Insbesondere wenige der Aufsätze setzen sich
sinnvoll mit der
Wissenschaft zum Transnationalismus und seiner Betonung der
Zwischenstellung
von Migranten zwischen Heimat- und Aufnahmegesellschaften
auseinander.
Stattdessen fungiert Transnationalismus vor allem als Synonym
für die
multinationale Herkunft bestimmter ethnonationaler DP-Gruppen
oder für
internationale Migration tout court. Ebenso befassen sich nur
wenige der Essays
mit der Integration von Vertriebenen in ihre
Aufnahmegesellschaften. Die
meisten konzentrieren sich auf die Zeit, in der DPs als
alliierte Verantwortung
angesehen wurden und nur begrenzte Interaktionen mit der
Mehrheitsgesellschaft
hatten. Während temporäre Bevölkerungen an den Orten, die sie
durchqueren,
deutliche Spuren hinterlassen können, erfordert ein
umfassenderes Verständnis
davon, wie Vertriebene die deutsche und österreichische
Gesellschaft geprägt
haben – und wie die deutsche und österreichische Gesellschaft
sie geprägt hat –
einen breiteren zeitlichen Rahmen.[7]
Es bleibt also noch viel zu tun. Auch wenn der aktuelle Band
nicht alles hält,
was er verspricht, setzt er dennoch eine hervorragende Agenda
und bietet
verlockende Einblicke in die Zukunft der Forschung zu
Vertriebenen.
Anmerkungen:
[1] „Rahmenplan für Flüchtlinge und Vertriebene“, 3. Juni 1944,
Archiv des
Leibniz-Instituts für Zeitgeschichte, München, Fi 01.84.
[2] Wolfgang Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter zum heimatlosen
Ausländer. Die
Displaced Persons in Westdeutschland 1945–1951, Göttingen 1985.
Weitere
wichtige Arbeiten aus dieser Zeit sind Mark Wyman, DPs. Europe’s
Displaced
Persons, 1945–1951, Philadelphia 1989, Taschenbuch Ithaca 1998,
und Michael
Brenner, Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945–1950,
München 1995, Nach
dem Holocaust. Wiederaufbau jüdischen Lebens im
Nachkriegsdeutschland.
Princeton 1997.
[3] Die Literatur ist mittlerweile recht umfangreich. Zu den
bemerkenswerten
Werken, die seit dem Jahr 2000 veröffentlicht wurden, gehören
Atina Grossmann,
Juden, Deutsche und Verbündete. Close Encounters in Occupied
Germany, Princeton
2007, Deutsche Übersetzung: Juden, Deutsche, Alliierte.
Begegnungen im
besetzten Deutschland. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff,
Göttingen 2012;
Tamar Lewinsky, Displaced Poets. Jiddische Schriftsteller im
Nachkriegsdeutschland 1945–1951, Göttingen 2008; Gerard Daniel
Cohen, Im
Gefolge des Krieges. Europe’s Displaced Persons in the Postwar
Order, Oxford
2011; Ruth Balint, Ziel woanders. Displaced Persons and Their
Quest to Leave
Postwar Europe, Ithaca 2021. Es gab auch einige Titel, die sich
an ein
breiteres Publikum richten: Ben Shephard, The Long Road Home.
The Aftermath of
the Second World War, London 2010, und David Nasaw, The Last
Million. Europe’s
Displaced Persons from World War to Cold War, New York 2020.
[4] Siehe https://www.netzwerkdpforschung.uni-bonn.de
(02.10.2022).
[5] Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter, S. 18.
[6] Für Beispiele neuerer Arbeiten zur Arbeit der Mennoniten mit
Vertriebenen
siehe die Essays von John Thiesen, Erika Weidemann, Aileen
Friesen und Steven
Schroeder in: Intersections. MCC Theory and Practice Quarterly
9:4 (Herbst
2021),
https://mcc.org/sites/mcc.org/files/media/common/documents/intersectionsfall2021.pdf(02.10.2022).
[7] Ein wichtiges aktuelles Buch, das dies im italienischen
Kontext tut und
Vertriebene als Teil der breiteren Flüchtlingsbevölkerung
betrachtet, ist
Pamela Ballinger, The World Refugees Made. Entkolonialisierung
und die Gründung
des Nachkriegsitaliens, Ithaka 2020.
Zitation
Anna Holian: Rezension zu: Hagen, Nikolaus; Nesselrodt,
Markus; Strobl,
Philipp; Velke-Schmidt, Marcus (Hrsg.): Displaced
Persons-Forschung in
Deutschland und Österreich. Eine Bestandsaufnahme zu Beginn
des 21.
Jahrhunderts. Berlin 2022: ISBN 978-3-7329-0667-3, , In: H-Soz-Kult,
07.10.2022, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-118132>.
Date: 2022/10/10 09:17:41
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Guten Morgen,
ich hätte fast geschrieben, man könnte es an die Nerven kriegen, wenn man montagsmorgens in die Zeitung schaut, aber mir scheint es, daß ist in letzter Zeit laufend der Fall - natürlich "in letzter Zeit", früher war das nie so, neeeeiiiiinnn, nicht doch 😎.
Deshalb war's ganz interessant, was ich las, als ich gestern mittag beim Stöbern auf eine Seite der Nahe-Blies-Zeitung vom September 1885 gestoßen bin. Damals war wohl die Welt noch in Ordnung (tschuldigung, aber heute morgen ist mir's nach Klischees).
FS
Roland Geiger
------------------------------
Nahe Blies Nr. 108 vom 10.09.1885
Lokales und Provinzielles.
St. Wendel, 8. September.
Die im Verlage von Ernst Heitmann in Leipzig unter Redaktion von
Fr. Woas in
Saarbrücken seit dem 1. Januar c. erscheinende Wochenzeitung
„Die Werkstatt“
(Preis vierteljährlich 60 Pfennig, durch die Post bezogen 75
Pfennig) tritt in
ihrer Nummer 35 der Frage der Sonntagsruhe in der Weise direkt
und
selbstständig nahe, daß sie einen Fragebogen mit der Überschrift
„Sonntagsruhe
oder nicht?“ Beilegt und alle Leser aufgefordert, über den zur
Zeit im
Deutschen Reiche auf der Tagesordnung stehenden Gegenstand dem
Herausgeber zu
berichten. Die zum Abdruck in der „Werkstatt“ gelangenden
Artikel werden mit 5
Pfennig pro Zeile bezahlt; Name und Stand des Schreibers ist
deutlich anzugeben,
ersterer wird auf Wunsch verschwiegen. Besonderes Gewicht wird
auf die
Beantwortung folgender Fragen gelegt:
1) Wird bei Euch auch Sonntags gearbeitet, eventuell wie,
arbeiten Alle oder
nur Einzelne und in welcher Zeit?
2) Warum wird bei Euch auch Sonntags gearbeitet? Es geht wohl
nicht anders?
Will ist der Arbeitgeber oder der Arbeiter selbst?
3) Was ist die Folge des Verbots der Sonntagsarbeit? Würde der
Betrieb darunter
leiden? Würden die Arbeiter weniger verdienen als jetzt, oder
würde sich das
ausgleichen?
4) Wollt Ihr Sonntagsruhe haben, um in die Kirche zu gehen, oder
was wollt Ihr
sonst mit dem Sonntag anfangen?
Briefe sind an die Redaktion der „Werkstatt“ in Saarbrücken zu
richten.
Durch dieses Vorgehen ist Jedem aus dem Volke Gelegenheit zur
Äußerung über die
wichtige Frage geboten, die ja auch Fürst Bismarck von möglichst
weiten
Schichten der Bevölkerung beantwortet wissen will.
------------------
St. Johann, 7. September. Nach der St. JohannerZeitung erregten
heute Vormittag
2 fremdländischen Gestalten mit langen gekräuselten schwarzen
Haaren und gelben
Gesichtern Aufsehen auf dem hiesigen Bahnhof. Es waren zwei
Inder, die in
Begleitung einer englischen Dame nach Paris reisen. Die Beiden
Sprachen
Englisch und Französisch unterhalten sich studienhalber in
Europa auf. Beide
sind feine und intelligente Leute.
------------------
Trier, 7. September. Am Samstag Nachmittag fand man, so meldet
die Trierer
Zeitung, auf dem Banne Euren auf einem der Wittwe Schmalz
gehörenden Baum einen
Erhängten. Nach einem bei ihm vorgefundenen Arbeitsbuche ist es
ein 26 Jahre
alter Tagelöhner, Namens Jakob Keller aus Freisen, im Kreis St.
Wendel. Was den
Lebensmüden zum Selbstmord trieb, ist bis jetzt noch unbekannt.
------------------
Steinberg bei Birkenfeld, 7. September. Ein hiesiger Bauer
erhielt vor einigen
Tagen aus der Mühle einige Säcke Mehl, das aus seinem Korn
gemahlen und
gleichzeitig mit einer Kiste voll Streichholz hierher gefahren
worden war. Nach
dem ersten Genuß des hiervon gebackenen Brodes stellte sich bei
der ganzen
Familie Übelkeit, Schwindel und Erbrechen ein, desgleichen bei
einer armen
Frau, die ein Almosen davon bekommen und dieses genossen. Sogar
seine Schweine,
die absichtlich mit diesem Brode gefüttert worden, erkrankten.
Somit stand
fest, daß das Brod gesundheitsgefährliche Stoffe, ob Mehl von
Tollkorn oder
Staub von den Streichhölzern enthält. Er schickte eine kleine
Quantität von dem
verdächtigen Brode und auch von dem gelblich erscheinenden Mehle
einem Chemiker
nach Birkenfeld zur Analyse, deren Resuitat noch abzuwarten ist.
Schon im
Voraus sei erwähnt, daß der diesjährige trockene Sommer äußerst
wenig Tollkorn
gezeitigt hat.
[Tollkorn => https://de.wikipedia.org/wiki/Mutterkorn]
Date: 2022/10/11 19:09:48
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Wartburg-Gesellschaft zur Erforschung von
Burgen und Schlössern e. V. und
Deutsches Burgenmuseum Veste Heldburg
52428 Jülich
Vom - Bis 28.10.2022 - 17.11.2022
Von Guido v. Büren, Bibliothek, Museum Zitadelle Jülich
Das Deutsche Burgenmuseum und die Wartburg-Gesellschaft zur
Erforschung von
Burgen und Schlössern werden am 28. Oktober (Freitag) und am 17.
November
(Donnerstag) 2022 jeweils von 15.00 bis 19.00 Uhr ein zweiteiliges
Symposion im
Zoom-Format zum Thema Burgeninventare, Datenbanken und
Burgenkarten
durchführen.
Ziel der Tagung ist es, einen Überblick über den
Stand der
Burgeninventarisationen und die verschiedenen Ansätze zu solchen
Projekten zu
erhalten, mehr über die Nutzbarkeit der Projekte zu erfahren und
Anregungen für
Mitarbeit zu erhalten. Dabei geht es nicht nur um aktuelle
digitale Projekte,
sondern auch um ältere Bestandsaufnahmen seit dem späten 19.
Jahrhundert,
angefangen mit Otto Pipers Burgeninventare (2. Teile der
Burgenkunde, fehlt in
allen Nachdrucken; Österreichische Burgen) über Tillmann (mit rund
23.500
Burgen) bis zum Tiroler Burgenbuch.
Programm
Freitag, 28.10.2022, ab 15.00 Uhr
15.00 Uhr Guido von Büren (Jülich) und Adina Rösch (Heldburg):
Begrüßung
15.15 Uhr G. Ulrich Großmann (Fürth): Burgeninventare von Otto
Piper bis Gerda
Wangerin
15.45 Uhr Guido von Büren (Jülich): Der Codex Welser – ein
rheinisches
Burgeninventar des 18. Jahrhunderts
(16.15 Uhr kurze Pause)
16.30 Uhr Rainer Atzbach (Arhus): Burgeninventare in Dänemark
17.00 Uhr Thomas Kühtreiber (Wien): Burgeninventare in
Niederösterreich – die
Niederösterreichische Burgendatenbank
17.30 Uhr Diskussion zum Zwischenstand
Donnerstag, 17.11.2022, ab 15.00 Uhr
15.00 Uhr Guido von Büren (Jülich) und Adina Rösch (Heldburg):
Begrüßung
15.15. Uhr Thomas Biller (Freiburg): Die fünf Burgenlexika des
Elsass und das
„Pfälzische Burgenlexikon“ – Ziel und Methode der lexikalischen
Erfassung von
Burgen
15.45 Uhr Anja Grebe (Wien): Der Codex Brandis
(16.15 Uhr kurze Pause)
16.30 Uhr Reinhard Friedrich (Braubach): Ebidat – Zum Stand des
Projektes des
Europäischen Burgeninstituts
17.00 Uhr Thomas Bienert (Erfurt): Datenbank Thüringischer Burgen
(Arbeitstitel)
17.30 Uhr Michael Bischoff und Alina Menkhoff (Lemgo): Zum Aufbau
der
Weserrenaissance-Bauwerkedatenbank
18.00 Uhr Walter Landi (Bozen): Burgeninventarisation in Südtirol
18.30 Uhr Schlussdiskussion
Nach den Referaten können Fragen beantwortet werden, die die
Teilnehmer während
der Vorträge im Chat stellen.
Kontakt
Guido von Büren
1. Vorsitzender der Wartburg-Gesellschaft zur Erforschung von
Burgen und
Schlössern e. V.
c/o Museum Zitadelle Jülich
Am Aachener Tor 16
52428 Jülich
Tel.: 0049-(0)2461-63514
E-Mail: gvbueren(a)juelich.de
Zitation
Burgeninventare, Burgenverzeichnisse, Burgenkarten. In:
H-Soz-Kult, 11.10.2022,
<www.hsozkult.de/event/id/event-130252>.
Date: 2022/10/13 20:36:23
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
[Es würde mich
interessieren, bei wievielen Lesern diese Buchbesprechung im
Spam-Ordner landet]
Autor Anja Laukötter,
Erschienen Göttingen 2021: Wallstein
Verlag
Anzahl Seiten 543 S., 129 Abb.
Preis € 46,00
ISBN 978-3-8353-3898-2
Rezensiert für H-Soz-Kult von Olaf Stieglitz, American Studies,
Universität
Leipzig
In der Kölner Innenstadt gibt es einen Buchladen, zu dessen
Alleinstellungsmerkmalen es gehört, eines seiner Schaufenster
für „Filmbücher“
zu reservieren. Darin können sich Interessierte stets über
ausgewählte
Neuerscheinungen in dieser Nische des Buchmarkts informieren,
über aufwendig
gestaltete Bildbände zu Hollywood Blockbustern ebenso wie über
Biografien zu
bundesdeutschen Nachkriegsregisseur:innen. In diesem Frühjahr
konnte man darin
auch ein Exemplar von Anja Laukötters neuem Buch finden. Daran,
das ist leider
zu vermuten, war der Schutzumschlag nicht ganz unschuldig: Der
Titel Sex –
richtig! findet sich darauf in riesigen Buchstaben am
oberen Rand, und zur
Untermauerung seiner verheißungsvollen Ankündigung ist in der
unteren Hälfte
ein kreisrundes Foto platziert, auf dem Jugendliche zu sehen
sind, die gebannt
einem Film folgen, den ihnen ein zugeknöpfter Lehrer vorführt.
Dem Wallstein
Verlag ist zu gratulieren; sein Anliegen, eine über 500 Seiten
lange
geschichtswissenschaftliche Habilitationsschrift
publikumswirksam zu
vermarkten, ist beinahe vorbildlich aufgegangen.
Doch auch die Inhalte des Buchs und seine Argumentation
rechtfertigen den exponierten
Platz im Schaufenster. Der Untertitel – Körperpolitik und
Gefühlserziehung
im Kino des 20. Jahrhunderts – verspricht womöglich immer
noch mehr, als
die Autorin tatsächlich anzubieten hat, doch zeigt er Pfade in
eine Studie auf,
die erhebliche Desiderate in der deutschsprachigen
Geschichtsschreibung zur
Sexualaufklärung sowie zum Film als Medium der
Wissensvermittlung zu beseitigen
hilft. Welche Rolle spielten Filme in der Sexualaufklärung im
Verlauf des 20.
Jahrhunderts? Wie wurden Filme über Reproduktion, Verhütung und
vor allem
Geschlechtskrankheiten in medizinischen, pädagogischen,
moralischen,
medientheoretischen oder politischen Debatten wahrgenommen und
diskutiert, wie
wurden sie in sich wandelnde Kino- und andere
Vorführinfrastrukturen platziert,
wie wurde die Rezeption durch verschiedene Publika erforscht und
zu steuern
versucht? Wie waren die Versuche, mit Filmen vermeintlich
wissenschaftlich
abgesichertes Wissen vermitteln zu wollen, an Emotionen
gekoppelt, oft an
Vorstellungen von Angst und Scham, bisweilen aber auch an Lust
und Freude? In
welchem Verhältnis konstruierten diese Filme das Verhältnis von
Bevölkerung
einerseits und Individuum andererseits; welche Politiken der
Subjektivierung
lassen sich aufzeigen? Welche privaten, öffentlichen sowie
staatlichen
Organisationen bemühten sich um filmische Sexualaufklärung, und
inwieweit war
der Wunsch nach wirkmächtigen Filmen transnational verflochten?
Diesen und
anderen Fragen geht die Autorin in ihrer quellengesättigten
Untersuchung auf
mehreren, ineinander verwobenen Ebenen nach, in die sie in ihrer
Einleitung
umfassend einführt.
Laukötter verortet ihre Arbeit zur Geschichte des
Sexualaufklärungsfilms in
vier historiografische Forschungsperspektiven. Erstens nimmt sie
die These vom
20. Jahrhundert als „Jahrhundert der Bilder“ auf, kennzeichnet
ihre Forschung
als Teil einer Visual History und fragt danach, wie die
Bilder der
Aufklärungsfilme „nicht nur Sehpraktiken, sondern auch
Einstellungen, Verhalten
und Handeln der Menschen“ veränderten (S. 23). Das ist
einerseits
bemerkenswert, denn bislang finden Filme im Feld der
(deutschsprachigen)
Forschung zur visuellen Kultur der Dekaden nach 1900 noch immer
viel zu wenig
Beachtung, auch wenn sich dies in den vergangenen Jahren langsam
zu ändern beginnt.
Andererseits konzentriert sich die Autorin auf nicht-fiktionale,
wissenschaftlich-pädagogische Produktionen – dem Spielfilm und
seiner Rolle im
Aushandlungsprozess von „richtigem“ oder „falschem“ Sex, der
größeren Dimension
von Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino des 20.
Jahrhunderts,
kann und will die Studie nicht nachgehen und verweist so auf die
umfangreiche
Forschung, die hier in Zukunft noch zu leisten wäre.
Eine besondere Bedeutung kommt der zweiten Perspektive der
Studie zu. Die Geschichte
der Emotionen gehört gegenwärtig zu den besonders dynamischen
Forschungsfeldern, und es ist anregend, die dort diskutierten
Zusammenhänge
aktiv mit Filmen und Filmrezeptionen in Zusammenhang zu bringen.
Eine solche
Analyse vermag nicht nur Geschichts- und Filmwissenschaft in
einem
theoriegeleiteten Rahmen miteinander zu verbinden, sie
ermöglicht auch eine
dezidiert historische, quellennahe Betrachtung, schließlich
haben zahlreiche
Autor:innen aus Wissenschaft, Pädagogik und Medienpraxis im
Verlauf des
Untersuchungszeitraums die Interaktion von Wissensvermittlung
und emotionaler
Publikumssteuerung zu beleuchten versucht.
Dies steht bereits in engem Verhältnis zur dritten zentralen
Forschungsperspektive: Der Wissenschaftshistorikerin ist es ein
besonderes
Anliegen, „die Entstehung, Produktion und Vermittlung
wissenschaftlichen
Wissens auch außerhalb des universitären und wissenschaftlichen
Rahmens
deutlicher in den Blick zu nehmen“ (S. 30). Emotionen, so Anja
Laukötter, seien
von diesen Praktiken der medial-populären Wissensvermittlung
nicht zu trennen,
und dem geht sie in den sehr öffentlichen Räumen und Praktiken
des Kinos nach.
Viertens schließlich begreift sich die vorliegende Arbeit als
eine Geschichte
des Körpers und der Sexualität. Auch in diesem Feld soll sich
die Analyse
filmischer Quellen als besonders ertragreich erweisen, denn in
Sexualaufklärungsfilmen „werden Körper visuell umfassend
präsentiert, zugleich
sind sie Gegenstand von politischen Debatten und
Zuschauerforschung […]“ (S.
33). Die Studie ist mithin ein Versuch, Diskurse und Praktiken
der
Sexualaufklärung über das Medium Film gemeinsam und aufeinander
bezogen zu
verhandeln.
Dieses Programm setzt die Autorin in einer Langzeitstudie über
das ganze 20.
Jahrhundert hinweg um, die zwar einen klaren Schwerpunkt auf
Entwicklungen in
Deutschland legt, diesen aber ausdrücklich transnational unter
Berücksichtigung
französischer und US-amerikanischer Filme und Debatten
erweitert. Insgesamt
räumt Anja Laukötter der Verflechtungsgeschichte einen
beträchtlichen
Stellenwert ein, und auch dem historischen Vergleich zwischen
der
Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR)
erwächst für die
zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eine tragende Rolle. Auf der
Basis von
zahlreichen ausführlich vorgestellten und diskutierten Filmen[1], unter Rückgriff auf
umfangreiche
schriftliche Dokumente aus staatlichen, wissenschaftlichen und
filmwirtschaftlichen Archiven sowie nicht zuletzt unter
Berücksichtigung der
breiten öffentlichen Diskussion von Filmen zur Sexualaufklärung,
führt die
Autorin ihre Leser:innen auf eine dichte und detailreiche Reise
in Kinosäle,
Kasernen, Schulen und andere Orten, in denen ein oft junges
Publikum über
vermeintlich richtigen Sex, über Empfängnisverhütung und die
Gefahren sexuell
übertragbarer Krankheiten unterrichtet werden sollte.
Der Aufbau des Buchs ist chronologisch und orientiert sich an
den Zäsuren der
deutschen Geschichte; dass das in einer transnationalen Studie
zu einer meist
auf internationale Kooperation ausgerichteten Filmwirtschaft
nicht immer ganz
passgenau ist, kalkuliert die Autorin ein. Kapitel eins
thematisiert die
Anfänge des Sexualaufklärungsfilms und diskutiert dann
ausführlich dessen Rolle
im Ersten Weltkrieg, als die Sexualität der Frontsoldaten als
Gefährdung in den
Blick geriet. Zugleich unterstreicht das Kapitel, dass die
Entwicklung dieser
Aufklärungsfilme von Beginn an in einer engen Beziehung zur
Erforschung der
Emotionen im Publikum stand.
Das zweite Kapitel über die 1920er-Jahre kreist um Versuche, ein
erkennbares
Genre-Format für Aufklärungsfilme und deren Konzepte zur
Visualisierung von
Wissen zu stabilisieren. Diese Bemühungen wurden nicht zuletzt
durch
internationale Zusammenarbeit vorangetrieben, die allerdings
immer auch von
nationalen Debatten um Zensur oder politische Vereinnahmung
flankiert waren.
Im dritten Kapitel und mit den Filmen des Nationalsozialismus
diskutiert
Laukötter eine filmische Strategieverschiebung, die sie als
„Medialisierung des
positiv Emotionalen“ charakterisiert: „Dabei wird deutlich, dass
von einer
Weimarer Didaktik, die mit Gefühlen wie Angst oder Scham
arbeitete, Abstand
genommen wurde. […] in dem Soldaten-Film über
Geschlechtskrankheiten sollten
sie mit dem Angebot eines positiv konnotierten Gefühls
überwunden werden“ (S.
197). Das vierte Kapitel zur Besatzungszeit stellt die so
genannten atrocity-Filme
dieser Jahre, in denen die deutsche Bevölkerung über Scham und
Schuld
adressiert wurde, in eine produktive Beziehung zum
Aufklärungsfilm und fragt so
nach einer „Reeducation der Emotionen“ (S. 255ff.) als
filmpolitische Strategie
der Besatzungsmächte.
Kapitel fünf und sechs verhandeln jeweils ausführlich die
Entwicklungen in der
Bundesrepublik sowie in der DDR. In diesem Vergleich bis in die
1980er-Jahre
hinein betont die Autorin eher systembedingte Unterschiede denn
Gemeinsamkeiten, allerdings treten in beiden Staaten und ihren
Filmproduktionen
deutlich sichtbare Kontinuitätslinien hervor, sowohl bei der
wissensvermittelnden Gestalt der Aufklärungsfilme als auch im
Versuch der
emotionalen Publikumsadressierung.
Sex – richtig! ist eine sehr anregende, kenntnisreiche
und inspirierende
Studie, das Buch ist aber – das sei der Laufkundschaft vor dem
Kölner
Schaufenster gesagt – keine leichte Lektüre. Es ist sprachlich
sehr formal
verfasst und in seinem Bemühen, Kontinuitäten und Wandel über
ein ganzes
Jahrhundert ausweisen zu wollen, mitunter auch etwas redundant.
Die Diskussion
von organisationshistorischen Aspekten fällt an manchen Stellen
sehr lang aus
und verstellt so bisweilen die interessante Sicht auf die Filme,
das Publikum
und die Diskussion drumherum. Die transnationale Erweiterung ist
besonders in
den ersten Teilen der Untersuchung eine wichtige und gelungene
Horizonterweiterung, sie tritt dann aber in den letzten Kapiteln
zu sehr hinter
dem deutsch-deutschen Vergleich zurück. Das ändert indes nichts
daran, dass
Anja Laukötter eine wertvolle Untersuchung vorgelegt hat, die
den
Sexualaufklärungsfilm als historische Quelle ernst genommen und
ihn als
lohnendes Objekt einer Emotions- und Wissensgeschichte etabliert
hat.
Anmerkung:
[1] Einige für die Studie
wichtige Filme hat die
Autorin auf dieser Website dokumentiert: https://medfilm.unistra.fr/wiki/Sex_richtig
(30.09.2022). Darüber hinaus werden diese und andere Filme an
verschiedenen
Stellen des Buchs ausführlich eingeführt.
Zitation
Olaf Stieglitz: Rezension zu: Laukötter, Anja: Sex –
richtig!. Körperpolitik
und Gefühlserziehung im Kino des 20. Jahrhunderts. Göttingen
2021: ISBN 978-3-8353-3898-2, , In: H-Soz-Kult,
14.10.2022, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-97957>.
Date: 2022/10/13 20:39:00
From: Stefan Reuter via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
_______________________________________________[Es würde mich interessieren, bei wievielen Lesern diese Buchbesprechung im Spam-Ordner landet]
Bei mir jedenfalls nicht ;)
Regionalforum-Saar mailing list
Regionalforum-Saar(a)genealogy.net
https://list.genealogy.net/mm/listinfo/regionalforum-saar
Date: 2022/10/13 20:58:06
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
nee, bei mir auch nicht. Hat der Spam-Filter völlig fasagt. 😎
Roland
Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net> schrieb am Do., 13. Okt. 2022, 20:36:
_______________________________________________[Es würde mich interessieren, bei wievielen Lesern diese Buchbesprechung im Spam-Ordner landet]
Bei mir jedenfalls nicht ;)
Regionalforum-Saar mailing list
Regionalforum-Saar(a)genealogy.net
https://list.genealogy.net/mm/listinfo/regionalforum-saar
_______________________________________________ Regionalforum-Saar mailing list Regionalforum-Saar(a)genealogy.net https://list.genealogy.net/mm/listinfo/regionalforum-saar
Date: 2022/10/13 20:59:36
From: Stefan Reuter via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
_______________________________________________nee, bei mir auch nicht. Hat der Spam-Filter völlig fasagt. 😎
Roland
Am 13.10.2022 um 20:38 schrieb Stefan Reuter via Regionalforum-Saar:
Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net> schrieb am Do., 13. Okt. 2022, 20:36:
_______________________________________________[Es würde mich interessieren, bei wievielen Lesern diese Buchbesprechung im Spam-Ordner landet]
Bei mir jedenfalls nicht ;)
Regionalforum-Saar mailing list
Regionalforum-Saar(a)genealogy.net
https://list.genealogy.net/mm/listinfo/regionalforum-saar
_______________________________________________ Regionalforum-Saar mailing list Regionalforum-Saar(a)genealogy.net https://list.genealogy.net/mm/listinfo/regionalforum-saar
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https://list.genealogy.net/mm/listinfo/regionalforum-saar
Date: 2022/10/13 21:36:25
From: Werner Cappel <wecapp(a)t-online.de>
... bei mir nicht.
[Es würde mich interessieren, bei wievielen Lesern diese Buchbesprechung im Spam-Ordner landet]
Autor Anja Laukötter,
Erschienen Göttingen 2021: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten 543 S., 129 Abb.
Preis € 46,00
ISBN 978-3-8353-3898-2
Rezensiert für H-Soz-Kult von Olaf Stieglitz, American Studies, Universität Leipzig
In der Kölner Innenstadt gibt es einen Buchladen, zu dessen Alleinstellungsmerkmalen es gehört, eines seiner Schaufenster für „Filmbücher“ zu reservieren. Darin können sich Interessierte stets über ausgewählte Neuerscheinungen in dieser Nische des Buchmarkts informieren, über aufwendig gestaltete Bildbände zu Hollywood Blockbustern ebenso wie über Biografien zu bundesdeutschen Nachkriegsregisseur:innen. In diesem Frühjahr konnte man darin auch ein Exemplar von Anja Laukötters neuem Buch finden. Daran, das ist leider zu vermuten, war der Schutzumschlag nicht ganz unschuldig: Der Titel Sex – richtig! findet sich darauf in riesigen Buchstaben am oberen Rand, und zur Untermauerung seiner verheißungsvollen Ankündigung ist in der unteren Hälfte ein kreisrundes Foto platziert, auf dem Jugendliche zu sehen sind, die gebannt einem Film folgen, den ihnen ein zugeknöpfter Lehrer vorführt. Dem Wallstein Verlag ist zu gratulieren; sein Anliegen, eine über 500 Seiten lange geschichtswissenschaftliche Habilitationsschrift publikumswirksam zu vermarkten, ist beinahe vorbildlich aufgegangen.
Doch auch die Inhalte des Buchs und seine Argumentation rechtfertigen den exponierten Platz im Schaufenster. Der Untertitel – Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino des 20. Jahrhunderts – verspricht womöglich immer noch mehr, als die Autorin tatsächlich anzubieten hat, doch zeigt er Pfade in eine Studie auf, die erhebliche Desiderate in der deutschsprachigen Geschichtsschreibung zur Sexualaufklärung sowie zum Film als Medium der Wissensvermittlung zu beseitigen hilft. Welche Rolle spielten Filme in der Sexualaufklärung im Verlauf des 20. Jahrhunderts? Wie wurden Filme über Reproduktion, Verhütung und vor allem Geschlechtskrankheiten in medizinischen, pädagogischen, moralischen, medientheoretischen oder politischen Debatten wahrgenommen und diskutiert, wie wurden sie in sich wandelnde Kino- und andere Vorführinfrastrukturen platziert, wie wurde die Rezeption durch verschiedene Publika erforscht und zu steuern versucht? Wie waren die Versuche, mit Filmen vermeintlich wissenschaftlich abgesichertes Wissen vermitteln zu wollen, an Emotionen gekoppelt, oft an Vorstellungen von Angst und Scham, bisweilen aber auch an Lust und Freude? In welchem Verhältnis konstruierten diese Filme das Verhältnis von Bevölkerung einerseits und Individuum andererseits; welche Politiken der Subjektivierung lassen sich aufzeigen? Welche privaten, öffentlichen sowie staatlichen Organisationen bemühten sich um filmische Sexualaufklärung, und inwieweit war der Wunsch nach wirkmächtigen Filmen transnational verflochten? Diesen und anderen Fragen geht die Autorin in ihrer quellengesättigten Untersuchung auf mehreren, ineinander verwobenen Ebenen nach, in die sie in ihrer Einleitung umfassend einführt.
Laukötter verortet ihre Arbeit zur Geschichte des Sexualaufklärungsfilms in vier historiografische Forschungsperspektiven. Erstens nimmt sie die These vom 20. Jahrhundert als „Jahrhundert der Bilder“ auf, kennzeichnet ihre Forschung als Teil einer Visual History und fragt danach, wie die Bilder der Aufklärungsfilme „nicht nur Sehpraktiken, sondern auch Einstellungen, Verhalten und Handeln der Menschen“ veränderten (S. 23). Das ist einerseits bemerkenswert, denn bislang finden Filme im Feld der (deutschsprachigen) Forschung zur visuellen Kultur der Dekaden nach 1900 noch immer viel zu wenig Beachtung, auch wenn sich dies in den vergangenen Jahren langsam zu ändern beginnt. Andererseits konzentriert sich die Autorin auf nicht-fiktionale, wissenschaftlich-pädagogische Produktionen – dem Spielfilm und seiner Rolle im Aushandlungsprozess von „richtigem“ oder „falschem“ Sex, der größeren Dimension von Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino des 20. Jahrhunderts, kann und will die Studie nicht nachgehen und verweist so auf die umfangreiche Forschung, die hier in Zukunft noch zu leisten wäre.
Eine besondere Bedeutung kommt der zweiten Perspektive der Studie zu. Die Geschichte der Emotionen gehört gegenwärtig zu den besonders dynamischen Forschungsfeldern, und es ist anregend, die dort diskutierten Zusammenhänge aktiv mit Filmen und Filmrezeptionen in Zusammenhang zu bringen. Eine solche Analyse vermag nicht nur Geschichts- und Filmwissenschaft in einem theoriegeleiteten Rahmen miteinander zu verbinden, sie ermöglicht auch eine dezidiert historische, quellennahe Betrachtung, schließlich haben zahlreiche Autor:innen aus Wissenschaft, Pädagogik und Medienpraxis im Verlauf des Untersuchungszeitraums die Interaktion von Wissensvermittlung und emotionaler Publikumssteuerung zu beleuchten versucht.
Dies steht bereits in engem Verhältnis zur dritten zentralen Forschungsperspektive: Der Wissenschaftshistorikerin ist es ein besonderes Anliegen, „die Entstehung, Produktion und Vermittlung wissenschaftlichen Wissens auch außerhalb des universitären und wissenschaftlichen Rahmens deutlicher in den Blick zu nehmen“ (S. 30). Emotionen, so Anja Laukötter, seien von diesen Praktiken der medial-populären Wissensvermittlung nicht zu trennen, und dem geht sie in den sehr öffentlichen Räumen und Praktiken des Kinos nach.
Viertens schließlich begreift sich die vorliegende Arbeit als eine Geschichte des Körpers und der Sexualität. Auch in diesem Feld soll sich die Analyse filmischer Quellen als besonders ertragreich erweisen, denn in Sexualaufklärungsfilmen „werden Körper visuell umfassend präsentiert, zugleich sind sie Gegenstand von politischen Debatten und Zuschauerforschung […]“ (S. 33). Die Studie ist mithin ein Versuch, Diskurse und Praktiken der Sexualaufklärung über das Medium Film gemeinsam und aufeinander bezogen zu verhandeln.
Dieses Programm setzt die Autorin in einer Langzeitstudie über das ganze 20. Jahrhundert hinweg um, die zwar einen klaren Schwerpunkt auf Entwicklungen in Deutschland legt, diesen aber ausdrücklich transnational unter Berücksichtigung französischer und US-amerikanischer Filme und Debatten erweitert. Insgesamt räumt Anja Laukötter der Verflechtungsgeschichte einen beträchtlichen Stellenwert ein, und auch dem historischen Vergleich zwischen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) erwächst für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eine tragende Rolle. Auf der Basis von zahlreichen ausführlich vorgestellten und diskutierten Filmen[1], unter Rückgriff auf umfangreiche schriftliche Dokumente aus staatlichen, wissenschaftlichen und filmwirtschaftlichen Archiven sowie nicht zuletzt unter Berücksichtigung der breiten öffentlichen Diskussion von Filmen zur Sexualaufklärung, führt die Autorin ihre Leser:innen auf eine dichte und detailreiche Reise in Kinosäle, Kasernen, Schulen und andere Orten, in denen ein oft junges Publikum über vermeintlich richtigen Sex, über Empfängnisverhütung und die Gefahren sexuell übertragbarer Krankheiten unterrichtet werden sollte.
Der Aufbau des Buchs ist chronologisch und orientiert sich an den Zäsuren der deutschen Geschichte; dass das in einer transnationalen Studie zu einer meist auf internationale Kooperation ausgerichteten Filmwirtschaft nicht immer ganz passgenau ist, kalkuliert die Autorin ein. Kapitel eins thematisiert die Anfänge des Sexualaufklärungsfilms und diskutiert dann ausführlich dessen Rolle im Ersten Weltkrieg, als die Sexualität der Frontsoldaten als Gefährdung in den Blick geriet. Zugleich unterstreicht das Kapitel, dass die Entwicklung dieser Aufklärungsfilme von Beginn an in einer engen Beziehung zur Erforschung der Emotionen im Publikum stand.
Das zweite Kapitel über die 1920er-Jahre kreist um Versuche, ein erkennbares Genre-Format für Aufklärungsfilme und deren Konzepte zur Visualisierung von Wissen zu stabilisieren. Diese Bemühungen wurden nicht zuletzt durch internationale Zusammenarbeit vorangetrieben, die allerdings immer auch von nationalen Debatten um Zensur oder politische Vereinnahmung flankiert waren.
Im dritten Kapitel und mit den Filmen des Nationalsozialismus diskutiert Laukötter eine filmische Strategieverschiebung, die sie als „Medialisierung des positiv Emotionalen“ charakterisiert: „Dabei wird deutlich, dass von einer Weimarer Didaktik, die mit Gefühlen wie Angst oder Scham arbeitete, Abstand genommen wurde. […] in dem Soldaten-Film über Geschlechtskrankheiten sollten sie mit dem Angebot eines positiv konnotierten Gefühls überwunden werden“ (S. 197). Das vierte Kapitel zur Besatzungszeit stellt die so genannten atrocity-Filme dieser Jahre, in denen die deutsche Bevölkerung über Scham und Schuld adressiert wurde, in eine produktive Beziehung zum Aufklärungsfilm und fragt so nach einer „Reeducation der Emotionen“ (S. 255ff.) als filmpolitische Strategie der Besatzungsmächte.
Kapitel fünf und sechs verhandeln jeweils ausführlich die Entwicklungen in der Bundesrepublik sowie in der DDR. In diesem Vergleich bis in die 1980er-Jahre hinein betont die Autorin eher systembedingte Unterschiede denn Gemeinsamkeiten, allerdings treten in beiden Staaten und ihren Filmproduktionen deutlich sichtbare Kontinuitätslinien hervor, sowohl bei der wissensvermittelnden Gestalt der Aufklärungsfilme als auch im Versuch der emotionalen Publikumsadressierung.
Sex – richtig! ist eine sehr anregende, kenntnisreiche und inspirierende Studie, das Buch ist aber – das sei der Laufkundschaft vor dem Kölner Schaufenster gesagt – keine leichte Lektüre. Es ist sprachlich sehr formal verfasst und in seinem Bemühen, Kontinuitäten und Wandel über ein ganzes Jahrhundert ausweisen zu wollen, mitunter auch etwas redundant. Die Diskussion von organisationshistorischen Aspekten fällt an manchen Stellen sehr lang aus und verstellt so bisweilen die interessante Sicht auf die Filme, das Publikum und die Diskussion drumherum. Die transnationale Erweiterung ist besonders in den ersten Teilen der Untersuchung eine wichtige und gelungene Horizonterweiterung, sie tritt dann aber in den letzten Kapiteln zu sehr hinter dem deutsch-deutschen Vergleich zurück. Das ändert indes nichts daran, dass Anja Laukötter eine wertvolle Untersuchung vorgelegt hat, die den Sexualaufklärungsfilm als historische Quelle ernst genommen und ihn als lohnendes Objekt einer Emotions- und Wissensgeschichte etabliert hat.
Anmerkung:
[1] Einige für die Studie wichtige Filme hat die Autorin auf dieser Website dokumentiert: https://medfilm.unistra.fr/wiki/Sex_richtig (30.09.2022). Darüber hinaus werden diese und andere Filme an verschiedenen Stellen des Buchs ausführlich eingeführt.
Zitation
Olaf Stieglitz: Rezension zu: Laukötter, Anja: Sex – richtig!. Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino des 20. Jahrhunderts. Göttingen 2021: ISBN 978-3-8353-3898-2, , In: H-Soz-Kult, 14.10.2022, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-97957>.
_______________________________________________ Regionalforum-Saar mailing list Regionalforum-Saar(a)genealogy.net https://list.genealogy.net/mm/listinfo/regionalforum-saar
Date: 2022/10/14 06:15:41
From: Joerg Weinkauf via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Nö! Bei mir nicht.
[Es würde mich interessieren, bei wievielen Lesern diese Buchbesprechung im Spam-Ordner landet]
Date: 2022/10/14 10:15:52
From: anneliese.schumacher(a)t-online.de <anneliese.schumacher(a)t-online.de>
Wird normal angezeigt.
-----Original-Nachricht-----
Betreff: Re: [Regionalforum-Saar] Buchbesprechung: Sex – richtig! Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino des 20. Jahrhunderts
Datum: 2022-10-14T06:15:50+0200
Von: "Joerg Weinkauf via Regionalforum-Saar" <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
An: "Roland Geiger via Regionalforum-Saar" <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Nö! Bei mir nicht.
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Virenfrei.www.avast.com |
Date: 2022/10/30 21:36:07
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Eine preußische Familie
Aus den Lebenserinnerungen von Hermann und Margarete Sommer
Edition: Roland Geiger
Hermann Sommer (1882-1945) war preußischer Landrat in St. Wendel
in der
schweren Zeit von 1917-1919. Als er sich den französischen
Besatzern nicht
beugte, mußte er St. Wendel verlassen. Er wurde Landrat in Pyritz
an der heutigen
polnischen Grenze, dann Kurator in Halle und Greifswald, ab 1934
Richter in
Berlin. Kurz vor Kriegsende schickte er seine Frau nach Warendorf
in Sicherheit.
In ihren Erinnerungen berichten die Eheleute Sommer von ihrer
Familie, ihren
Freunden (darunter der Maler Kurt Preiss), ihrem Leben in
Deutschland. Und von
Margaretes Suche nach ihrem Ehemann, der seit seiner Verhaftung
durch die
Russen 1945 in Berlin spurlos verschwunden ist. Ihre Schilderungen
reichen über
den schwierigen Neuanfang in Berlin bis zur zweiten Saarabstimmung
1955.
Die Schilderungen wurden ergänzt um Unterlagen aus dem Archiv der
Uni
Greifswald, u.a. Sommers Doktorarbeit. Eine Zustammenstellung der
Sommerschen
Vorfahren aus seiner eigenen Hand, Kurzbiografien zahlreicher
genannter
Personen sowie eine kurze Autobiographie seines Fahrers, Adam
Dallinger.
Format A5, 367 Seiten, broschiert.
Etliche Schwarzweiß-Abbildungen
Gewicht 600 Gramm
Preis: 15 Euro (plus Versand: im Inland 3,50 Euro).
Bestellungen bitte direkt an mich: alsfassen(a)web.de
Mit freundlichen Grüßen
Roland Geiger
--------------------
Roland Geiger
Historische Forschung
Alsfassener Straße 17, 66606 St. Wendel
Tel. 06851-3166
email alsfassen(a)web.de
www.hfrg.de
Date: 2022/10/31 10:55:04
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Guten Morgen,
auch in diesem Jahr habe ich für das kommende Jahr einen neuen
Kalender
zusammengestellt, der Sie mit alten Ansichten von St. Wendel durch
2023
begleiten soll.
Vorn auf dem Deckel wird der Betrachter von sechs Männern jüngeren
bis mittleren
Alters begrüßt, die sich von Alsfassen aus auf dem Weg in die
Stadt machen, um
die alten Ansichten vor Ort zu genießen. Zu ihnen gehört u.a.
Eduard Kornbrust,
der Vater des Bildhauers.
Es gibt u.a. zwei Aufnahmen der Bahnhofstraße, eine aus den
1960ern, als die
Straße noch in zwei Richtungen befahrbar war, und eine aus der
Zeit kurz nach
der Jahrhundertwende, auf der nur behütete Fußgänger und nicht ein
Fahrzeug zu
sehen ist, allerdings auch keine der heutigen Banken. Die in
diesem Jahr
abgerissene Paque-Brauerei im Wingert ist auf drei Aufnahmen zu
sehen, einmal
sogar in bunt, aber immer dezent im Hintergrund. Die Luftaufnahme
über die
Kelsweilerstraße auf die Stadt bedarf eines Vergrößerungsglases,
um Details zu
erkennen; dafür kann darauf die Synagoge finden, wer weiß, wo sie
oder er
suchen muß.
Zu jedem Monatsbild gibt’s eine kurze Beschreibung auf
zusätzlichen zwei Seiten
direkt hinter dem Titelbild.
Der Kalender erscheint hochkant in A4 auf 300-Gramm-Papier und
kann für 20 Euro
in St. Wendel in den Buchhandlungen Klein und Bastuck sowie im
Brunnenlädchen
erworben werden. Oder direkt beim Herausgeber (Roland Geiger,
alsfassen(a)web.de).
Mit freundlichen Grüßen
Roland Geiger
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Roland Geiger
Historische Forschung
Alsfassener Straße 17, 66606 St. Wendel
Tel. 06851-3166
email alsfassen(a)web.de
www.hfrg.de
Attachment:
Kalender 2023 Deckblatt.pdf
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