Monatsdigest

[Regionalforum-Saar] Buchbesprechung: Olgas Tagebuch (1941–1944). Unerwartete Zeugnisse einer jungen U krainerin inmitten des Vernichtungskriegs

Date: 2022/10/04 19:45:17
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Olgas Tagebuch (1941–1944). Unerwartete Zeugnisse einer jungen Ukrainerin inmitten des Vernichtungskriegs


Herausgeber Tanja Penter; Stefan Schneider,
Erschienen Köln 2022: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten 432 S.
Preis € 39,00
ISBN 978-3-412-52182-0

Inhalt => meinclio.clio-online.de/uploads/media/book/toc_book-76544.pdf

Rezensiert für H-Soz-Kult von Maria Kovalchuk, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

[Die Originalbesprechung wurde in englischer Sprache verfaßt. Ich habe sie „nur“ durch den Google-Übersetzer geschickt. gr]

Wie erlebt ein heranwachsendes Mädchen einen Krieg? Warum sind ihre Alltagserfahrungen des Lebens unter einem Besatzungsregime eine wertvolle Quelle für die historische Forschung? Wenn wir diese Fragen stellen, denken wir vielleicht an Anne Franks Tagebücher und ihr 25-monatiges Leben im Versteck im von Deutschland besetzten Amsterdam. Ihr Schreiben wurde zum Non-Plus-Ultra der Erzählung junger Erwachsener über den Zweiten Weltkrieg und konstruierte eine Weltanschauung und Routine des jugendlichen Lebens in Kriegszeiten. Zur gleichen Zeit schrieb in einem anderen Teil Europas, in der Sowjetukraine, auch die 17-jährige Olga Kravtsova im Sommer 1941 ein Tagebuch, in dem sie ihr Leben unter wechselnden Diktaturen, der deutschen Besatzung und dem Sowjetregime reflektierte. Olgas Tagebücher sind eine immens wichtige Quelle für Historiker, die ein breites Themenspektrum aufzeigen, wie z. B. die Interaktionen zwischen der lokalen Bevölkerung und Deutschen in der besetzten Ukraine, das Zugehörigkeitsgefühl sowie die Identitätskonstruktion unter autoritären Regimen, die Entwicklung von Loyalitäten, das Psychische Transformation ins Erwachsenenalter, Probleme der Zusammenarbeit mit Besatzungsmächten und junge weibliche Perspektiven auf den Krieg. Olgas Kriegszeugnisse wurden nun erstmals von Stefan Schneider ins Deutsche übersetzt und mit einer Einführung von Tanja Penter veröffentlicht.

Olgas Geschichte spielte sich in einer einzigartigen Konstellation ab: Sie war das Produkt einer spezifischen ideologischen Erziehung, belesen und neugierig und lebte in einer strategisch wichtigen Stadt, wo sie als Dolmetscherin für Deutsche in der besetzten Ukraine arbeitete. Die Stadt Znamianka hat einen bedeutenden Eisenbahnknotenpunkt, der sowohl für die deutschen als auch für die sowjetischen Streitkräfte von strategischem Interesse war und daher zu einem Zentrum der Interaktion mit den deutschen Behörden, der Wehrmacht und den Eisenbahnarbeitern wurde. Dank ihrer Deutschkenntnisse bekam Olga eine Stelle als Dolmetscherin bei der Bahnverwaltung und traf zahlreiche deutsche Arbeiter, Soldaten und Offiziere und sogar hochrangige Führungskräfte. Olga beschrieb diese Begegnungen und die Gefühle, die sie in ihrem Tagebuch hervorriefen, dokumentierte den Prozess, eine erwachsene Frau zu werden, die in Kriegszeiten gezwungen war, schneller erwachsen zu werden, reflektierte die ideologischen Fehler beider Regime und überdachte alles, was sie zuvor in der sowjetischen Schule gelernt hatte .
Diese Ausgabe bietet eine hervorragende Einführung von Tanja Penter, die umfassend über die deutsche Besatzungspolitik in der Ukraine im Zweiten Weltkrieg, Jugendkriegsberichte und Ego-Dokumente veröffentlicht hat. Ihr knapp 80 Seiten langer Einführungsartikel ordnet Olgas Tagebuch Forschungsfeldern zu, kontextualisiert detailliert Zeit, Ort und Politik, analysiert und definiert zentrale Themen und Probleme und zeigt das große Potenzial dieser besonderen Quelle für Forscher auf. Dazu gehört zum Beispiel das Verfassen einer verwickelten Geschichte der Stadt Znamianka. Der Autor diskutiert die Tagebuchstudien, die für die Sowjetzeit und das NS-Regime durchgeführt wurden.[1] Penter verdeutlicht aber auch die Grenzen von Olgas Erzählungen, die typische weibliche Erfahrungen mit Gewalt, Deportation oder Zwangsarbeit und anderen Kriegsverbrechen des NS-Regimes während des „Vernichtungskrieges“ nicht vollständig widerspiegeln, sondern vielmehr ein bestimmtes Weltbild einer jungen Frau vermitteln persönliche und ideologische Transformationen während der Kriegserfahrung (S. 20; 50–53).
Bei der Erörterung der ukrainischen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs hätten Beispiele anderer Tagebücher und Korrespondenzen erwähnt werden können, die in der Ukraine oder von Ukrainern geschrieben wurden. Dazu gehören die Tagebücher der Kiewer Bürgerin Nina Herasymova[2], die ein jüdisches Ehepaar versteckt und vor dem Massaker von Babyn Jar gerettet hat, oder die Briefe von Osyp Kladochnyi[3], einem Sekretär des Mytropolyten Andrey Sheptytsky (Metropolitan-Erzbischof der Ukraine). Griechisch-Katholische Kirche 1901–1944), der über die Lage im von den Nazis besetzten Kiew, Schytomyr und Winnyzja berichtete. Ein weiteres interessantes Beispiel ukrainischer Ego-Dokumente sind die Tagebücher des ukrainischen Filmregisseurs und Schriftstellers Oleksandr Dovzhenko, der über die Rolle und das Schicksal der ukrainischen Intelligenz im Stalinismus und während des Zweiten Weltkriegs nachdachte, und der Zeugenbericht des ukrainischen Ingenieurs Viktor Kravchenko. der die stalinistischen Säuberungen überlebte und 1946 in die USA überlief.[4]
Ansonsten ist die Einführung in Olgas Tagebücher von Penter eine großartige Lektüre für alle, die sich für die Erforschung von Ego-Dokumenten, der sowjetischen ukrainischen Geschichte, der Ukraine unter deutscher Besatzung und den Interaktionen zwischen Deutschen und der lokalen Bevölkerung interessieren. Penter bereitet den Leser vollständig auf den Kontext der Tagebücher vor, indem er Details zur Jugendpsychologie und Adoleszenzkrisen, transkulturellen Interaktionen in Znamianka und zur Kontextualisierung weiblicher Kriegserfahrungen liefert, indem er auf die Geschichte sexueller Gewalt während des Zweiten Weltkriegs, Beziehungen und Ehen hinweist mit Besatzern und Bordellen der Wehrmacht usw. Insgesamt hilft es dem Leser, unabhängig von seinem Fachwissen, in Olgas Welt einzutauchen und die Details und den Kontext der Erzählung zu verstehen.
Olga schrieb ihre Tagebücher auf Russisch mit einigen ukrainischen Wörtern, die in ihre Sprache eingebettet waren, sowie einigen Passagen auf Deutsch. Solche Tagebücher zu übersetzen kann eine sprachliche Herausforderung sein und Stefan Schneider hat seine Aufgabe als Übersetzer perfekt erfüllt. Seine sprachliche Einführung geht detailliert auf Olgas sprachliche Eigenheiten und Umgebung ein, die ihre Erzählung geprägt haben, und füllt sie mit regionalen dialektischen Wörtern und ukrainischen Einflüssen auf lexikalischer und syntaktischer Ebene.
Zu den überzeugendsten Themen in Olgas Tagebüchern gehören Ideologie, Identitätskonstruktion und Zugehörigkeit, die Entwicklung von Loyalitäten, persönliche Veränderungen und Kontakte zu Deutschen. Die Kraft der persönlichen und ideologischen Transformation ist eine der sichtbarsten Dynamiken in den Tagebüchern, denn am Anfang stehen wir Olga gegenüber, einer loyalen Komsomolka (Mitglied der sowjetischen Jugendorganisation, der Kommunisticheskii soiuz molodzhyozhi), die es auch unter der deutschen Besatzung versucht deutsche Soldaten und Arbeiter von der Überlegenheit des Kommunismus und der sowjetischen Führung zu überzeugen (S. 163). Als sie zufällig eine sowjetische Propagandanachricht im Radio hört, schreibt Olga: „Glück ist, Liebe für das Vaterland und Hass auf Feinde zu empfinden. Nein, ich kann nicht umerzogen werden; Nie zuvor hatte ich das Gefühl, vom Komsomol so stark erzogen worden zu sein. Obwohl ich wütend auf die sowjetische Presse war, gab es zwar Sünden, aber dennoch blieb ich meinen Ideen treu und würde sie niemals ändern“ (S. 183). Der Krieg verdeutlicht und stärkt zunächst ihre Loyalität und Zugehörigkeit zum sowjetischen Gedankenreich, sie schreibt stolz „uns/unser“ in Bezug auf Sowjets und verwendet oft Propagandabegriffe (S. 171). Gleichzeitig bemerkt sie, wie gebildet und charmant deutsche Männer sein können, und dank ihrer Sprachkenntnisse gelingt es ihr, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, aus einer Begegnung werden Freundschaften und Liebe. Ihre Beziehung zu einem österreichischen Eisenbahnarbeiter Heinz löst eine große Veränderung in Olgas Leben aus und drängt sie dazu, ideologische Erzählungen und Verallgemeinerungen über Männer im Allgemeinen und „Feinde“ im Besonderen zu überdenken (S. 184, 187). Im Laufe des Schreibens entwickelt Olga ein komplexes Weltbild und entdeckt die vielschichtigen Loyalitäten ihrer Loyalität gegenüber der Sowjetunion, der Ukraine, ihrer Familie und ihren Freunden, ihren Lieben und wie sich ihre Loyalität verändert. In ihren Schlussnotizen äußert Olga eine äußerst kritische Meinung sowohl zum Sowjet- als auch zum Nazi-Regime, kritisiert ausdrücklich die sowjetischen Behörden und weigert sich, sich mit ihnen zu identifizieren (S. 415, 419, 422).

Diese Veröffentlichung ist nicht nur das Ergebnis umfangreicher Recherchen, sondern auch eine großartige Übersetzungsarbeit. Der Band bringt dem Leser die Erfahrung eines jungen Mädchens in der von den Nazis besetzten Ukraine näher und zeigt ihre Emotionalität, tiefe Selbstreflexion und ihre Wandlungen im Laufe der Zeit. Dank der brillanten Einführung von Penter wird deutschen Lesern eine tiefgreifende Analyse des Tagebuchkontexts geboten, und dank Schneiders raffinierter Arbeit werden diese Tagebücher nun auch für Deutschsprachige mit allen Nuancen des Originals zugänglich sein und dem Ukrainischen eine Stimme geben den Zweiten Weltkrieg mitzuerleben und dadurch ihre Präsenz in deutschen Wissenschaftsdebatten zu verstärken. Aber auch für ein breiteres deutsches Publikum ist dieses Buch von großem Interesse, da es als Impuls dienen kann, die Ostfront und die Besatzungspolitik in der Ukraine aus der inneren Perspektive einer jungen Frau neu zu betrachten und einzigartige Einblicke in das Leben lokaler Ukrainer zu geben wahrgenommene Nazi-Besatzung während des deutschen Vernichtungskrieges. Heute, im Jahr 2022, wo aufgrund der russischen Aggression ein neuer grausamer Krieg in der Ukraine tobt und ukrainische Kinder und Jugendliche wieder Kriegstagebücher schreiben, ist die Präsenz ukrainischer Perspektiven auf die Geschichte des Zweiten Weltkriegs von äußerster Bedeutung und verdient es, gelesen und studiert zu werden.

Anmerkungen:
[1] Zum Beispiel Jochen Hellbeck, Revolution on My Mind. Schreiben eines Tagebuchs unter Stalin, Cambridge 2006.
[2] Die Tagebücher von Nina Herasymova sind Teil der Sammlung des Nationalmuseums für ukrainische Geschichte. Digitalisierte Auszüge sind hier verfügbar (auf Ukrainisch): https://www.radiosvoboda.org/a/ninas-war-diary/29510966.html (26.09.2022).
[3] Verfügbar auf der Website des Digital Archive of Ukrainian Liberation Movement: https://avr.org.ua/?idUpCat=907 (26.09.2022).
[4] Krawtschenko Victor. Ich habe mich für die Freiheit entschieden. Das persönliche und politische Leben eines sowjetischen Beamten. New York 1946.

Zitation
Maria Kovalchuk: Rezension zu: Penter, Tanja; Schneider, Stefan (Hrsg.): Olgas Tagebuch (1941–1944). Unerwartete Zeugnisse einer jungen Ukrainerin inmitten des Vernichtungskriegs. Köln 2022: ISBN 978-3-412-52182-0, , In: H-Soz-Kult, 05.10.2022, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-128327>.


[Regionalforum-Saar] Displaced Persons-Forschung in Deu tschland und Österreich. Eine Bestandsaufnahme zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Date: 2022/10/07 16:38:54
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Displaced Persons-Forschung in Deutschland und Österreich. Eine Bestandsaufnahme zu Beginn des 21. Jahrhunderts


Herausgeber Hagen, Nikolaus; Nesselrodt, Markus; Strobl, Philipp; Velke-Schmidt, Marcus
Reihe DigiOst (14)
Erschienen Berlin 2022: Frank & Timme
Anzahl Seiten 366 S.
Preis € 59,80
ISBN 978-3-7329-0667-3
URL https://doi.org/10.23665/DigiOst/HI-14

Inhalt => meinclio.clio-online.de/uploads/media/book/toc_book-76290.pdf

Rezensiert für H-Soz-Kult von Anna Holian, School of Historical, Philosophical & Religious Studies, Arizona State University

[Die ursprüngliche Rezension war in Englisch, Übersetzung von Dr. Google]

Der Begriff „Displaced Person“ (DP) wurde von den Alliierten während des Zweiten Weltkriegs geprägt, um Menschen zu beschreiben, die „durch den Krieg aus ihren Heimatländern vertrieben“ wurden.[1] Theoretisch umfasste der Begriff alle Gruppen vertriebener Europäer, darunter auch Deutsche, die nach Kriegsende aus ihrer Heimat in Ostmitteleuropa geflohen oder vertrieben wurden. In der Praxis galt es jedoch nur für die vertriebenen Bevölkerungsgruppen, die sich für die Hilfe der Alliierten und der Vereinten Nationen qualifizierten, die Angehörigen „feindlicher“ Länder (z. B. Deutschland, Österreich) und „ex-feindlicher“ Länder (z. B. Rumänien, Bulgarien) größtenteils ausgeschlossen (eine Ausnahme wurde für Juden und andere ehemalige Verfolgte gemacht). Insbesondere wurde der Begriff zum Synonym für jene vertriebenen Ostmitteleuropäer, die aus irgendwelchen Gründen nicht wie von den Alliierten erwartet in ihre Heimat zurückkehrten und so zu einer vor allem im Westen konzentrierten längerfristigen Flüchtlingsbevölkerung wurden Besatzungszonen Deutschlands.
Obwohl es in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein reges wissenschaftliches Interesse an Vertriebenen gab, wurden DPs erst in den 1980er und 90er Jahren zu einem kritischen Thema der historischen Forschung, wobei Wolfgang Jacobmeyers Buch über die DP-Politik der Alliierten von 1985 die erste große Studie war. [2] Seitdem ist das Interesse an dem Thema stark gewachsen, wobei die Forschung zu jüdischen DPs besonders stark ist.[3] Dennoch wird das Thema oft weiterhin als Randerscheinung gesehen, insbesondere zur Nationalgeschichte der Nachkriegszeit. Im deutschen Kontext werden die ausländischen Flüchtlinge, die die DP-Bevölkerung ausmachten und Anfang der 1950er-Jahre größtenteils abwanderten, weitgehend überschattet von den zeitgleich ankommenden und größtenteils zurückgebliebenen ethnischen deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen.
Die Autoren des aktuellen Bandes haben sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt, um die Forschung zu Vertriebenen voranzubringen. Die meisten sind Mitglieder eines losen Netzwerks von DP-Wissenschaftlern, das virtuell vom Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn beherbergt wird.[4] Eines ihrer vorrangigen Ziele ist es, die Arbeit an DPs in den Mainstream der historischen Forschung zu Deutschland und Österreich der Nachkriegszeit zu integrieren. Dabei beabsichtigen sie auch, dass Historiker über den Rahmen des „DP-Problems“ hinausgehen, der die Diskussion über DPs in diesem größeren Kontext weitgehend dominiert. Stattdessen streben sie einen Rahmen an, der Vertriebene vollständig in die nationalen Narrative der Nachkriegszeit integriert und gleichzeitig den transnationalen Charakter der DP-Geschichte und ihre Beziehung zu globalen Migrationsprozessen und der Bildung eines internationalen Flüchtlingsregimes anerkennt.
Zwei der zentralen Themen des Bandes sind, dieser Agenda folgend, Transnationalismus und internationale Flüchtlingshilfe. Weniger offensichtlich mit dieser Agenda verbunden und eher im Einklang mit früherer Forschung stehen die beiden anderen Hauptthemen des Bandes, das Lagerleben und die frühen Bemühungen, sich mit der Kriegsvergangenheit auseinanderzusetzen. Tatsächlich gibt es manchmal eine Diskrepanz zwischen den programmatischen Aspekten des Bandes und den einzelnen Fallstudien. Folglich unterscheiden sich die wichtigsten Beiträge des Bandes zur Literatur, und davon gibt es mehrere, etwas von dem, was ausdrücklich beabsichtigt war.
Der erste Beitrag des Bandes besteht darin, dass er Vertriebene in einen deutlich erweiterten geografischen Kontext stellt. Während sich bisher die meisten Forschungen auf Deutschland konzentrierten, befassen sich die Autoren nicht nur mit dem österreichischen und italienischen Kontext, sondern auch mit zahlreichen außereuropäischen Orten, an denen sich DPs vorübergehend aufgehalten oder dauerhaft niedergelassen haben. Besonders interessant sind Jochen Lingelbachs Essay über polnische Vertriebene im britischen Kolonialafrika (1942–1950) und Aivar Jürgensons Untersuchung der aufeinanderfolgenden Wellen estnischer Migration nach Argentinien. Das Bekenntnis des Bandes zu einer transnationalen Perspektive kommt hier am deutlichsten zum Ausdruck, insbesondere in Jürgensons Erörterung der unterschiedlichen Beziehungen estnischer Migranten der Vor- und Nachkriegszeit zu ihren Heimat- und Aufnahmegesellschaften.
Zweitens befassen sich zahlreiche Autoren eingehender mit den Prozessen, durch die Vertriebene ein Gefühl für gemeinschaftliche Identität und Zweck organisierten und entwickelten. Während ein Fokus auf interne Gruppendynamiken in der Erforschung von DPs bereits gut etabliert ist, bieten diese Essays neue Einblicke in die Kontexte und Schauplätze, in denen selbstbewusste DP-Gemeinschaften entstanden. Dieses Thema kommt am stärksten in den Kapiteln von Stephanie Ligan und Evita Wiecki über jüdische DPs zum Ausdruck, vielleicht weil die bereits umfangreiche Literatur zu dieser Gruppe eine starke Grundlage für mikrohistorische Analysen bietet. Interne Gruppendynamiken stehen auch im Mittelpunkt von Kateryna Kobchenkos Essay über die Entwicklung einer transnationalen ukrainischen DP-Community.
Drittens bereichert der Band unser Wissen über die institutionelle Matrix, in der DPs lebten. Obwohl die Autoren Wolfgang Jacobmeyers Prämisse, Vertriebene seien „verwaltete Menschen“, zurückweisen, führt kein Weg daran vorbei, dass der Alltag der Vertriebenen – und mögliche Zukünfte – zutiefst von Institutionen, allen voran den alliierten Besatzungsbehörden, geprägt war und den Flüchtlingshilfswerken der Vereinten Nationen.[5]
Einige Autoren behandeln dieses Thema, indem sie wenig bekannte Facetten bekannter Organisationen untersuchen. Dies ist der Fall bei Stella Maria Frei und Wolfgang Piereth, die sich beide mit Projekten der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), dem ersten UN-Flüchtlingshilfswerk im Europa der Nachkriegszeit, befassen. Andere Autoren setzen sich mit der Arbeit weniger bekannter Institutionen auseinander. Jim G. Tobias konzentriert sich auf den Canadian Jewish Congress und sein War Orphans Project, während Philipp Lehar sich mit den britischen Quäkern befasst. Diese spezifischen Essays passen gut zu anderen neueren Arbeiten über die Rolle von Nichtregierungsorganisationen im Flüchtlingsregime der Nachkriegszeit, obwohl eine explizitere Beachtung dieser Verbindung hilfreich gewesen wäre.[6]
Schließlich erweitert der Band unsere Vorstellung von der Kategorie der Vertriebenen. Obwohl die Herausgeber dies nicht explizit artikulieren, ist ihr Analysegegenstand wesentlich breiter als die Anti-Rückführungs-Ostmitteleuropäer, die im Mittelpunkt der meisten Arbeiten zu DPs stehen. Der Band enthält Aufsätze über tschechische Vertriebene, die nach dem Krieg in ihre Heimat zurückkehrten (Jana Kasíková) und über die Bildung neuer Gruppen tschechischer Flüchtlinge in Österreich nach der Errichtung der kommunistischen Herrschaft in der Tschechoslowakei 1948 (Martin Nekola). Es wird auch kurz auf Südtiroler eingegangen, die nach 1939 nach Österreich (genauer: ins Großdeutsche Reich) ausgewandert sind und dort nach dem Krieg geblieben sind (Philipp Strobl und Nikolaus Hagen). Diese erweiterte Konzeption von DPs – die im Wesentlichen eine Rückkehr zu den Ursprüngen des Begriffs darstellt – ist sehr zu begrüßen und unterstützt das Interesse der Herausgeber, Vertriebene in der globalen Migrationsgeschichte des 20. Jahrhunderts zu verorten.

Einige der Ziele dieser ehrgeizigen Sammlung bleiben jedoch nur teilweise verwirklicht. Insbesondere wenige der Aufsätze setzen sich sinnvoll mit der Wissenschaft zum Transnationalismus und seiner Betonung der Zwischenstellung von Migranten zwischen Heimat- und Aufnahmegesellschaften auseinander. Stattdessen fungiert Transnationalismus vor allem als Synonym für die multinationale Herkunft bestimmter ethnonationaler DP-Gruppen oder für internationale Migration tout court. Ebenso befassen sich nur wenige der Essays mit der Integration von Vertriebenen in ihre Aufnahmegesellschaften. Die meisten konzentrieren sich auf die Zeit, in der DPs als alliierte Verantwortung angesehen wurden und nur begrenzte Interaktionen mit der Mehrheitsgesellschaft hatten. Während temporäre Bevölkerungen an den Orten, die sie durchqueren, deutliche Spuren hinterlassen können, erfordert ein umfassenderes Verständnis davon, wie Vertriebene die deutsche und österreichische Gesellschaft geprägt haben – und wie die deutsche und österreichische Gesellschaft sie geprägt hat – einen breiteren zeitlichen Rahmen.[7]
Es bleibt also noch viel zu tun. Auch wenn der aktuelle Band nicht alles hält, was er verspricht, setzt er dennoch eine hervorragende Agenda und bietet verlockende Einblicke in die Zukunft der Forschung zu Vertriebenen.


Anmerkungen:
[1] „Rahmenplan für Flüchtlinge und Vertriebene“, 3. Juni 1944, Archiv des Leibniz-Instituts für Zeitgeschichte, München, Fi 01.84.
[2] Wolfgang Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter zum heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945–1951, Göttingen 1985. Weitere wichtige Arbeiten aus dieser Zeit sind Mark Wyman, DPs. Europe’s Displaced Persons, 1945–1951, Philadelphia 1989, Taschenbuch Ithaca 1998, und Michael Brenner, Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945–1950, München 1995, Nach dem Holocaust. Wiederaufbau jüdischen Lebens im Nachkriegsdeutschland. Princeton 1997.
[3] Die Literatur ist mittlerweile recht umfangreich. Zu den bemerkenswerten Werken, die seit dem Jahr 2000 veröffentlicht wurden, gehören Atina Grossmann, Juden, Deutsche und Verbündete. Close Encounters in Occupied Germany, Princeton 2007, Deutsche Übersetzung: Juden, Deutsche, Alliierte. Begegnungen im besetzten Deutschland. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff, Göttingen 2012; Tamar Lewinsky, Displaced Poets. Jiddische Schriftsteller im Nachkriegsdeutschland 1945–1951, Göttingen 2008; Gerard Daniel Cohen, Im Gefolge des Krieges. Europe’s Displaced Persons in the Postwar Order, Oxford 2011; Ruth Balint, Ziel woanders. Displaced Persons and Their Quest to Leave Postwar Europe, Ithaca 2021. Es gab auch einige Titel, die sich an ein breiteres Publikum richten: Ben Shephard, The Long Road Home. The Aftermath of the Second World War, London 2010, und David Nasaw, The Last Million. Europe’s Displaced Persons from World War to Cold War, New York 2020.
[4] Siehe https://www.netzwerkdpforschung.uni-bonn.de (02.10.2022).
[5] Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter, S. 18.
[6] Für Beispiele neuerer Arbeiten zur Arbeit der Mennoniten mit Vertriebenen siehe die Essays von John Thiesen, Erika Weidemann, Aileen Friesen und Steven Schroeder in: Intersections. MCC Theory and Practice Quarterly 9:4 (Herbst 2021), https://mcc.org/sites/mcc.org/files/media/common/documents/intersectionsfall2021.pdf(02.10.2022).
[7] Ein wichtiges aktuelles Buch, das dies im italienischen Kontext tut und Vertriebene als Teil der breiteren Flüchtlingsbevölkerung betrachtet, ist Pamela Ballinger, The World Refugees Made. Entkolonialisierung und die Gründung des Nachkriegsitaliens, Ithaka 2020.

Zitation
Anna Holian: Rezension zu: Hagen, Nikolaus; Nesselrodt, Markus; Strobl, Philipp; Velke-Schmidt, Marcus (Hrsg.): Displaced Persons-Forschung in Deutschland und Österreich. Eine Bestandsaufnahme zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Berlin 2022: ISBN 978-3-7329-0667-3, , In: H-Soz-Kult, 07.10.2022, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-118132>.


[Regionalforum-Saar] 1885

Date: 2022/10/10 09:17:41
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Guten Morgen,

ich hätte fast geschrieben, man könnte es an die Nerven kriegen, wenn man montagsmorgens in die Zeitung schaut, aber mir scheint es, daß ist in letzter Zeit laufend der Fall - natürlich "in letzter Zeit", früher war das nie so, neeeeiiiiinnn, nicht doch 😎.

Deshalb war's ganz interessant, was ich las, als ich gestern mittag beim Stöbern auf eine Seite der Nahe-Blies-Zeitung vom September 1885 gestoßen bin. Damals war wohl die Welt noch in Ordnung (tschuldigung, aber heute morgen ist mir's nach Klischees).

FS

Roland Geiger

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Nahe Blies Nr. 108 vom 10.09.1885

Lokales und Provinzielles.

St. Wendel, 8. September.
Die im Verlage von Ernst Heitmann in Leipzig unter Redaktion von Fr. Woas in Saarbrücken seit dem 1. Januar c. erscheinende Wochenzeitung „Die Werkstatt“ (Preis vierteljährlich 60 Pfennig, durch die Post bezogen 75 Pfennig) tritt in ihrer Nummer 35 der Frage der Sonntagsruhe in der Weise direkt und selbstständig nahe, daß sie einen Fragebogen mit der Überschrift „Sonntagsruhe oder nicht?“ Beilegt und alle Leser aufgefordert, über den zur Zeit im Deutschen Reiche auf der Tagesordnung stehenden Gegenstand dem Herausgeber zu berichten. Die zum Abdruck in der „Werkstatt“ gelangenden Artikel werden mit 5 Pfennig pro Zeile bezahlt; Name und Stand des Schreibers ist deutlich anzugeben, ersterer wird auf Wunsch verschwiegen. Besonderes Gewicht wird auf die Beantwortung folgender Fragen gelegt:
1) Wird bei Euch auch Sonntags gearbeitet, eventuell wie, arbeiten Alle oder nur Einzelne und in welcher Zeit?
2) Warum wird bei Euch auch Sonntags gearbeitet? Es geht wohl nicht anders? Will ist der Arbeitgeber oder der Arbeiter selbst?
3) Was ist die Folge des Verbots der Sonntagsarbeit? Würde der Betrieb darunter leiden? Würden die Arbeiter weniger verdienen als jetzt, oder würde sich das ausgleichen?
4) Wollt Ihr Sonntagsruhe haben, um in die Kirche zu gehen, oder was wollt Ihr sonst mit dem Sonntag anfangen?
Briefe sind an die Redaktion der „Werkstatt“ in Saarbrücken zu richten.

Durch dieses Vorgehen ist Jedem aus dem Volke Gelegenheit zur Äußerung über die wichtige Frage geboten, die ja auch Fürst Bismarck von möglichst weiten Schichten der Bevölkerung beantwortet wissen will.

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St. Johann, 7. September. Nach der St. JohannerZeitung erregten heute Vormittag 2 fremdländischen Gestalten mit langen gekräuselten schwarzen Haaren und gelben Gesichtern Aufsehen auf dem hiesigen Bahnhof. Es waren zwei Inder, die in Begleitung einer englischen Dame nach Paris reisen. Die Beiden Sprachen Englisch und Französisch unterhalten sich studienhalber in Europa auf. Beide sind feine und intelligente Leute.

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Trier, 7. September. Am Samstag Nachmittag fand man, so meldet die Trierer Zeitung, auf dem Banne Euren auf einem der Wittwe Schmalz gehörenden Baum einen Erhängten. Nach einem bei ihm vorgefundenen Arbeitsbuche ist es ein 26 Jahre alter Tagelöhner, Namens Jakob Keller aus Freisen, im Kreis St. Wendel. Was den Lebensmüden zum Selbstmord trieb, ist bis jetzt noch unbekannt.

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Steinberg bei Birkenfeld, 7. September. Ein hiesiger Bauer erhielt vor einigen Tagen aus der Mühle einige Säcke Mehl, das aus seinem Korn gemahlen und gleichzeitig mit einer Kiste voll Streichholz hierher gefahren worden war. Nach dem ersten Genuß des hiervon gebackenen Brodes stellte sich bei der ganzen Familie Übelkeit, Schwindel und Erbrechen ein, desgleichen bei einer armen Frau, die ein Almosen davon bekommen und dieses genossen. Sogar seine Schweine, die absichtlich mit diesem Brode gefüttert worden, erkrankten. Somit stand fest, daß das Brod gesundheitsgefährliche Stoffe, ob Mehl von Tollkorn oder Staub von den Streichhölzern enthält. Er schickte eine kleine Quantität von dem verdächtigen Brode und auch von dem gelblich erscheinenden Mehle einem Chemiker nach Birkenfeld zur Analyse, deren Resuitat noch abzuwarten ist. Schon im Voraus sei erwähnt, daß der diesjährige trockene Sommer äußerst wenig Tollkorn gezeitigt hat.

[Tollkorn => https://de.wikipedia.org/wiki/Mutterkorn]


[Regionalforum-Saar] Burgeninventare, Burgenverzeichnisse, Burgenkarten

Date: 2022/10/11 19:09:48
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Wartburg-Gesellschaft zur Erforschung von Burgen und Schlössern e. V. und Deutsches Burgenmuseum Veste Heldburg
52428 Jülich

Vom - Bis 28.10.2022 - 17.11.2022
Von Guido v. Büren, Bibliothek, Museum Zitadelle Jülich

Das Deutsche Burgenmuseum und die Wartburg-Gesellschaft zur Erforschung von Burgen und Schlössern werden am 28. Oktober (Freitag) und am 17. November (Donnerstag) 2022 jeweils von 15.00 bis 19.00 Uhr ein zweiteiliges Symposion im Zoom-Format zum Thema Burgeninventare, Datenbanken und Burgenkarten durchführen.


Ziel der Tagung ist es, einen Überblick über den Stand der Burgeninventarisationen und die verschiedenen Ansätze zu solchen Projekten zu erhalten, mehr über die Nutzbarkeit der Projekte zu erfahren und Anregungen für Mitarbeit zu erhalten. Dabei geht es nicht nur um aktuelle digitale Projekte, sondern auch um ältere Bestandsaufnahmen seit dem späten 19. Jahrhundert, angefangen mit Otto Pipers Burgeninventare (2. Teile der Burgenkunde, fehlt in allen Nachdrucken; Österreichische Burgen) über Tillmann (mit rund 23.500 Burgen) bis zum Tiroler Burgenbuch.

Programm

Freitag, 28.10.2022, ab 15.00 Uhr
15.00 Uhr Guido von Büren (Jülich) und Adina Rösch (Heldburg): Begrüßung
15.15 Uhr G. Ulrich Großmann (Fürth): Burgeninventare von Otto Piper bis Gerda Wangerin
15.45 Uhr Guido von Büren (Jülich): Der Codex Welser – ein rheinisches Burgeninventar des 18. Jahrhunderts
(16.15 Uhr kurze Pause)
16.30 Uhr Rainer Atzbach (Arhus): Burgeninventare in Dänemark
17.00 Uhr Thomas Kühtreiber (Wien): Burgeninventare in Niederösterreich – die Niederösterreichische Burgendatenbank
17.30 Uhr Diskussion zum Zwischenstand

Donnerstag, 17.11.2022, ab 15.00 Uhr
15.00 Uhr Guido von Büren (Jülich) und Adina Rösch (Heldburg): Begrüßung
15.15. Uhr Thomas Biller (Freiburg): Die fünf Burgenlexika des Elsass und das „Pfälzische Burgenlexikon“ – Ziel und Methode der lexikalischen Erfassung von Burgen
15.45 Uhr Anja Grebe (Wien): Der Codex Brandis
(16.15 Uhr kurze Pause)
16.30 Uhr Reinhard Friedrich (Braubach): Ebidat – Zum Stand des Projektes des Europäischen Burgeninstituts
17.00 Uhr Thomas Bienert (Erfurt): Datenbank Thüringischer Burgen (Arbeitstitel)
17.30 Uhr Michael Bischoff und Alina Menkhoff (Lemgo): Zum Aufbau der Weserrenaissance-Bauwerkedatenbank
18.00 Uhr Walter Landi (Bozen): Burgeninventarisation in Südtirol
18.30 Uhr Schlussdiskussion

Nach den Referaten können Fragen beantwortet werden, die die Teilnehmer während der Vorträge im Chat stellen.

Kontakt
Guido von Büren
1. Vorsitzender der Wartburg-Gesellschaft zur Erforschung von Burgen und Schlössern e. V.
c/o Museum Zitadelle Jülich
Am Aachener Tor 16
52428 Jülich
Tel.: 0049-(0)2461-63514
E-Mail: gvbueren(a)juelich.de

Zitation
Burgeninventare, Burgenverzeichnisse, Burgenkarten. In: H-Soz-Kult, 11.10.2022, <www.hsozkult.de/event/id/event-130252>.


[Regionalforum-Saar] Buchbesprechung: Sex – r ichtig! Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino de s 20. Jahrhunderts

Date: 2022/10/13 20:36:23
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

[Es würde mich interessieren, bei wievielen Lesern diese Buchbesprechung im Spam-Ordner landet]

Autor Anja Laukötter,
Erschienen Göttingen 2021: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten 543 S., 129 Abb.
Preis € 46,00
ISBN 978-3-8353-3898-2

Rezensiert für H-Soz-Kult von Olaf Stieglitz, American Studies, Universität Leipzig

In der Kölner Innenstadt gibt es einen Buchladen, zu dessen Alleinstellungsmerkmalen es gehört, eines seiner Schaufenster für „Filmbücher“ zu reservieren. Darin können sich Interessierte stets über ausgewählte Neuerscheinungen in dieser Nische des Buchmarkts informieren, über aufwendig gestaltete Bildbände zu Hollywood Blockbustern ebenso wie über Biografien zu bundesdeutschen Nachkriegsregisseur:innen. In diesem Frühjahr konnte man darin auch ein Exemplar von Anja Laukötters neuem Buch finden. Daran, das ist leider zu vermuten, war der Schutzumschlag nicht ganz unschuldig: Der Titel Sex – richtig! findet sich darauf in riesigen Buchstaben am oberen Rand, und zur Untermauerung seiner verheißungsvollen Ankündigung ist in der unteren Hälfte ein kreisrundes Foto platziert, auf dem Jugendliche zu sehen sind, die gebannt einem Film folgen, den ihnen ein zugeknöpfter Lehrer vorführt. Dem Wallstein Verlag ist zu gratulieren; sein Anliegen, eine über 500 Seiten lange geschichtswissenschaftliche Habilitationsschrift publikumswirksam zu vermarkten, ist beinahe vorbildlich aufgegangen.

Doch auch die Inhalte des Buchs und seine Argumentation rechtfertigen den exponierten Platz im Schaufenster. Der Untertitel – Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino des 20. Jahrhunderts – verspricht womöglich immer noch mehr, als die Autorin tatsächlich anzubieten hat, doch zeigt er Pfade in eine Studie auf, die erhebliche Desiderate in der deutschsprachigen Geschichtsschreibung zur Sexualaufklärung sowie zum Film als Medium der Wissensvermittlung zu beseitigen hilft. Welche Rolle spielten Filme in der Sexualaufklärung im Verlauf des 20. Jahrhunderts? Wie wurden Filme über Reproduktion, Verhütung und vor allem Geschlechtskrankheiten in medizinischen, pädagogischen, moralischen, medientheoretischen oder politischen Debatten wahrgenommen und diskutiert, wie wurden sie in sich wandelnde Kino- und andere Vorführinfrastrukturen platziert, wie wurde die Rezeption durch verschiedene Publika erforscht und zu steuern versucht? Wie waren die Versuche, mit Filmen vermeintlich wissenschaftlich abgesichertes Wissen vermitteln zu wollen, an Emotionen gekoppelt, oft an Vorstellungen von Angst und Scham, bisweilen aber auch an Lust und Freude? In welchem Verhältnis konstruierten diese Filme das Verhältnis von Bevölkerung einerseits und Individuum andererseits; welche Politiken der Subjektivierung lassen sich aufzeigen? Welche privaten, öffentlichen sowie staatlichen Organisationen bemühten sich um filmische Sexualaufklärung, und inwieweit war der Wunsch nach wirkmächtigen Filmen transnational verflochten? Diesen und anderen Fragen geht die Autorin in ihrer quellengesättigten Untersuchung auf mehreren, ineinander verwobenen Ebenen nach, in die sie in ihrer Einleitung umfassend einführt.

Laukötter verortet ihre Arbeit zur Geschichte des Sexualaufklärungsfilms in vier historiografische Forschungsperspektiven. Erstens nimmt sie die These vom 20. Jahrhundert als „Jahrhundert der Bilder“ auf, kennzeichnet ihre Forschung als Teil einer Visual History und fragt danach, wie die Bilder der Aufklärungsfilme „nicht nur Sehpraktiken, sondern auch Einstellungen, Verhalten und Handeln der Menschen“ veränderten (S. 23). Das ist einerseits bemerkenswert, denn bislang finden Filme im Feld der (deutschsprachigen) Forschung zur visuellen Kultur der Dekaden nach 1900 noch immer viel zu wenig Beachtung, auch wenn sich dies in den vergangenen Jahren langsam zu ändern beginnt. Andererseits konzentriert sich die Autorin auf nicht-fiktionale, wissenschaftlich-pädagogische Produktionen – dem Spielfilm und seiner Rolle im Aushandlungsprozess von „richtigem“ oder „falschem“ Sex, der größeren Dimension von Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino des 20. Jahrhunderts, kann und will die Studie nicht nachgehen und verweist so auf die umfangreiche Forschung, die hier in Zukunft noch zu leisten wäre.

Eine besondere Bedeutung kommt der zweiten Perspektive der Studie zu. Die Geschichte der Emotionen gehört gegenwärtig zu den besonders dynamischen Forschungsfeldern, und es ist anregend, die dort diskutierten Zusammenhänge aktiv mit Filmen und Filmrezeptionen in Zusammenhang zu bringen. Eine solche Analyse vermag nicht nur Geschichts- und Filmwissenschaft in einem theoriegeleiteten Rahmen miteinander zu verbinden, sie ermöglicht auch eine dezidiert historische, quellennahe Betrachtung, schließlich haben zahlreiche Autor:innen aus Wissenschaft, Pädagogik und Medienpraxis im Verlauf des Untersuchungszeitraums die Interaktion von Wissensvermittlung und emotionaler Publikumssteuerung zu beleuchten versucht.

Dies steht bereits in engem Verhältnis zur dritten zentralen Forschungsperspektive: Der Wissenschaftshistorikerin ist es ein besonderes Anliegen, „die Entstehung, Produktion und Vermittlung wissenschaftlichen Wissens auch außerhalb des universitären und wissenschaftlichen Rahmens deutlicher in den Blick zu nehmen“ (S. 30). Emotionen, so Anja Laukötter, seien von diesen Praktiken der medial-populären Wissensvermittlung nicht zu trennen, und dem geht sie in den sehr öffentlichen Räumen und Praktiken des Kinos nach.

Viertens schließlich begreift sich die vorliegende Arbeit als eine Geschichte des Körpers und der Sexualität. Auch in diesem Feld soll sich die Analyse filmischer Quellen als besonders ertragreich erweisen, denn in Sexualaufklärungsfilmen „werden Körper visuell umfassend präsentiert, zugleich sind sie Gegenstand von politischen Debatten und Zuschauerforschung […]“ (S. 33). Die Studie ist mithin ein Versuch, Diskurse und Praktiken der Sexualaufklärung über das Medium Film gemeinsam und aufeinander bezogen zu verhandeln.

Dieses Programm setzt die Autorin in einer Langzeitstudie über das ganze 20. Jahrhundert hinweg um, die zwar einen klaren Schwerpunkt auf Entwicklungen in Deutschland legt, diesen aber ausdrücklich transnational unter Berücksichtigung französischer und US-amerikanischer Filme und Debatten erweitert. Insgesamt räumt Anja Laukötter der Verflechtungsgeschichte einen beträchtlichen Stellenwert ein, und auch dem historischen Vergleich zwischen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) erwächst für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eine tragende Rolle. Auf der Basis von zahlreichen ausführlich vorgestellten und diskutierten Filmen[1], unter Rückgriff auf umfangreiche schriftliche Dokumente aus staatlichen, wissenschaftlichen und filmwirtschaftlichen Archiven sowie nicht zuletzt unter Berücksichtigung der breiten öffentlichen Diskussion von Filmen zur Sexualaufklärung, führt die Autorin ihre Leser:innen auf eine dichte und detailreiche Reise in Kinosäle, Kasernen, Schulen und andere Orten, in denen ein oft junges Publikum über vermeintlich richtigen Sex, über Empfängnisverhütung und die Gefahren sexuell übertragbarer Krankheiten unterrichtet werden sollte.

Der Aufbau des Buchs ist chronologisch und orientiert sich an den Zäsuren der deutschen Geschichte; dass das in einer transnationalen Studie zu einer meist auf internationale Kooperation ausgerichteten Filmwirtschaft nicht immer ganz passgenau ist, kalkuliert die Autorin ein. Kapitel eins thematisiert die Anfänge des Sexualaufklärungsfilms und diskutiert dann ausführlich dessen Rolle im Ersten Weltkrieg, als die Sexualität der Frontsoldaten als Gefährdung in den Blick geriet. Zugleich unterstreicht das Kapitel, dass die Entwicklung dieser Aufklärungsfilme von Beginn an in einer engen Beziehung zur Erforschung der Emotionen im Publikum stand.

Das zweite Kapitel über die 1920er-Jahre kreist um Versuche, ein erkennbares Genre-Format für Aufklärungsfilme und deren Konzepte zur Visualisierung von Wissen zu stabilisieren. Diese Bemühungen wurden nicht zuletzt durch internationale Zusammenarbeit vorangetrieben, die allerdings immer auch von nationalen Debatten um Zensur oder politische Vereinnahmung flankiert waren.

Im dritten Kapitel und mit den Filmen des Nationalsozialismus diskutiert Laukötter eine filmische Strategieverschiebung, die sie als „Medialisierung des positiv Emotionalen“ charakterisiert: „Dabei wird deutlich, dass von einer Weimarer Didaktik, die mit Gefühlen wie Angst oder Scham arbeitete, Abstand genommen wurde. […] in dem Soldaten-Film über Geschlechtskrankheiten sollten sie mit dem Angebot eines positiv konnotierten Gefühls überwunden werden“ (S. 197). Das vierte Kapitel zur Besatzungszeit stellt die so genannten atrocity-Filme dieser Jahre, in denen die deutsche Bevölkerung über Scham und Schuld adressiert wurde, in eine produktive Beziehung zum Aufklärungsfilm und fragt so nach einer „Reeducation der Emotionen“ (S. 255ff.) als filmpolitische Strategie der Besatzungsmächte.

Kapitel fünf und sechs verhandeln jeweils ausführlich die Entwicklungen in der Bundesrepublik sowie in der DDR. In diesem Vergleich bis in die 1980er-Jahre hinein betont die Autorin eher systembedingte Unterschiede denn Gemeinsamkeiten, allerdings treten in beiden Staaten und ihren Filmproduktionen deutlich sichtbare Kontinuitätslinien hervor, sowohl bei der wissensvermittelnden Gestalt der Aufklärungsfilme als auch im Versuch der emotionalen Publikumsadressierung.

Sex – richtig! ist eine sehr anregende, kenntnisreiche und inspirierende Studie, das Buch ist aber – das sei der Laufkundschaft vor dem Kölner Schaufenster gesagt – keine leichte Lektüre. Es ist sprachlich sehr formal verfasst und in seinem Bemühen, Kontinuitäten und Wandel über ein ganzes Jahrhundert ausweisen zu wollen, mitunter auch etwas redundant. Die Diskussion von organisationshistorischen Aspekten fällt an manchen Stellen sehr lang aus und verstellt so bisweilen die interessante Sicht auf die Filme, das Publikum und die Diskussion drumherum. Die transnationale Erweiterung ist besonders in den ersten Teilen der Untersuchung eine wichtige und gelungene Horizonterweiterung, sie tritt dann aber in den letzten Kapiteln zu sehr hinter dem deutsch-deutschen Vergleich zurück. Das ändert indes nichts daran, dass Anja Laukötter eine wertvolle Untersuchung vorgelegt hat, die den Sexualaufklärungsfilm als historische Quelle ernst genommen und ihn als lohnendes Objekt einer Emotions- und Wissensgeschichte etabliert hat.

Anmerkung:
[1] Einige für die Studie wichtige Filme hat die Autorin auf dieser Website dokumentiert: https://medfilm.unistra.fr/wiki/Sex_richtig (30.09.2022). Darüber hinaus werden diese und andere Filme an verschiedenen Stellen des Buchs ausführlich eingeführt.

Zitation

Olaf Stieglitz: Rezension zu: Laukötter, Anja: Sex – richtig!. Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino des 20. Jahrhunderts. Göttingen 2021: ISBN 978-3-8353-3898-2, , In: H-Soz-Kult, 14.10.2022, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-97957>.





Re: [Regionalforum-Saar] Buchbesprechung: Sex – r ichtig! Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino des 20. Jahrhunderts

Date: 2022/10/13 20:39:00
From: Stefan Reuter via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>



Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net> schrieb am Do., 13. Okt. 2022, 20:36:

[Es würde mich interessieren, bei wievielen Lesern diese Buchbesprechung im Spam-Ordner landet]


Bei mir jedenfalls nicht ;) 

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Re: [Regionalforum-Saar] Buchbesprechung: Sex – r ichtig! Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino de s 20. Jahrhunderts

Date: 2022/10/13 20:58:06
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

nee, bei mir auch nicht. Hat der Spam-Filter völlig fasagt. 😎

Roland


Am 13.10.2022 um 20:38 schrieb Stefan Reuter via Regionalforum-Saar:


Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net> schrieb am Do., 13. Okt. 2022, 20:36:

[Es würde mich interessieren, bei wievielen Lesern diese Buchbesprechung im Spam-Ordner landet]


Bei mir jedenfalls nicht ;) 

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Re: [Regionalforum-Saar] Buchbesprechung: Sex – r ichtig! Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino des 20. Jahrhunderts

Date: 2022/10/13 20:59:36
From: Stefan Reuter via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Da kannst Du mal sehen, wie verlässlich so ein Filter ist ;) 

Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net> schrieb am Do., 13. Okt. 2022, 20:58:

nee, bei mir auch nicht. Hat der Spam-Filter völlig fasagt. 😎

Roland


Am 13.10.2022 um 20:38 schrieb Stefan Reuter via Regionalforum-Saar:


Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net> schrieb am Do., 13. Okt. 2022, 20:36:

[Es würde mich interessieren, bei wievielen Lesern diese Buchbesprechung im Spam-Ordner landet]


Bei mir jedenfalls nicht ;) 

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Re: [Regionalforum-Saar] Buchbesprechung: Sex – r ichtig! Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino de s 20. Jahrhunderts

Date: 2022/10/13 21:36:25
From: Werner Cappel <wecapp(a)t-online.de>

... bei mir nicht.


Am 13.10.2022 um 20:36 schrieb Roland Geiger via Regionalforum-Saar:

[Es würde mich interessieren, bei wievielen Lesern diese Buchbesprechung im Spam-Ordner landet]

Autor Anja Laukötter,
Erschienen Göttingen 2021: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten 543 S., 129 Abb.
Preis € 46,00
ISBN 978-3-8353-3898-2

Rezensiert für H-Soz-Kult von Olaf Stieglitz, American Studies, Universität Leipzig

In der Kölner Innenstadt gibt es einen Buchladen, zu dessen Alleinstellungsmerkmalen es gehört, eines seiner Schaufenster für „Filmbücher“ zu reservieren. Darin können sich Interessierte stets über ausgewählte Neuerscheinungen in dieser Nische des Buchmarkts informieren, über aufwendig gestaltete Bildbände zu Hollywood Blockbustern ebenso wie über Biografien zu bundesdeutschen Nachkriegsregisseur:innen. In diesem Frühjahr konnte man darin auch ein Exemplar von Anja Laukötters neuem Buch finden. Daran, das ist leider zu vermuten, war der Schutzumschlag nicht ganz unschuldig: Der Titel Sex – richtig! findet sich darauf in riesigen Buchstaben am oberen Rand, und zur Untermauerung seiner verheißungsvollen Ankündigung ist in der unteren Hälfte ein kreisrundes Foto platziert, auf dem Jugendliche zu sehen sind, die gebannt einem Film folgen, den ihnen ein zugeknöpfter Lehrer vorführt. Dem Wallstein Verlag ist zu gratulieren; sein Anliegen, eine über 500 Seiten lange geschichtswissenschaftliche Habilitationsschrift publikumswirksam zu vermarkten, ist beinahe vorbildlich aufgegangen.

Doch auch die Inhalte des Buchs und seine Argumentation rechtfertigen den exponierten Platz im Schaufenster. Der Untertitel – Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino des 20. Jahrhunderts – verspricht womöglich immer noch mehr, als die Autorin tatsächlich anzubieten hat, doch zeigt er Pfade in eine Studie auf, die erhebliche Desiderate in der deutschsprachigen Geschichtsschreibung zur Sexualaufklärung sowie zum Film als Medium der Wissensvermittlung zu beseitigen hilft. Welche Rolle spielten Filme in der Sexualaufklärung im Verlauf des 20. Jahrhunderts? Wie wurden Filme über Reproduktion, Verhütung und vor allem Geschlechtskrankheiten in medizinischen, pädagogischen, moralischen, medientheoretischen oder politischen Debatten wahrgenommen und diskutiert, wie wurden sie in sich wandelnde Kino- und andere Vorführinfrastrukturen platziert, wie wurde die Rezeption durch verschiedene Publika erforscht und zu steuern versucht? Wie waren die Versuche, mit Filmen vermeintlich wissenschaftlich abgesichertes Wissen vermitteln zu wollen, an Emotionen gekoppelt, oft an Vorstellungen von Angst und Scham, bisweilen aber auch an Lust und Freude? In welchem Verhältnis konstruierten diese Filme das Verhältnis von Bevölkerung einerseits und Individuum andererseits; welche Politiken der Subjektivierung lassen sich aufzeigen? Welche privaten, öffentlichen sowie staatlichen Organisationen bemühten sich um filmische Sexualaufklärung, und inwieweit war der Wunsch nach wirkmächtigen Filmen transnational verflochten? Diesen und anderen Fragen geht die Autorin in ihrer quellengesättigten Untersuchung auf mehreren, ineinander verwobenen Ebenen nach, in die sie in ihrer Einleitung umfassend einführt.

Laukötter verortet ihre Arbeit zur Geschichte des Sexualaufklärungsfilms in vier historiografische Forschungsperspektiven. Erstens nimmt sie die These vom 20. Jahrhundert als „Jahrhundert der Bilder“ auf, kennzeichnet ihre Forschung als Teil einer Visual History und fragt danach, wie die Bilder der Aufklärungsfilme „nicht nur Sehpraktiken, sondern auch Einstellungen, Verhalten und Handeln der Menschen“ veränderten (S. 23). Das ist einerseits bemerkenswert, denn bislang finden Filme im Feld der (deutschsprachigen) Forschung zur visuellen Kultur der Dekaden nach 1900 noch immer viel zu wenig Beachtung, auch wenn sich dies in den vergangenen Jahren langsam zu ändern beginnt. Andererseits konzentriert sich die Autorin auf nicht-fiktionale, wissenschaftlich-pädagogische Produktionen – dem Spielfilm und seiner Rolle im Aushandlungsprozess von „richtigem“ oder „falschem“ Sex, der größeren Dimension von Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino des 20. Jahrhunderts, kann und will die Studie nicht nachgehen und verweist so auf die umfangreiche Forschung, die hier in Zukunft noch zu leisten wäre.

Eine besondere Bedeutung kommt der zweiten Perspektive der Studie zu. Die Geschichte der Emotionen gehört gegenwärtig zu den besonders dynamischen Forschungsfeldern, und es ist anregend, die dort diskutierten Zusammenhänge aktiv mit Filmen und Filmrezeptionen in Zusammenhang zu bringen. Eine solche Analyse vermag nicht nur Geschichts- und Filmwissenschaft in einem theoriegeleiteten Rahmen miteinander zu verbinden, sie ermöglicht auch eine dezidiert historische, quellennahe Betrachtung, schließlich haben zahlreiche Autor:innen aus Wissenschaft, Pädagogik und Medienpraxis im Verlauf des Untersuchungszeitraums die Interaktion von Wissensvermittlung und emotionaler Publikumssteuerung zu beleuchten versucht.

Dies steht bereits in engem Verhältnis zur dritten zentralen Forschungsperspektive: Der Wissenschaftshistorikerin ist es ein besonderes Anliegen, „die Entstehung, Produktion und Vermittlung wissenschaftlichen Wissens auch außerhalb des universitären und wissenschaftlichen Rahmens deutlicher in den Blick zu nehmen“ (S. 30). Emotionen, so Anja Laukötter, seien von diesen Praktiken der medial-populären Wissensvermittlung nicht zu trennen, und dem geht sie in den sehr öffentlichen Räumen und Praktiken des Kinos nach.

Viertens schließlich begreift sich die vorliegende Arbeit als eine Geschichte des Körpers und der Sexualität. Auch in diesem Feld soll sich die Analyse filmischer Quellen als besonders ertragreich erweisen, denn in Sexualaufklärungsfilmen „werden Körper visuell umfassend präsentiert, zugleich sind sie Gegenstand von politischen Debatten und Zuschauerforschung […]“ (S. 33). Die Studie ist mithin ein Versuch, Diskurse und Praktiken der Sexualaufklärung über das Medium Film gemeinsam und aufeinander bezogen zu verhandeln.

Dieses Programm setzt die Autorin in einer Langzeitstudie über das ganze 20. Jahrhundert hinweg um, die zwar einen klaren Schwerpunkt auf Entwicklungen in Deutschland legt, diesen aber ausdrücklich transnational unter Berücksichtigung französischer und US-amerikanischer Filme und Debatten erweitert. Insgesamt räumt Anja Laukötter der Verflechtungsgeschichte einen beträchtlichen Stellenwert ein, und auch dem historischen Vergleich zwischen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) erwächst für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eine tragende Rolle. Auf der Basis von zahlreichen ausführlich vorgestellten und diskutierten Filmen[1], unter Rückgriff auf umfangreiche schriftliche Dokumente aus staatlichen, wissenschaftlichen und filmwirtschaftlichen Archiven sowie nicht zuletzt unter Berücksichtigung der breiten öffentlichen Diskussion von Filmen zur Sexualaufklärung, führt die Autorin ihre Leser:innen auf eine dichte und detailreiche Reise in Kinosäle, Kasernen, Schulen und andere Orten, in denen ein oft junges Publikum über vermeintlich richtigen Sex, über Empfängnisverhütung und die Gefahren sexuell übertragbarer Krankheiten unterrichtet werden sollte.

Der Aufbau des Buchs ist chronologisch und orientiert sich an den Zäsuren der deutschen Geschichte; dass das in einer transnationalen Studie zu einer meist auf internationale Kooperation ausgerichteten Filmwirtschaft nicht immer ganz passgenau ist, kalkuliert die Autorin ein. Kapitel eins thematisiert die Anfänge des Sexualaufklärungsfilms und diskutiert dann ausführlich dessen Rolle im Ersten Weltkrieg, als die Sexualität der Frontsoldaten als Gefährdung in den Blick geriet. Zugleich unterstreicht das Kapitel, dass die Entwicklung dieser Aufklärungsfilme von Beginn an in einer engen Beziehung zur Erforschung der Emotionen im Publikum stand.

Das zweite Kapitel über die 1920er-Jahre kreist um Versuche, ein erkennbares Genre-Format für Aufklärungsfilme und deren Konzepte zur Visualisierung von Wissen zu stabilisieren. Diese Bemühungen wurden nicht zuletzt durch internationale Zusammenarbeit vorangetrieben, die allerdings immer auch von nationalen Debatten um Zensur oder politische Vereinnahmung flankiert waren.

Im dritten Kapitel und mit den Filmen des Nationalsozialismus diskutiert Laukötter eine filmische Strategieverschiebung, die sie als „Medialisierung des positiv Emotionalen“ charakterisiert: „Dabei wird deutlich, dass von einer Weimarer Didaktik, die mit Gefühlen wie Angst oder Scham arbeitete, Abstand genommen wurde. […] in dem Soldaten-Film über Geschlechtskrankheiten sollten sie mit dem Angebot eines positiv konnotierten Gefühls überwunden werden“ (S. 197). Das vierte Kapitel zur Besatzungszeit stellt die so genannten atrocity-Filme dieser Jahre, in denen die deutsche Bevölkerung über Scham und Schuld adressiert wurde, in eine produktive Beziehung zum Aufklärungsfilm und fragt so nach einer „Reeducation der Emotionen“ (S. 255ff.) als filmpolitische Strategie der Besatzungsmächte.

Kapitel fünf und sechs verhandeln jeweils ausführlich die Entwicklungen in der Bundesrepublik sowie in der DDR. In diesem Vergleich bis in die 1980er-Jahre hinein betont die Autorin eher systembedingte Unterschiede denn Gemeinsamkeiten, allerdings treten in beiden Staaten und ihren Filmproduktionen deutlich sichtbare Kontinuitätslinien hervor, sowohl bei der wissensvermittelnden Gestalt der Aufklärungsfilme als auch im Versuch der emotionalen Publikumsadressierung.

Sex – richtig! ist eine sehr anregende, kenntnisreiche und inspirierende Studie, das Buch ist aber – das sei der Laufkundschaft vor dem Kölner Schaufenster gesagt – keine leichte Lektüre. Es ist sprachlich sehr formal verfasst und in seinem Bemühen, Kontinuitäten und Wandel über ein ganzes Jahrhundert ausweisen zu wollen, mitunter auch etwas redundant. Die Diskussion von organisationshistorischen Aspekten fällt an manchen Stellen sehr lang aus und verstellt so bisweilen die interessante Sicht auf die Filme, das Publikum und die Diskussion drumherum. Die transnationale Erweiterung ist besonders in den ersten Teilen der Untersuchung eine wichtige und gelungene Horizonterweiterung, sie tritt dann aber in den letzten Kapiteln zu sehr hinter dem deutsch-deutschen Vergleich zurück. Das ändert indes nichts daran, dass Anja Laukötter eine wertvolle Untersuchung vorgelegt hat, die den Sexualaufklärungsfilm als historische Quelle ernst genommen und ihn als lohnendes Objekt einer Emotions- und Wissensgeschichte etabliert hat.

Anmerkung:
[1] Einige für die Studie wichtige Filme hat die Autorin auf dieser Website dokumentiert: https://medfilm.unistra.fr/wiki/Sex_richtig (30.09.2022). Darüber hinaus werden diese und andere Filme an verschiedenen Stellen des Buchs ausführlich eingeführt.

Zitation

Olaf Stieglitz: Rezension zu: Laukötter, Anja: Sex – richtig!. Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino des 20. Jahrhunderts. Göttingen 2021: ISBN 978-3-8353-3898-2, , In: H-Soz-Kult, 14.10.2022, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-97957>.






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Re: [Regionalforum-Saar] Buchbesprechung: Sex – r ichtig! Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino de s 20. Jahrhunderts

Date: 2022/10/14 06:15:41
From: Joerg Weinkauf via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Nö! Bei mir nicht.

Am 13.10.2022 um 20:36 schrieb Roland Geiger via Regionalforum-Saar:
[Es würde mich interessieren, bei wievielen Lesern diese Buchbesprechung im Spam-Ordner landet]

Virenfrei.www.avast.com

Re: [Regionalforum-Saar] Buchbesprechung: Sex – r ichtig! Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino de s 20. Jahrhunderts

Date: 2022/10/14 10:15:52
From: anneliese.schumacher(a)t-online.de <anneliese.schumacher(a)t-online.de>

Wird normal angezeigt.

 

 

 

-----Original-Nachricht-----

Betreff: Re: [Regionalforum-Saar] Buchbesprechung: Sex – richtig! Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino des 20. Jahrhunderts

Datum: 2022-10-14T06:15:50+0200

Von: "Joerg Weinkauf via Regionalforum-Saar" <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

An: "Roland Geiger via Regionalforum-Saar" <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

 

 

 

Nö! Bei mir nicht.

Am 13.10.2022 um 20:36 schrieb Roland Geiger via Regionalforum-Saar:
[Es würde mich interessieren, bei wievielen Lesern diese Buchbesprechung im Spam-Ordner landet]

Virenfrei.www.avast.com


[Regionalforum-Saar] Eine preußische Familie

Date: 2022/10/30 21:36:07
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Eine preußische Familie
Aus den Lebenserinnerungen von Hermann und Margarete Sommer

Edition: Roland Geiger

Hermann Sommer (1882-1945) war preußischer Landrat in St. Wendel in der schweren Zeit von 1917-1919. Als er sich den französischen Besatzern nicht beugte, mußte er St. Wendel verlassen. Er wurde Landrat in Pyritz an der heutigen polnischen Grenze, dann Kurator in Halle und Greifswald, ab 1934 Richter in Berlin. Kurz vor Kriegsende schickte er seine Frau nach Warendorf in Sicherheit.
In ihren Erinnerungen berichten die Eheleute Sommer von ihrer Familie, ihren Freunden (darunter der Maler Kurt Preiss), ihrem Leben in Deutschland. Und von Margaretes Suche nach ihrem Ehemann, der seit seiner Verhaftung durch die Russen 1945 in Berlin spurlos verschwunden ist. Ihre Schilderungen reichen über den schwierigen Neuanfang in Berlin bis zur zweiten Saarabstimmung 1955.
Die Schilderungen wurden ergänzt um Unterlagen aus dem Archiv der Uni Greifswald, u.a. Sommers Doktorarbeit. Eine Zustammenstellung der Sommerschen Vorfahren aus seiner eigenen Hand, Kurzbiografien zahlreicher genannter Personen sowie eine kurze Autobiographie seines Fahrers, Adam Dallinger.

Format A5, 367 Seiten, broschiert.
Etliche Schwarzweiß-Abbildungen
Gewicht 600 Gramm

Preis: 15 Euro (plus Versand: im Inland 3,50 Euro).

Bestellungen bitte direkt an mich: alsfassen(a)web.de
 
Mit freundlichen Grüßen

Roland Geiger

--------------------

Roland Geiger
Historische Forschung
Alsfassener Straße 17, 66606 St. Wendel
Tel. 06851-3166
email alsfassen(a)web.de
www.hfrg.de

 

[Regionalforum-Saar] Vorgestern in St. Wendel 2023

Date: 2022/10/31 10:55:04
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Guten Morgen,

auch in diesem Jahr habe ich für das kommende Jahr einen neuen Kalender zusammengestellt, der Sie mit alten Ansichten von St. Wendel durch 2023 begleiten soll.

Vorn auf dem Deckel wird der Betrachter von sechs Männern jüngeren bis mittleren Alters begrüßt, die sich von Alsfassen aus auf dem Weg in die Stadt machen, um die alten Ansichten vor Ort zu genießen. Zu ihnen gehört u.a. Eduard Kornbrust, der Vater des Bildhauers.

Es gibt u.a. zwei Aufnahmen der Bahnhofstraße, eine aus den 1960ern, als die Straße noch in zwei Richtungen befahrbar war, und eine aus der Zeit kurz nach der Jahrhundertwende, auf der nur behütete Fußgänger und nicht ein Fahrzeug zu sehen ist, allerdings auch keine der heutigen Banken. Die in diesem Jahr abgerissene Paque-Brauerei im Wingert ist auf drei Aufnahmen zu sehen, einmal sogar in bunt, aber immer dezent im Hintergrund. Die Luftaufnahme über die Kelsweilerstraße auf die Stadt bedarf eines Vergrößerungsglases, um Details zu erkennen; dafür kann darauf die Synagoge finden, wer weiß, wo sie oder er suchen muß.

Zu jedem Monatsbild gibt’s eine kurze Beschreibung auf zusätzlichen zwei Seiten direkt hinter dem Titelbild.

Der Kalender erscheint hochkant in A4 auf 300-Gramm-Papier und kann für 20 Euro in St. Wendel in den Buchhandlungen Klein und Bastuck sowie im Brunnenlädchen erworben werden. Oder direkt beim Herausgeber (Roland Geiger, alsfassen(a)web.de).

Mit freundlichen Grüßen

Roland Geiger

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Roland Geiger
Historische Forschung
Alsfassener Straße 17, 66606 St. Wendel
Tel. 06851-3166
email alsfassen(a)web.de
www.hfrg.de

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