„Was soll aus uns werden?“. Zur Geschichte des
Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens im
nationalsozialistischen Deutschland
Herausgeber Regina Grundmann, Bernd J. Hartmann, Daniel
Siemens;,;,
Erschienen Berlin 2020: Metropol
Verlag
Anzahl Seiten 240 S.
Preis € 22,00
ISBN 978-3-86331-530-6
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Rezensiert für H-Soz-Kult von Hendrik Schemann, Historisches
Institut,
Universität Duisburg-Essen
Der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV,
1893–1938),
die mitgliederstärkste Organisation des deutschen Judentums,
erregt seit dem
Wiederauffinden des Archivs der Berliner CV-Zentrale in den
1990er-Jahren
zunehmend die Aufmerksamkeit von internationalen Forscher/innen.
Ein Großteil
dieses Quellenkorpus lag den Autor/innen für diesen Sammelband
digitalisiert
vor. Das Interesse des Bandes richtet sich auf die letzte Phase
der Existenz
des CV und damit auf ein Spannungsfeld, das von dem Wunsch einer
Symbiose von
Deutschtum und Judentum auf der einen Seite und von zunehmender
antisemitischer
Repression auf der anderen Seite geprägt war. Die sechs Beiträge
fokussieren
auf verschiedenste Aspekte der Vereinsarbeit, die bisher in
Arbeiten über das
deutsche Judentum „vergleichsweise knapp abgehandelt oder ganz
ausgelassen
werden“ (S. 7). Programmatisch ist der Titel des Werkes, der auf
das zunehmend relevant
werdende Problem der prinzipiellen Zukunftsungewissheit der
deutschen Jüdinnen
und Juden sowie auf die zahlreichen Gestaltungsentwürfe und
-versuche verweist.
Daniel Siemens beleuchtet das angesprochene Spannungsfeld, den
Wandel der
CV-Ideologie und ihrer Bedeutung ab dem Jahr 1933. Siemens
plädiert dafür, die
Geschichte des CV weder teleologisch noch ausschließlich
ideologisch-politisch
zu betrachten. Vielmehr müssten programmatische Positionen mit den
„praktischen
Fragen der alltäglichen Arbeit des Vereins“ (S. 22) in Beziehung
gesetzt und
die Frage gestellt werden, was zu welchem Zeitpunkt sinnvoll und
möglich
schien. Damit formuliert Siemens die gewinnbringende Perspektive
des Bandes.
Ihm gelingt es, durch Zuschriften von der Vereinsbasis die
Differenzen und
Wechselwirkungen zwischen öffentlich kommunizierten Positionen,
praktischer
Handlung und internen Debatten aufzuzeigen. Die ursprüngliche
Vereinsidee
geriet zunehmend unter Druck und dies führte dazu, dass der CV
kaum noch
Anerkennung für „seine programmatisch-visionären Stellungnahmen“
(S. 41),
sondern eher für die praktische Arbeit erhielt. Hieran lässt sich
erkennen,
dass die CV-Verantwortlichen Perspektiven ablehnten, die auf eine
Unmöglichkeit
jüdischer Zukunft in Deutschland verwiesen. Trotzdem verschob sich
die Arbeit
zunehmend in Richtung eines eher pragmatischen
Gegenwartsmanagements.
Anna Ullrich hinterfragt die Dichotomie von „Abwehr- oder
Gesinnungsverein“[1] anhand der Analyse des
Erwartungsmanagements des Vereins im Hinblick auf Kontakte mit der
christlichen
Mehrheitsbevölkerung im CV-Rahmen. Es gelingt ihr aufzuzeigen,
dass dieses
Verhältnis innerhalb des Vereins als hoch fragil wahrgenommen
wurde. Das
kritische Bewusstsein der Vereinsakteur/innen um Chancen und
Grenzen solcher
Kontakte spiegelte sich dabei in der kommunizierten niedrigen
Erwartungshaltung
der CV-Zentrale gegenüber seinen Mitgliedern. Besonders
aufschlussreich sind
ihre Betrachtungen über die Boykotte in der Provinz aus den
Berichten der
Ortsgruppen. Diese zeichneten oftmals ein Bild einer lokalen
Bevölkerung, die
gegenüber den Boykotten eine Ablehnungshaltung kommunizierte, ohne
jedoch
selbst aktiv für die Betroffenen einzutreten. All diese Berichte
legten aus
CV-Sicht den Schluss nahe, dass von der nichtjüdischen Bevölkerung
trotz aller
Solidaritätsbekundungen keine Hilfe zu erwarten war. Dennoch
wurden diese
Kontakte nicht grundsätzlich in Frage gestellt, weshalb es, so
Ullrich, keinen
Widerspruch darstellte, „gleichzeitig als ‚Abwehrverein‘ und
‚Gesinnungsverein‘
zu agieren“ (S. 79).
Thomas Reuß konzentriert sich in seiner Mikrostudie auf den CV im
oberschlesischen Beuthen, welches 1922 bis 1937 in den
Geltungsbereich des
„Genfer Abkommens“ fiel. Der Weg von der Gründung eines lokalen
Aktionsausschusses, der die Einhaltung des „Abkommens überwachen“
(S. 88) und
gegebenenfalls Maßnahmen einleiten sollte, bis hin zu einer
fruchtbaren
Zusammenarbeit zwischen Zionist/innen und CV-Mitgliedern, dessen
Höhepunkt die
Errichtung einer gemeinschaftlichen Wirtschaftsberatungsstelle
darstellte, wird
anhand von Beispielen aus der praktischen Tätigkeit beleuchtet.
Reuß weist
darauf hin, dass sich die lokalen CV-Mitglieder, „dem eigenen
Selbstverständnis
treu bleibend“ (S. 123), nicht auf die im Abkommen verankerten
Minderheitenrechte beriefen. Vielmehr waren ähnliche Strategien,
wie sie der CV
im gesamten Reich anwandte, zu beobachten und verdeutlichen damit
die
entschlossene Vertretung programmatischer CV-Positionen in einem
hochspezifischen Handlungskontext.
Ein Beispiel der Abwehrarbeit des Vereins bearbeitet Regina
Grundmann mit Blick
auf zwei apologetische Schriften, die sich gegen Angriffe auf
jüdische
Traditionsliteratur richteten. Ausgehend vom „Stürmer-Prozess“
1929, betritt
sie dabei ein Feld, welches von scheinbar ambivalenten Positionen
innerhalb des
CV geprägt war: Einerseits sollte die religiöse Gesinnung eine
individuelle
Entscheidung bleiben, aber andererseits erkannten die
Verantwortlichen im
Verein auch einen direkten Angriff auf die Emanzipation. Demnach
herrschte zwar
in der Berliner Zentrale Einigkeit über den Handlungsbedarf, aber
Uneinigkeit
über die Form und Umsetzung, was mitunter auch an mangelnder
Kenntnis der
Materie durch die Mitglieder festzumachen war. Ihr gelingt es
nachzuweisen,
dass im Verein zwar entschlossen gehandelt wurde, man sich aber
wiederkehrend
die Frage stellte, ob diese Abwehr- und Aufklärungsarbeit den
gewünschten
Nutzen überhaupt erzielen könnte, wodurch sich der Wechsel des
Verwendungszwecks der Schriften nachvollziehen lässt. Diese
richteten sich ab
1933 nicht mehr primär gegen antisemitische Angriffe und auf die
Aufklärung der
christlichen Bevölkerung, sondern vielmehr auf eine Konstituierung
einer „positive[n]
jüdische[n] Identität“ (S. 153). Grundmann trifft den Kern einer
Debatte, die
den CV prägte und zu einer Doppelstrategie führte: Abwehr nach
außen und
Aufklärung nach innen unter Reflexion der gegenwärtigen
Verhältnisse. Demnach
erkennt Grundmann einen wesentlichen Beitrag des CV zur „jüdischen
Renaissance“
(S. 153).
Martin Herholz stellt die Jugendarbeit des CV in das Zentrum
seines Interesses,
indem er den Bund deutsch-jüdischer Jugend, sein Entstehen und
seine
Entwicklung nachzeichnet. Hier werden die anhaltenden Bemühungen,
Zukunftsperspektiven zu bieten, anhand der Jugendarbeit greifbar.
Es ist
bezeichnend, dass sich die Verantwortlichen einerseits früh der
Notwendigkeit
dieses Arbeitsfeldes bewusst waren, jedoch andererseits erst
verhältnismäßig spät
die Einsetzung eines Jugendausschusses beschlossen; dies hingegen
nicht als
Reaktion auf die erstarkenden zionistischen Jugendbewegungen,
sondern vielmehr
aufgrund einer drohenden „roten Assimilation“ (S. 164) der Jugend.
Die
Jugendarbeit verdeutlicht dabei den Rückzug in Handlungsräume, die
sich durch
zunehmende staatliche Verfolgung verkleinerten.
Der letzte Beitrag von Frank Wolff beschäftigt sich mit dem
nicht-zionistischen
Auswanderungsgut Groß-Breesen, welches unter Federführung des CV
entstand.
Wolff geht dabei der Frage nach, inwiefern die Emigrationspolitik
des CV als
verspätet betrachtet und der Verein seinen ideologischen
Ansprüchen im Lehrplan
gerecht wurde beziehungsweise werden konnte. Er weist auf die
frühen Versuche
hin, Zionist/innen mit in die Schaffung der Schule einzubeziehen,
was
ablehnende Verlautbarungen durch sie nicht verhindern konnte.
Wolff gelangt
über die Gründungsgeschichte des Gutes zu dem Kernproblem des
Lehrplans,
welches in dem Verständnis eines deutschen Judentums lag, das sich
„nicht mehr
auf das Deutschsein beziehen konnte und durfte“ (S. 220) und
dessen jüdische
Komponente keineswegs so selbsterklärend war, wie von seinen
Vereinsgründern
gedacht. Die Hoffnungen derjenigen, die in dem Projekt die Chance
einer
„Rettungskapsel der deutsch-jüdischen Identität“ (S. 211) sahen,
wie es Kurt
Bondy, Leiter der Schule formulierte, verdeutlichen das
komplizierte Dilemma.
Dies, die Fehleinschätzung im Hinblick auf potenzielle
Emigrationsziele und das
Fehlen einer „Vision der jüdischen Zukunft, wie sie der Hechaluz
vorlebte“ (S.
222), seien die gravierendsten Schwächen des Gutes gewesen.
Durch die Zusammenstellung der Beiträge gelingt es den
Herausgeber/innen, das
Bild einer entschlossenen deutsch-jüdischen Interessensvertretung
in Zeiten
größter Bedrängnis zu zeichnen, in welcher sich der
Bewahrungswille des
deutschen Judentums manifestierte. Die im Band vertretene
Doppelperspektive auf
Praxis und Ideologie kann auch aufgrund des neuen Quellenmaterials
besonders
gewinnbringend entfaltet werden. Hiermit werden
Forschungspositionen revidiert,
die sich oftmals zu sehr am öffentlichen Diskurs und weniger an
den
vereinsinternen Aushandlungsprozessen orientierten. Es wäre in
diesem
Zusammenhang wünschenswert gewesen, das in den Beiträgen
omnipräsente Problem
der Selbstzensur auch explizit zu thematisieren, da sich hieraus
generelle
quellenmethodische Konsequenzen für die Historiographie im
Themenzusammenhang
von Verfolgung ergeben. Es wäre zudem gewinnbringend gewesen, die
juristisch-wirtschaftlichen Beratungen des Vereins und ihre
institutionelle
Rahmung mit einzubeziehen, da zumindest die juristische Komponente
bereits seit
der Vereinsgründung zum Kernhandwerk gehörte und ab 1933 unter
neuen Vorzeichen
ausgebaut wurde. Sie wäre ein hervorragendes Beispiel für die
Verbindung von
programmatischen Positionen mit praktischen Alltagsfragen gewesen
und hätte das
Verständnis für den Wandel dieses Verhältnisses vertiefen können.
Diese
Kritikpunkte schmälern in keiner Weise den äußerst positiven
Eindruck des
vorliegenden Sammelbands. Vielmehr reizt er zu weiteren Fragen,
die auf einen
(deutsch-)jüdischen Umgang mit der Verfolgung, die Konstituierung
einer
jüdischen Identität und die historischen Gegenwartswahrnehmungen
abzielen.
Anmerkung:
[1] Avraham Barkai, „Wehr dich!“.
Der
Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens
1893–1938, München
2002, S. 51.
Zitation
Hendrik Schemann: Rezension zu: Grundmann, Regina; Hartmann, Bernd
J.; Siemens,
Daniel (Hrsg.): „Was soll aus uns werden?“. Zur Geschichte des
Centralvereins
deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens im
nationalsozialistischen
Deutschland. Berlin 2020. ISBN 978-3-86331-530-6, In: H-Soz-Kult,
08.01.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-50513>.
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Mit freundlichen Grüßen
Roland Geiger
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