H. Richter: Demokratie. Eine deutsche Affäre
Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart
von Hedwig Richter
Erschienen München 2020: C.H.
Beck Verlag
Anzahl Seiten 400 S.
Preis € 26,95
ISBN 978-3-406-75479-1
Inhalt meinclio.clio-online.de/uploads/media/book/toc_book-58838.pdf
Rezensiert für H-Soz-Kult von Christian Jansen, Neuere und Neueste
Geschichte,
Universität Trier
Dieses Buch zielt auf ein breites Publikum und eine große
Medienresonanz. Das
Verlagskonzept ist aufgegangen. Die Autorin erhielt den Anna
Krüger Preis für
„gute und verständliche Wissenschaftssprache“ des
Wissenschaftskollegs zu
Berlin – Laudator war Wolfgang Schäuble. „Demokratie. Eine
deutsche Affäre“
stand im Oktober 2020 auf Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste von
ZDF, ZEIT und
Deutschlandfunk Kultur; inzwischen ist die dritte Auflage in den
Läden. Hedwig
Richter, Professorin an der Universität der Bundeswehr München,
erzählt die
Geschichte der Demokratie seit der Aufklärung, also die
„Inklusionsrevolution“
(Rudolf Stichweh), in der immer mehr Menschen politisch
mitbestimmen durften.
Die Autorin definiert „Demokratie“ als „ein Projekt von
Gleichheit, Freiheit
und Gerechtigkeit“ (S. 10). Richter verteidigt die Demokratie ohne
Wenn und
Aber. Sie macht deutlich, dass Krisen immer zur Demokratie dazu
gehör(t)en,
plädiert für Gelassenheit, Geduld und Pragmatismus. In der
Grundstruktur ist
ihre Argumentation teleologisch. Denn das Ausmaß an Gleichheit,
Freiheit und
Gerechtigkeit, das derzeit in Deutschland erreicht sei, bedeute
einen Höhepunkt
der historischen Entwicklung.
Für Richter handelt es sich beim „normative[n] Projekt der
Demokratie“ (S. 10)
um „eine Geschichte, die den ganzen Menschen mit Leib und Seele
betrifft. Sie
ist voller Gefühle“ (S. 11). Damit hat Richter ihren innovativen
Ansatz
benannt: Demokratiegeschichte mit Fokus auf Körper- und
Gefühlsgeschichte. Vier
„Thesen“ skizzieren den Gang ihrer Argumentation: Demokratie sei
(erstens)
vorwiegend von „Eliten“ durch (zweitens) Reformen gefördert
worden.
Revolutionen hätten der Entwicklung der Demokratie meist geschadet
– außer
1848/49 und 1989/90. Drittens sei Demokratiegeschichte „wesentlich
eine Geschichte
des Körpers, seiner Misshandlung, seiner Pflege, seines Darbens –
und seiner
Würde“ (S. 13). Für Richter ist die entscheidende Voraussetzung
für (moderne)
Demokratie und die Idee der Gleichheit, dass die Menschen den
Körpern ihrer
Mitmenschen Respekt zollten und „Folter und Prügelstrafen nicht
mehr als
Unterhaltungsspektakel, sondern als widerlich, schließlich sogar
als Skandal“
empfanden (S. 14). In dieser These steckt der originelle Kern von
Richters
Buch. Die vierte These ist wieder so wenig originell wie die
ersten beiden:
Demokratiegeschichte sei „eine internationale Geschichte“ (S. 15).
Statt den Zusammenhang zwischen Körper, Gender und
Demokratisierung in seinen
Ambivalenzen historisch herzuleiten und zu veranschaulichen,
plustert Richter sich
auf und provoziert Widerspruch. So behauptet sie ohne jeden Beleg,
„die
Geschichtswissenschaft“ tendiere dazu, „Demokratie national zu
erzählen“ (S.
15). Die historischen Bücher, die zuletzt auf Deutsch zum Thema
erschienen
sind, tun dies jedenfalls nicht: weder Ute Daniel in ihrer
„Postheroischen
Demokratiegeschichte“ (2020) noch Richter selbst in ihrer
Habilitationsschrift
(Buchfassung 2017), weder Luciano Canfora (2013) noch Paul Nolte
(2012) oder
Pierre Rosanvallon (2006). Richter hat sie alle gelesen, greift
aber zu der
alten Machostrategie, sich mit der wortstarken Revision eines
längst überholten
Forschungsstandes interessant zu machen. An anderer Stelle fordert
sie eine
stärkere Berücksichtigung der Frauen in der Geschichte der
Revolution(en) 1848/49
(S. 83), ignoriert aber die einschlägigen Arbeiten von Carola
Lipp, Gabriella
Hauch, Marion Freund und anderen.
Auch methodisch geht Richter Wege, die beim Fachpublikum auf
Vorbehalte treffen
dürften. Ganz pandemiekompatibel präsentiert sie „die Affäre der
deutschen
Demokratie als eine Serie – mit allen menschlichen Abgründen. […]
eine
Modernisierungserzählung, deren Stoff Fiktionen, Wahrheiten und
auch Zufälle
sind. […] eine leidenschaftliche, optimistische Chronologie […],
in deren Herz
der Zivilisationsbruch des Holocaust steckt. Es ist keine
geradlinige
Geschichte, deren Ende feststeht. Ganz im Gegenteil. Die Affäre
geht weiter.
Die nächste Staffel folgt“ (S. 18). Dieser letzte Absatz der
Einleitung zeigt
vier Charakteristika des Buchs, die aus wissenschaftlicher Sicht
gravierende
Schwächen sind, zugleich aber dessen Erfolg (mit)erklären:
Banalitäten, schräge
Metaphern, emotionaler Überschwang und Geschichtsschreibung als
leicht
konsumierbare „Serie“ (die 326 Textseiten sind unterteilt in meist
1-3 Seiten
lange Kapitelchen). Der Versuch, journalistisch zu schreiben,
führt zu
Stilblüten, etwa über die Französische Revolution: „Politik hatte
sich von den
Fürstenhöfen aufgemacht und die Herzen der Bürger und Bürgerinnen
erreicht“ (S.
27); oder über 1914: „Der Kriegsbeginn offenbarte eine unheimliche
Gewalt von
Demokratie“ (S. 175).
Ein weiteres Problem ist Richters unscharfe Terminologie. Zu
nennen sind: (1)
fragwürdige Kategorien und Bewertungen wie „progressiv“ und
„fortschrittlich“,
ohne zumindest die Messlatte solcher Bewertungen offenzulegen; (2)
Staaten,
Völker oder gar Revolutionen als Akteure, was zwar häufig zu
lesen, aber keine
vorbildliche Wissenschaftssprache ist; und (3) der diffuse
Gebrauch von
zentralen Kategorien des Buchs, etwa „Nation“ (meist ohne
Artikel), zum
Beispiel „Nation ergab sich geradezu notwendig aus den
Demokratisierungsprozessen“ (S. 199). Ist mit „Nation“ der
Nationalstaat
gemeint oder der Nationalismus? Die Nationalismusforschung,
insbesondere die
Ambivalenz von „Volk“ als demos und ethnos, die für die
Entwicklung der
modernen Demokratie fundamental ist, wird weitgehend ignoriert.
„Demokratie. Eine deutsche Affäre“ gliedert sich in fünf Kapitel.
Das erste
behandelt die Zeit der Aufklärung und der Französischen
Revolution. Mitleid sei
ein „Kind der Aufklärung“ und „nährte die Idee der Gleichheit“ (S.
21). Damit
ist Richter bei der Politik, wo sie die Impulse übergeht, die für
die deutsche
Demokratie aus Frankreich kamen, und einen deutschen Sonderweg
postuliert: Seit
der Spätaufklärung habe sich hier die Verehrung für die Germanen
mit „neuen
Ideen von Gleichheit und Menschlichkeit“ verbunden. „Patriotismus
galt vielen
als urdeutsches Phänomen und Demokratie als eine deutsche Affäre“
(S. 29). In
der Fußnote zu dieser erneut diffusen Aussage (wer sind die
„vielen“?) stehen
nur Belege, die nicht passen: eine Stelle in Steffen Martus'
„Aufklärung“
(2015) und eine in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ (1972), wo
es zwar um
Autoren wie Gervinus und Bluntschli geht, die die „deutsche“
Demokratie auf
mittelalterliche „Genossenschaften“ und auf den Geist des
Protestantismus und
Calvinismus zurückführten und von der antiken Tradition
abgrenzten. Diese
Herleitungen einer „deutschen“ Demokratie stammen aber aus den
1850er-Jahren,
also nach der nationalistischen Fundamentalpolitisierung in den
Revolutionen
von 1848/49, und nicht aus dem Kontext, in den Richter sie stellt.
Das zweite und dritte Kapitel behandeln das bürgerliche „Projekt“
(dieses
Modewort kommt auf jeder zweiten Seite vor) sowie die damit
verbundenen
Inklusionen und Exklusionen mit Schwerpunkten auf der Zeit der
europäischen
Revolutionen 1847–1849 und der „Reformzeit“ um 1900. Durch die
Betonung von
Gender-Ungerechtigkeit und körpergeschichtlichen Aspekten bietet
das Buch hier
anregende Erkenntnisse. Da für bürgerlich-kapitalistische
Gesellschaften das
Eigentum und damit verbundene Rechte fundamental sind, fragt
Richter immer
wieder, wem ein Körper „gehörte“. Für Frauen bestand die Exklusion
darin, dass
der Ehemann oder Vater über ihren Körper verfügen, sie züchtigen
durfte, dass
zudem ihre Freizügigkeit eingeschränkt war. Die „Demokratisierung
des
Mitgefühls“, die solche Exklusionen erkennt und kritisiert,
verlaufe parallel
zur politischen Demokratisierung. Die oft sprunghafte
Argumentation stellt
manch erhellende Zusammenhänge her, es zeigen sich aber auch
erstaunliche
Lücken. Das Hambacher Fest 1832 wird in seiner Bedeutung als erste
demokratisch-nationalistische Massendemonstration nicht gewürdigt,
deren
Veranstalter zudem Frauen ausdrücklich einluden. August Bebel als
Vorkämpfer
des Frauenwahlrechts wird zeitlich falsch situiert.
Unter der eigentümlichen Überschrift „Ambiguitätstoleranz des
verfassten
Staates“ integriert Richter die Gründung des Norddeutschen Bundes
und Deutschen
Reichs mit der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts in ihr
Fortschrittsnarrativ, macht es jedoch durch unklare Begriffe
(Ambiguitätstoleranz) und Aussagen ohne klaren historischen Bezug
(z.B. S. 133
über Parlamente) wieder schwer, ihre Argumente nachzuvollziehen.
Über die
Verfassung von 1867 heißt es: „Ein Grundrechteteil wie in der
Paulskirchenverfassung von 1849 fehlte, weil man nicht wie 1848/49
übermäßig
lange über sie diskutieren wollte“ (S. 134). In der einschlägigen
Literatur
lässt sich nachlesen, dass Bismarck das verhindert hat, der aber
in Richters
harmonistischer Erzählung fast nur als Begründer des Sozialstaats
und nicht als
erbitterter Gegner von Parlamentarisierung und Grundrechten
auftaucht. Sie behauptet
(mit Thomas Nipperdey) im Widerspruch zum Text der
Reichsverfassung und den
meisten Expert:innen, es sei „eine von Bismarck in die Welt
gesetzte Legende“
(S. 135), dass das Deutsche Reich ein Fürstenbund war. Richter
lässt offen, was
es stattdessen gewesen sein soll. Dass der Reichstag kaum
Kompetenzen hatte,
bleibt unerwähnt. In ihrer Aufzählung, was dort diskutiert wurde,
nennt Richter
„den immer größer werdenden Bereich des Sozialen“, eine Seite
später: das Reich
sei „zunehmend zum Sozialstaat geworden“ (S. 135f.). Das ist alles
vereinfachend von heute gedacht, ohne historische
Kontextualisierung und ohne
Berücksichtigung der aktuellen Forschung – in den Fußnoten wird
mit Abstand am
häufigsten Nipperdeys dreibändige „Deutsche Geschichte“
(1983–1992) zitiert.
Während für Nipperdey das Kaiserreich ein „Machtstaat vor der
Demokratie“ war,
bezeichnet Richter es als Demokratie (S. 186: Überschrift).
Gemessen an ihrer
zitierten Definition erscheint das als verfehlt – trotz
allgemeinem
(Männer-)Wahlrecht und Anfängen von Sozialpolitik, deren Bedeutung
Richter weit
überschätzt.
Das vierte Kapitel behandelt die Epoche der Weltkriege. Richters
plausible
Grundthese ist hier, dass Kriege die Demokratisierung befördert
hätten – nur um
welchen Preis! Und: war es nicht doch eine Revolution, die den
tapfer an der
„Heimatfront“ durchhaltenden Frauen das Wahlrecht bescherte?
Instruktiv ist der
Vergleich zwischen den Friedensverhandlungen in Wien 1815 und in
Versailles
1919, der verdeutlicht, was die „neue Macht der Öffentlichkeit“
(S. 200)
bewirkt hatte. Das „Dritte Reich“ wird recht knapp behandelt. Dass
die
„willigen Deutschen“ (S. 211) ihre Affäre mit der Demokratie
beendeten, passt
schlecht in Richters Fortschrittsnarrativ. Im mit Abstand längsten
Teilkapitel
(S. 230–238) analysiert sie mit ungewöhnlich vielen und präzisen
Fußnoten
„Parlament und Wahlen im Nationalsozialismus“. Der
Nationalsozialismus und
andere „massenpartizipative Diktaturen“ (S. 233) wie Bolschewismus
oder
Fascismo inszenierten sich als Demokratien.
Das letzte Kapitel gilt der „unwahrscheinlichen“, aber
erfolgreichen
„Demokratie nach dem Nationalsozialismus“. Während Richter die
Gründung der
Bundesrepublik und ihrer Institutionen mit viel Empathie
schildert, besonders
für die beteiligten Frauen, wird die Darstellung im Teilkapitel
„Der befreite
Körper“ wild assoziativ. Auf nur 10 Seiten (S. 284–294) behandelt
sie die
Geschlechterordnung in der frühen Bundesrepublik, die beengten
Lebensverhältnisse, das „Wunder der Wirtschaft“ , die Abkehr der
SPD vom
Klassenkampf, Großsiedlungen der „Neuen Heimat“, Wohlstand in der
DDR,
Vergewaltigung in der Ehe, Frauenemanzipation, eine Tabelle zur
Wahlbeteiligung
in der Bundesrepublik 1949–2017, eine Abbildung der weiblichen
Geschlechtsorgane aus dem „Frauenhandbuch“ (1972), Brandts
Demokratisierungsprogramm, Jugendprotest gegen Kapitalismus und
Kirche sowie
die Pille. Richter widerspricht der verbreiteten These von der
Westernisierung
Deutschlands seit 1945: „Demokratie war immer auch eine deutsche
Affäre. Die deutsche
Geschichte ist kein Weg nach Westen. Deutschland war stets ein
Teil des
Westens“ (S. 325). Und die DDR?!
Im Ausblick mit dem poetischen Titel „Eine Affäre von Krise und
Glück“ versucht
Richter in einem Schaubild (S. 316) ihre Teleologie vom Siegeszug
der
Demokratie zu untermauern. Unter Verweis auf die NGO Freedom House
– erneut
ohne Quellenangabe – präsentiert sie eine Kurve, in der 1945–2018
die Zahl der
Demokratien kontinuierlich von 12 auf 99 gewachsen sei. Auf der
Website von
Freedom House steht jedoch: „2019 was the 14th consecutive year of
decline in
global freedom“.[1] Erneuter Befund: Die Mut
machende
Botschaft hält einer (quellen)kritischen Überprüfung nicht stand.
Das Genre des populären historischen Überblicks, der mehr auf
Talkshows und
Bestsellerlisten als auf ein Fachpublikum zielt, ist normalerweise
von alten
Männern besetzt. Insofern ist Richters Erfolg ein Zeichen der
Demokratisierung.
Ich hätte mir nur gewünscht, dass dieser Durchbruch mit einem
überzeugend
historisch argumentierenden Buch ohne die zahllosen, hier nur
knapp umrissenen
inhaltlichen und handwerklichen Fehler[2] gelungen wäre. Und die
Juror:innen der
Bestenlisten und Buchpreise sollten wieder genauer und kritischer
lesen!
Anmerkungen:
[1]https://freedomhouse.org/explore-the-map?type=fiw&year=20202020
(30.01.2021).
[2] Die ursprüngliche Rezension
mit detaillierteren
Nachweisen musste für den bei H-Soz-Kult üblichen Rahmen stark
gekürzt werden.
Die Langfassung findet sich unter https://www.academia.edu/45011956
(30.01.2021).
Zitation
Christian Jansen: Rezension zu: Richter, Hedwig: Demokratie. Eine
deutsche
Affäre. München 2020. ISBN 978-3-406-75479-1, In: H-Soz-Kult,
09.02.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-49883>.
|