Die
Affäre Kießling. Der größte Skandal der Bundeswehr
Autor Möllers, Heiner
Erschienen Berlin 2019: Christoph
Links Verlag
367 S.
€ 25,00
ISBN 978-3-96289-037-7
Inhalt siehe meinclio.clio-online.de/uploads/media/book/toc_book-55243.pdf
Rezensiert für H-Soz-Kult von Sarah Kiani, Centre Marc Bloch,
Berlin
In Form einer dichten und detaillierten Chronologie zeichnet das
Buch „Die
Affäre Kießling“ den „größten Skandal der Bundeswehr“ nach.
Dabei erweist sich
der Historiker Heiner Möllers als ein hervorragender Autor, der
Personen und
Situationen so lebendig darzustellen weiß, dass mitunter der
Eindruck eines
Thrillers entsteht. Im Schnittfeld von Politik-, Militär- und
Elitengeschichte
angesiedelt, hätte dieses Buch von Forschungen über die
Geschichte der
Männlichkeiten und Sexualitäten noch zusätzlich profitieren
können.[1]
Zwischen Herbst 1983 und Frühlingsbeginn 1984 geriet Günter
Kießling,
stellvertretender NATO-Oberbefehlshaber Europa, in den
Mittelpunkt einer
Affäre, auf die sich die bundesdeutsche Presse wie auf ein
gefundenes Fressen
stürzte. Kießling wurde der Homosexualität „verdächtigt“ und
Ende 1983, nach
einem wenig ernstzunehmenden Schnellverfahren und obwohl er
seine vermeintliche
Homosexualität kategorisch abstritt, in den vorzeitigen
Ruhestand versetzt –
ohne Großen Zapfenstreich, auf den er als General seines Ranges
eigentlich
Anspruch gehabt hätte. Um den Jahreswechsel ließ die Affäre
Kießling, die immer
mehr zur Affäre Kießling-Wörner wurde, mehrere „Hauptdarsteller“
in Erscheinung
treten, darunter Verteidigungsminister Manfred Wörner,
US-General und
NATO-Oberbefehlshaber Bernard William Rogers, Wolfgang
Altenburg,
Generalinspekteur der Bundeswehr, Joachim Hiehle, Staatssekretär
im
Verteidigungsministerium, Hans Kubis, dortiger Personalchef,
sowie Kießling
selbst. Zu ihnen gesellten sich mehr oder weniger zweitrangige
Darsteller, eine
Handvoll Journalisten, politische Parteien und Bundeskanzler
Helmut Kohl
höchstpersönlich.
Möllers untersucht die Fakten, geht zugleich auf die
Figurenpsychologie im Handlungsverlauf
ein und wendet Mikrogeschichte an: Tag für Tag analysiert er die
Affäre in
ihrer ganzen Komplexität. Nicht immer kann er Licht ins Dunkel
bringen, schlägt
jedoch Hypothesen vor. Aus dem Blickwinkel der Affäre lässt sich
sehr gut nach
dem (Nicht-)Funktionieren von Politik und Militär in
Westdeutschland während
des Kalten Krieges fragen, aber auch danach, wie es sein kann,
dass
Homosexualität zwar seit 1969 in der Bundesrepublik nicht mehr
generell unter
Strafe stand[2], aber gleichwohl
weiterhin ein
gesellschaftliches Stigma bedeuten konnte.
Möllers’ Recherche stützt sich vorwiegend auf Bestände des
Bundesarchiv-Militärarchivs, insbesondere das unveröffentlichte
Manuskript
„Meine Entlassung“ – ein Tagebuch Kießlings, das in Teilen
seiner 1993
veröffentlichten Autobiografie „Versäumter Widerspruch“ als
Vorlage diente –,
auf Interviews, Ego-Dokumente, Presseartikel und
Sekundärliteratur, die Möllers
als „übersichtlich“ einstuft (S. 326). Manche Leser/innen mögen
es bedauern,
dass der Autor seine Quellen nicht in einer Einführung näher
kommentiert.
Insgesamt fehlen Erläuterungen zu Quellen und Methodologie,
vermutlich um die
Lektüre des Buches einem breiteren Publikum zugänglich zu
machen, was aus
wissenschaftlicher Sicht wiederum schade ist.
Der erste Teil führt wie im Zeitraffer – und mit einer
„Vorwarnung“ an
diejenigen, die nicht mit der Affäre vertraut sind, dass sie mit
der
Rehabilitierung Kießlings endete – zu ihrem Ausgang mit dem
Großen
Zapfenstreich am 26. März 1984, „Kießlings Triumph“. Die
Journalisten beobachteten
das Tun und Treiben der Hauptakteure der Zeremonie und ergötzten
sich besonders
an den Körperhaltungen, den realen oder vermeintlichen Gefühlen
Kießlings und
der Kommunikation zwischen Wörner und Kießling.
Der zweite und dritte Teil bilden den Kern des Werks. Das
Kapitel „Vom Werden
einer Affäre“ liefert den Kontext zu den personellen
Zusammenhängen, in denen
sich Kießlings Karriere entwickelte. Im belgischen Mons, im
Hauptquartier aller
NATO-Truppen in Europa, hatte Kießling von Beginn an einen
schweren Stand. Er
„macht sich [...] keine Freunde in der Spitze des Bündnisses“
(S. 47),
insbesondere weil er Sir Nigel Bagnalls Auffassung von der
Vorneverteidigung
„und damit einen der treuesten Verbündeten der USA und künftigen
Oberbefehlshaber der Streitkräfte des Britischen Empire auf dem
Kontinent“
(ebd.) kritisierte und Zweifel an der NATO-Strategie äußerte.
Inwieweit diese
isolierte Stellung Kießlings einen Einfluss darauf hatte, was
folgte, wird
nicht klar dargelegt. Eine weitere, diesmal deutlichere
Hypothese ist die
schwierige Beziehung zwischen Kießling und Rogers. Auf Seite 61
kommen dann die
ersten Elemente ins Spiel, mit denen sich das Verständnis von
Homosexualität
„nach den Sicherheitsvorschriften der Bundeswehr“ nachvollziehen
lässt. Als „abnorme
Veranlagung, die infolge der daraus abgeleiteten Erpressbarkeit
gleichzeitig
ein Sicherheitsrisiko darstellte“ (S. 61), wurde Homosexualität
in der Armee
nämlich auf eine Weise betrachtet, die das liberale Verständnis
des
Rechtsstaats ausschließt. Es mag schwierig sein, die Gründe für
den Skandal
darzustellen, ohne nach den Konstruktionsräumen von
Männlichkeiten innerhalb
der Armee[3] sowie den sich darauf
beziehenden
Arbeiten zu fragen – eine wesentliche Dimension des Themas, die
Möllers nicht
weiter erforscht hat.
Dem Gerücht folgte eine Untersuchung, angeordnet vom
Militärischen
Abschirmdienst und durchgeführt von der Kriminalpolizei Köln.
Ausgangspunkt war
ein Foto, Zeugen „erkannten“ Kießling als regelmäßigen Gast
zweier
Schwulenkneipen in Köln. Wörner wurde informiert, ebenso
Altenburg. Sie machten
Kießling am 15. September 1983 einen Vorschlag, der zunächst als
„elegante
Lösung“ erschien: Kießling sollte krankgemeldet und dann
vorzeitig pensioniert
werden; für seine ehrenhafte Entlassung aus der Armee mit einem
Großen
Zapfenstreich wurde der 31. März 1984 vorgesehen. Die Gegner
dieser Option
traten im Dezember 1983 in Gestalt des Chefs des Amts für
Sicherheit der
Bundeswehr, Helmut Behrendt, und des Staatssekretärs Hiehle in
Erscheinung. Sie
betrachteten Kießling als ein Sicherheitsrisiko und setzten sich
erfolgreich
für seine schnellstmögliche Entlassung ein. Die Abkehr von der
„eleganten
Lösung“ und die anschließende Vorladung Kießlings am 23.
Dezember, um seinen
Dienst diskret und mehrere Monate vor dem ursprünglich
vorgesehenen Datum zu
beenden, sowie Kießlings Entscheidung, den Anwalt Konrad Redeker
um
Rechtsbeistand zu ersuchen und einen Artikel über die Gründe
seines
Ausscheidens in der „Welt am Sonntag“ zu veröffentlichen,
bildeten den Anfang
der eigentlichen Affäre.
Im dritten Teil („Von der Kießling-Wörner-Affäre zum handfesten
Skandal 1984“)
wird das Geschehen Tag für Tag vom 5. Januar bis zum 3. Februar
1984 in einer
logbuchähnlichen Form nacherzählt. Mehrere Stimmen kommen zu
Wort, darunter
diejenige Kießlings unter Rückgriff auf sein Manuskript „Meine
Entlassung“. Die
Schilderung eines knappen Monats auf 132 Seiten belegt die
beeindruckende
Recherchearbeit, die dieses Buch ausmacht. Die Journalisten
wollten die Gründe
für Kießlings Entlassung erfahren, erhielten von Wörner aber nur
Ausflüchte.
Wäre nämlich ein Grund für die Pensionierung genannt worden,
hätte dieser
angezweifelt werden können. Wörner war wichtig, dass Kießlings
Pensionierung
nach außen hin scheinbar nichts mit seiner vermeintlichen
Homosexualität zu tun
hatte. Kießling organisierte indes seinen Gegenschlag: Am 7.
Januar wurde ein
Interview mit ihm im Kölner „Express“ und darauf in der „Welt am
Sonntag“
veröffentlicht. Zwei größere Ereignisse setzten Wörner unter
Zugzwang und
führten zu Kießlings Rehabilitierung: die Entdeckung eines
„Doppelgängers“, der
die Kölner Schwulenbars frequentierte und mit Kießling
verwechselt worden sein
könnte, sowie das Eingreifen des Schweizer Schauspielers und
Autors Alexander
Ziegler, der über die – allerdings wenig glaubwürdige –
Zeugenaussage eines
Mannes verfügte, der bezahlten sexuellen Verkehr mit dem General
gehabt haben
sollte. Dass sich Wörner mit Ziegler zu einem Gespräch traf,
schadete nicht
Kießling, sondern dem Minister.
Kießling wurde am 1. Februar rehabilitiert und im März in den
Ruhestand
verabschiedet, diesmal mit einem Großen Zapfenstreich. Der
Untersuchungsausschuss, der am 8. Februar zusammentrat, ist ein
Beleg dafür,
welche Bedeutung die Affäre auf höchster staatlicher Ebene
erlangt hatte. Die Beteiligung
politischer Parteien, insbesondere der Grünen, zeigt, dass diese
Affäre über
den ansonsten relativ geschlossenen Kosmos der Bundeswehr
hinausging. Leider
verweist das Buch wenig auf die außerhalb der Armee
stattfindenden Debatten
über Homosexualitäten.
Die vier folgenden, deutlich kürzeren Abschnitte können als
Schlussfolgerungen
und Interpretationen aufgefasst werden. Besonders interessant
ist die –
zwischen den Seiten 268 und 272 entwickelte, vom Autor
allerdings verworfene –
These, die Affäre sei eventuell das Ergebnis einer Intrige der
ostdeutschen
Staatssicherheit und ihres eingeschleusten Agenten Joachim Krase
gewesen. Damit
würde die Affäre aus der Perspektive deutsch-deutscher
Geschichte gesehen, die
hier ansonsten außen vor bleibt.
Eine der Schlussfolgerungen des Buches stimmt nachdenklich: „Was
Kießling zum
Glück fehlte, war die Frau an seiner Seite; vielleicht gar eine
Familie“ (S.
321). Heißt das, Kießlings Rehabilitierung hätte mit der
Bestätigung seiner
Heterosexualität einhergehen müssen, die der Autor wiederholt
vorzunehmen
scheint? Hieße das nicht, den überholten heteronormativen
Auffassungen zu
verfallen, die der Affäre zugrunde lagen? Muss die heutige
Geschichtswissenschaft wirklich wissen, ob Kießling
heterosexuell oder homosexuell
war, ob er glücklich war oder nicht, oder geht es nicht vielmehr
darum, die
Mechanismen zu verstehen, die die Affäre generierten, und darum,
wie dieser
Teil der Militärgeschichte in eine allgemeinere deutsche
Geschichte eingebettet
werden kann, die die Konstruktion von Männlichkeiten innerhalb
der Armee und
ihre Bedeutung für eine Geschichte des Staates, der
Institutionen, der
Staatsbürgerschaft berücksichtigt? Es ist also zu bedauern, dass
diese Studie,
so extrem detailliert und gut geschrieben sie auch ist, keine
weiteren Brücken
in ihrer Disziplin – oder darüber hinaus – geschlagen hat, die
dem Verständnis
des „größten Skandals der Bundeswehr“ neue Elemente hätten
hinzufügen können.
Anmerkungen:
[1] Siehe dazu jetzt Michael
Schwartz,
Homosexuelle, Seilschaften, Verrat. Ein transnationales
Stereotyp im 20.
Jahrhundert, Berlin 2019, darin Kap. VIII: „Sicherheitsrisiko“
oder
„Schmierenkomödie“? Der Wörner-Kießling-Skandal 1984 als
Wendepunkt.
[2] In der Bundesrepublik
stellte Paragraph 175
des Strafgesetzbuches weiterhin männliche Prostitution sowie
homosexuelle
Beziehungen mit Minderjährigen unter Strafe, wobei die
Schutzaltersgrenze für
homosexuellen Verkehr zunächst 21 Jahre betrug und 1973 auf 18
Jahre gesenkt
wurde, während sie für heterosexuellen Verkehr bei 14 Jahren
lag. Der Paragraph
175 wurde erst 1994 gestrichen.
[3] Unter den zahlreichen
Studien zu diesem
Thema seien hier nur zwei Beiträge genannt: Ute Frevert, Das
Militär als
„Schule der Männlichkeit“. Erwartungen, Angebote, Erfahrungen im
19.
Jahrhundert, in: dies. (Hrsg.), Militär und Gesellschaft im 19.
und 20.
Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 145–173; und Paul R. Higate
(Hrsg.), Military
Masculinities. Identity and the State, Westport 2003.
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