Monatsdigest

[Regionalforum-Saar] Besuch einer Herzogin

Date: 2019/06/05 16:17:11
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Besuch einer Herzogin

oder

Wie ich den Besuch der Duchess Sarah Ferguson am Sonntag, 2ter, und Montag, 3ter Juni 2019, erlebte

 

Vor gut einer Woche erfuhr ich von dem Gerücht, daß nun doch ein Mitglied der britischen königlichen Familie St. Wendel besuchen sollte - aus Anlaß der Ausstellung zum 200ten Geburtsjahres des Prinzen Albert. Sie wissen ja, wie das bei so einem Gerücht ist - jeder weiß etwas, aber niemand etwas Genaues. Und vieles, das gewußt wird, ist schlicht und ergreifend Kabbes.

 

Vergangene Woche schrieb mir mein Freund Giles Somers aus Luxemburg, er werde am Wochenende nach St. Wendel kommen, um dort Dr. Ulrike Grunewald zu treffen, die Autorin der jüngsten „Herzogin-Luise“-Biographie „Die Schandluise“. Er hat uns - meine Frau Anne und mich - zum Mittagessen auf dem Gudesberg eingeladen (das nebenbei ein Gedicht war), dann sind er und ich mit seinem Wagen nach Pfeffelbach gefahren, wo an diesem Sonntagmittag in der evangelischen Kirche die Dreharbeiten stattfinden. In der Kirche an nicht genau bestimmbarem Ort fand die 1831 verstorbene Herzogin ihre erste, nicht aber die letzte Ruhestätte.

 

Giles hat einen alten Kavalleriesäbel aus dem Jahre 1850 dabei, der seinerzeit einem seiner Urahnen gehörte, der dem beim Abschied aus dem Militärdienst von seinen Offizierskameraden geschenkt wurde. Ist ein prächtiges Teil, die Namen der Offiziere sind im Griff eingraviert. Der ehemalige Besitzer hieß Ludwig von Hanstein, er war - der Name verrät es schon - ein Bruder von Maximilian Elisius Alexander von Hanstein, dem 2ten Ehemann der Herzogin Luise. 

 

Wir erreichen Pfeffelbach nach 20 Minuten Fahrt durch das sonnendurchflutete St. Wendeler Land, parken hinter der Kirche und spazieren entlang der Mauer des Kirchhofs um diesen herum. Die geradezu sonntägliche Stille verheißt nichts Gutes; wir befürchten schon, wir haben das Filmteam verpasst. Aber links stehen zwei weiße Fahrzeuge mit Mainzer Kennzeichen, da wissen wir, wir sind richtig. Auf der anderen Seite der Kirche treffen wir Frau Dr. Ulrike Grunewald, Günter Lötzbeyer,den Pfarrer der Pfarrei, und das Filmteam. Dort erfahren wir, dass die Herzogin noch beim Schminken ist, aber gleich herauskommt, so dass die Dreharbeiten in der Kirche beginnen können.

 

Unsere Rolle hier ist klar - wir haben keine. Deshalb schaut Giles ganz verdutzt, als er verkabelt wird, denn er soll an den Dreharbeiten teilnehmen. Mir übergibt er den Säbel und bittet mich, darauf aufzupassen. Der Pfarrer tritt zu uns, reicht uns die Hand und stellt sich vor. Als er merkt, dass ich aus St. Wendel komme, lacht er und meint, dass hier in Pfeffelbach ja eigentlich gar nichts von Luise zu sehen sei, nicht wie in St. Wendel, dort gebe es ja eine eigene Apotheke und ein Restaurant mit diesem Namen. Jetzt muß ich lachen und erzähle ihm, dass mir der Eigentümer von Restaurant und Apotheke vor vielen Jahren erzählt hat, dass beides nichts mit der Herzogin zu tun hatte, sondern nach seiner Mutter benannt worden ist. Das müssen wir beide lachen.

 

Die Tür klappert - jetzt wird es ernst. Im Nachhinein weiß ich nicht, was ich erwartet habe, eine große, prachtvoll gekleidete Frau, umgeben von zahlreichen Leibwächtern (das Gerücht hatte gesagt, dass die Leibwache der Herzogin aus ausgebildeten Soldaten bestünde, die mindestens einmal schon unter Feuer gestanden hätten-ich sah nur einen, der alles im Auge hatte - und gleichzeitig das Auto fuhr). Lady Sarah Fergusson entpuppt sich als eine mittelgroße, eher kleine Person. Kurzer Rock, flache Schuhe, keine erkennbaren Allüren. Sie agiert unkompliziert, spricht jeden an, hat für jedermann einen Blick und ein Lächeln und lacht gerne. Der Pfarrer reicht ihr die Hand, und sie unterhalten sich. Giles, der in seiner hellen Hose mit dem blauen Blazer, besetzt mit goldenen Knöpfen, dazu seine grauen Haare und das gutmütige Lächeln im Gesicht, richtig klasse aussieht, schlendert langsam zu den beiden hin, worauf sich ihm die Herzogin lächelnd zuwendet und seine Hand ergreift. Aus der Entfernung kann ich natürlich nicht hören, was die beiden miteinander sprechen.

 

Die Gruppe steigt die Treppe hinauf und verschwindet in der Kirche. Die Kameracrew folgt ihnen. Und dort drin bleiben sie mindestens eine Stunde. Man hört den Pfarrer sprechen, das heißt, wir hören Worte, aber wir verstehen nichts. Irgendwann sind die Dreharbeiten zu Ende. Ich nehme den Säbel und meine Jacke und gehe in die Kirche. Frau Grunewald interviewt die Herzogin. Starke Szene. Wie im Film. Grunewald in schwarzer Hose und dunkelblauer Bluse, das Mikro in der Hand am ausgestrecktem Arm, ihre Miene ruhig, ganz professionell. Rechts hinter ihr der Kameramann mit dem Auge an der Linse, die Hand am Objektiv, die Kamera über ihre linke Schulter ausgerichtet. Links hinter ihr ein Techniker, dunkle Hose, schwarzes Tshirt, die Szene betrachtend. Über ihnen ein Scheinwerfer, der die Szene erhellt, aber nicht zu sehr. Noch weiter links steht Giles, mit der Hüfte leicht gegen eine blaue Kirchenbank gelehnt, die Hände darauf abstützend, ebenfalls mit Blick auf das Geschehen. Und davor die Herzogin mit schwarzem Rock und hellblauer Jacke, gerade in die Kamera schauend, etwas gestikulierend, beantwortet sie die Fragen und gibt Statements. Starkes Bild.

 

Dann löst sich die Spannung, und Entropie erfaßt den Raum. Alles zerfällt in Einzelaktionen. Die Herzogin wendet sich dem Ausgang zu und kommt, mit Giles im Gespräch, auf mich zu. Ich lege meinen Strohhut auf die Kirchenbank und halte ihnen den Säbel mit zwei Händen entgegen. Giles nimmt ihn und präsentiert ihn der Herzogin. Und ich filme mit wackeliger Handykamera seine Erläuterungen und ihre Zwischenfragen. Schließlich wendet sie sich mir zu und reicht mir die Hand, da wird ihr Blick abgelenkt, und sie schaut zwischen die Kirchenbänke. Dort ist mein Hut runtergefallen, und ehe ich’s versehe, hat sie sich gebückt und ihn aufgehoben. Meinen Protest wischt sie mit einer Handbewegung beiseite. Ich will ihr erklären, daß das eigentlich meine Aufgabe wäre, aber das will sie gar nicht hören. Wieder reicht sie mir die Hand, die ich schüttele. Ich sage „nice to meet you“, aber ihre Antwort, an deren Wortlaut ich mich nicht wirklich erinnere, macht mir in diesem Moment klar, daß es sich um eine Engländerin, nicht um eine Amerikanerin handelt. Sie erwidert den Gruß nicht mit einer Wiederholung, sondern eher einer Variation. Ihr Blick richtet sich intensiv auf mein Gesicht, natürlich nur ein paar Momente, dann wird sie wieder abgelenkt. Eine Dame von Welt, die weiß, wie man’s macht. Nicht nur ein flüchtiger Blick, der schon wieder vorbei ist, ehe er überhaupt beginnt; so wie ich es von manchem Politiker bei uns kenne, die ihr Gesicht verziehen, aber nicht lachen, weil sie nicht wirklich da sind. Ich habe den Eindruck, die Herzogin bemüht sich um Anwesenheit, länger als eine Sekunde oder zwei. Sie vermittelt Interesse an einer Person, auch wenn sie eigentlich keine Zeit dafür hat.

 

Beim Verlassen der Kirche sagt mir der Regisseur, ich solle doch morgen früh um 10 nach St. Wendel in Angel’s zum „Frühstück“ kommen. Vor der Kirche posiert sie mit Giles, der den langen Säbel seines Urururgroßvaters am langen Arm trägt. Eine junge Dame ihres Stabs tritt auf sie zu. Aus der Gesäßtasche ihrer Jeans baumelt ein langes weißes Kabel, das fast bis auf den Boden reicht. Ich will gerade sagen, sie solle aufpassen, daß sie damit nirgends hängenbleibt, da beugt sich die Duchess nach vorne, fängt das Kabel ein und drückt der Frau das lose Ende in die Hand. Sie beindruckt mich schon wieder.

 

Unten am Wagen gibt sie ein paar Befehle, und schon éilt jemand herbei und drückt ihre eine Tasche in die Hand. Sie entnimmt ihr ein paar Dosen, mit denen sie den Pfarrer und Giles bedenkt. Tee aus England und jeweils zwei lange rote Bleistifte mit Krönchen an einem Ende und der Aufschrift „Windsor Castle“. Sie gibt sie Giles nicht in die Hand, sondern steckt sie in die Brusttasche seines Blazers, ganz cool.

 

Giles verabschiedet sich, und wir schlendern zum Auto zurück, wo ihm einfällt, daß er Grunewalds Geburtstagsgeschenk vergessen hat. Also fahren wir um die Kirche herum und treffen vor dem Pfarrhaus ein, just als der schwarze Wagen der Herzogin losfährt. Er setzt sich dahinter und hupt, und die Übergabe des Päckchens erfolgt durch die Autofenster.

 

Auf der Fahrt nach Alsfassen, wo uns Kaffee und frisch gebackener Erdbeerkuchen erwarten, sage ich zu Giles: „Ich habe noch nie einer britischen Adeligen die Hand geschüttelt.“ Und er entgegnet versonnen: „Und ich habe noch nie eine geküßt.“

 

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Abends suche ich für die Herzogin mein letztes Exemplar eines Hefts heraus, das ich 2011 für eine genealogische Veranstaltung in London zusammengestellt hatte - ein bißchen was über Luise und eine Schilderung der Recherche des Flugzeugabsturzes im September 1940, als eine britische Hampden in Alsfassen abstürzte. Das Exemplar ist etwas mitgenommen und hat unten auch einen braunen Fleck, aber ich schreibe auf einer Karte, daß es etwas „battered“ sei, d.h. „mitgenommen“, und füge dafür eine Ausgabe meiner „Gedanken über Auswanderungsforschung“, worin etliche farbige Fotos aus der Stadt zu sehen sind. Und außerdem kommen noch ein paar Fotos von Pfeffelbach hinzu, die ich beim DM ausdrucke (und lerne dabei, wie das Fotoausdrucken mit Bluetooth funzt).

 

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Um kurz vor zehn am Montagmorgen treffe ich Frau Grunewald vor der Cortina, und wir unterhalten uns über dies und das, was die Luise-Forschung betrifft. Sie hat heute ein volles Programm, über das ich nicht das Geringste weiß. Ich nehme in Angel’s an der Bar Platz und trinke einen Kaffee. Und warte mit dem Team auf die Ankunft der Herzogin. Die Presse ist auch schon anwesend, ich erkenne Jupp Bonenberger und Melanie Mai von der SZ. Und ein paar Kinder, alles Mädchen, die selbstgefertigte Schilder mit Fergie-Bildern bei sich tragen. Dann trifft der Bürgermeister ein und wird verkabelt. Er wirft mir einen fragenden Blick zu, und ich bemerke, daß ich einer der wenigen Anwesenden hier bin, die keine wirkliche Funktion erfüllen. Da sind die Kameraleute, da sind die Angestellten des Restaurants, da sind die Polizisten in Zivil, Fischer (äh, in Zivil? Okay, aber nicht zu dieser Uhrzeit an einem Montagmorgen) und eine Kollegin. Da ist - außer dem Bürgermeister - niemand von der Stadt, niemand vom Kreis, keiner der Pfarrer, nur die Funktionsträger und ich. Bin ich der einzige, dem man gesagt hat, er solle-könne um diese Zeit hier sein?

 

Dann fährt das schwarze Auto vor, der Stab steigt aus, und die Herzogin hat ihren Auftritt. Gut gelaunt wie gestern, auf Details achtend, hier eine Hand schüttelnd, hier eine kleine Nachfrage, hier ein Kommentar. Immer lächelnd, immer da. Voll konzentriert, aber so, daß man es nicht merkt. Sie läßt sich mit der Statue von Philipp Jakob Riotte filmen und knipsen, der - ein Zeitgenosse Luises - für ihre Hochzeit extra ein Stück geschrieben hatte. Schade, daß niemand auf die Idee kam, ein paar Musiker dieses Stück hier und jetzt spielen zu lassen.

 

Sie kommt zurück und wendet sich den Kindern zu, betrachtet die selbstgemachten Poster, reicht ihnen die Hand, fragt nach ihrem Namen und so weiter. Die Kinder sind aufgeregt, aber voll bei der Sache. Irgendwann sind alle Fotos geschossen, und die Herzogin wendet sich Richtung Restaurant. Ich bin vor die Tür getreten, um das Geschehen besser beobachten zu können, werde abgelenkt und drehe mich um, und sie steht vor mir, greift meine Hand und will etwas sagen, da erkennt sie mich und sagt, wie schön es sei, mich wieder zu sehen. Und dann zieht sie weiter ins Haus hinein, während ich noch verdattert da stehe. Drinnen geht sie in den Speiseraum („Restaurantbereich“ im ehemaligen linken der drei Angel’s-Häuser, in dem früher die Familie Steininger wohnte). Dort wird sie von zwei Kameras unter die Lupe genommen, während ihr gegenüber Frau Grunewald Platz nimmt. Wieder gibt es ein Interview, zu dem nun auch Peter Klär, unser Bürgermeister, hinzukommt. Er gibt zu, daß sein Englisch nicht so gut ist, aber Frau Grunewald übersetzt sicher und souverän. Viel ist nicht zu verstehen, nur ab und an ein paar Wortfetzen. Ich stehe im Barbereich auf den ersten Stufen der Holztreppe, von denen aus manche Fotos gemacht werden. Entfernung gut 10 Meter. Dazwischen ein paar Kameras und Fotografen verschiedener Zeitungen. Einmal steht der Wind günstig, und ich höre die Herzogin sagen „Erzählen Sie mir von Ihrer Stiftung und was ich dazu beitragen kann“. Da geht es um die neue Luisenstiftung, die die Stadt als Erinnerung an das Engagement Luises für die Armen der Stadt eingerichtet hat - der Erlös der Stiftung soll den Armen der Stadt zu gute kommen.

 

Eine ganze Zeit später sind die Interviews beendet, und sie begleitet den Bürgermeister durch St. Wendels Straßen in Richtung ehemaliges Rathaus 1 unten am Schloßplatz. Ihr Stab - zwei Männer und eine Frau - schließen sich dem Troß an, und ich schlendere hinterdrein. Einer der Männer - ganz in weiß, lange Haare, Brille - springt plötzlich in einer der Nischen der Basilika, und die anderen beiden folgen ihm lachend. Ich frage sie, was das soll. Und er meint mit einem Grinsen im Gesicht, sie würden versuchen, außerhalb des Fokus der Kameraleute zu bleiben, damit diese sie nicht aufnehmen. Tatsächlich hat der Troß einen Stop eingelegt, die Kameras zeigen grob in unsere Richtung. Ich frage ihn, ob er aus England komme. Nein, sagt er, aus Schweden. Grinsen.

 

Weiter geht es um die Ecke der Cortina. Immer wieder bleibt sie stehen, grüßt hier jemand und dort, und läßt sich immer gerne mit allen möglichen Leuten fotografieren. Ab und an kommt es zu Verwirrungen, wenn die Sprachbarriere greift. „Do you want a photo?“ fragt sie eine Frau, die nur Bahnhof versteht und automatisch „nein“ sagt. Ein Achselzucken, und sie geht weiter. Zurück bleibt eine junge Dame, die nun völlig verwirrt ist. Durch die belebte Schloßstraße (hehe, der war gut) geht es Richtung Schloßplatz. Dort angekommen begibt sie sich zur Luisenstatue, wo sie ausgiebig fotografiert wird. Mit und ohne Grunewald, mit und ohne Bürgermeister, aber immer mit Luise. Dann verschwindet der Troß im Hause, aus dem im ersten Stock mehrere Polizeibeamte in Uniform aus dem Fenster lugen. Sie werden hinauf ins Luisenzimmer gehen, in dem es jetzt bestimmt gut warm ist, weil den ganzen Morgen schon die Sonne drauf knallt. Hier sind etliche städtische Angestellte anwesend, womit der Raum sicher gut voll wird. Das muß ich mir nicht antun.

 

Also warte ich draußen, bis sie wieder rauskommen. Das zieht sich wieder ein bißchen, also fröne ich draußen der Leute liebstem Zeitvertreib: „spròòche“. Ich halte immer noch meine beiden Päckchen in der Hand, eins für sie, das andere für Frau Grunewald. Dann kommen sie wieder heraus. Wieder werden Fotos geschossen, dann kommt sie die Rampe herunter, sieht mich und lächelt. Frau Grunewald sagt ihr, daß ich etwas für sie habe. Ich reiche ihr das kleine Päckchen, das sie gleich öffnet. Als sie das etwas angegriffene Heft sieht, freut sie sich: „Das ist ja in Englisch“. Noch ein Händedruck, sie bedankt sich. Von der Seite kommt Ortwin Englert mit seiner Frau Birgit auf uns zu. Sie dreht sich zu ihnen um, und er wird als einer der Stadtführer vorgestellt. Sie fragt ihn nach Luise, und Ortwin radebrecht ein paar Worte. Sie bewundert Birgits lilafarbene Haare: „I like the color of your hair!“ sagt sie.

 

Eigentlich will ich mich jetzt verabschieden, aber ich trage immer noch das Grunewald’sche Paket spazieren. Also folge ich ihnen zurück zu Angel’s. Dort verrät mir der Regisseur, daß man jetzt schnell zu Mittag essen würde, um dann um halb drei zum Wendalinushof zu fahren. Was sie dort wollen, ist mir schleierhaft. Klar gab es Cettos Hof schon zu Luises Zeiten. Er hat ihn um die Jahrhundertwende errichten lassen - als Gegenstück zum Harschbergerhof im Westen. Aber Luise kann dort entlang nicht St. Wendel erreicht haben. Sie schreibt in einem Brief, sie sei über Homburg nach St. Wendel gekommen. D.h. sie kam durch das Ostertal und über Werschweiler, aber sicher nicht über den Berg- und Talweg über Niederkirchen und durch das Tiefenbachtal. Egal, man wird sich etwas dabei gedacht haben. Ich warte noch einen Moment, bis etwas Ruhe eingekehrt ist. Dann gehe ich zum Tisch, warte ansatzweise dezent, bis mich die Herzogin zur Kenntnis nimmt, und trage kurz mein Anliegen vor, händige mein Päckchen an Frau Grunewald aus, verabschiede mich mit einem angedeuteten Nicken und ziehe mich zurück.

 

Der Rest steht in der Zeitung. Nun ja, so ähnlich zumindest.

 

St. Wendel, 5. Juni 2019

 

Roland Geiger

[Regionalforum-Saar] Hauptakten des 1. Auschwitz-Prozesses

Date: 2019/06/18 08:17:37
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Guten Morgen,

ich leite die nachstehende Email ungeprüft weiter.

Roland Geiger

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allo zusammen,

in Ergänzung zu den Arolsen Archives stieß ich durch Suche nach einer Person auf die digitaliserten Hauptakten des 1. Auschwitz-Prozesses im Hessischen Landesarchiv, Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, mit der Einstiegsseite unter
<https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/llist?nodeid=s57386&page=1&reload=true&sorting=41>

Ernst-Peter Winter

  

[Regionalforum-Saar] Rezension: Sklaverei nach Rom

Date: 2019/06/19 08:34:07
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Guten Morgen,

auch wenn es da Buch nur auf Englisch gibt und viele damit vermutlich nichts anfangen können, ist es gut zu wissen, daß das Thema irgendwo behandelt wurde.

Roland Geiger

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Slavery after Rome, 500–1100.

von Alice Rio

 

Erschienen Oxford 2017: Oxford University Press

Umfang XI, 285 S.

Preis £ 65.00

 

ISBN 9780198704058

Rezensiert für H-Soz-Kult von Ludolf Kuchenbuch, Berlin

Dass die Sklaverei, obwohl seit Anbeginn der westlichen Moderne moralisch geächtet, rechtlich verboten und politisch bekämpft, nie abgeschafft bzw. besiegt werden konnte, vielmehr in vielen Falten und Säumen des kapitalistischen Weltsystems fortwirkte und derzeit in erschreckender Vielfalt und Vielzahl weltweit „zurück“ ist, leugnet niemand. Umso wichtiger ist historische Aufklärung, die in die Tiefe geht. Da kommt ein ungewöhnlich provokatives, ideenreiches Buch gerade recht, das ebenso klar gebaut im Ganzen wie komplex argumentierend im Detail ist und waghalsig in der Auslegung des Verhältnisses zwischen Normen und Praxis.

 

Rio schreibt bildreich, idiomatisch aufgeladen, nicht um Kritik und Urteil verlegen, nahezu pausenlos argumentierend; und oft bestimmt dabei der persuasive Konjunktiv die Diktion. Dies zu Recht, weil die Verhältnisse, um die es geht, nun einmal nicht einfach aufzudecken und nicht sicher einzuordnen sind – und weil Rio Neues zu sagen wagt. Es geht ums Eingemachte im so schwierigen Verhältnis zwischen Norm und Wirklichkeit der Unfreiheit.

 

„Slavery after Rome“ ist ein Buch über das Besondere einer Epoche. Es bietet ein Panorama von Unfreiheiten, die wenig bis kaum etwas mit den Zeiten davor und danach zu tun haben, einen Parforceritt durch die sechshundertjährige Geschichte eines totalisierenden, alle sozialen Zusammenhänge nicht nur berührenden, sondern auch durchdringenden Phänomens. Insofern handelt es sich um ein Buch, in dem es nicht nur um „die“ Sklaven und Sklavinnen als sozialem Bodensatz geht, sondern um eine langfristige Umprofilierung des „spectrum of unfreedom“ im Spannungsfeld zwischen der rechtlich-institutionellen (ideologischen) und der sozialen (praktischen) Reproduktion der Gesellschaft (S. 13). Es geht um eine Zeit, die geprägt war von einer eigenartigen slavery, die aber ohne ihr systemisches Pendant und langfristiges „Produkt“, den serfdom, nicht eigentlich verständlich wird.[1] Der Titel, so griffig er daherkommt, verengt also die sachlich viel weitere Anlage des Buches.

 

Im Gegensatz zur früheren wirtschafts-, sozial- und rechtsgeschichtlichen Forschung, die in vereinfachender Typisierung und linearem Wandel verharrt, will Rio auf die Komplexität und Flexibilität frühmittelalterlicher slavery, ihre regionale Vielfalt, ihre unterschiedlichen Ursachen und Folgen hinaus. Nicht rassisch determiniert, nicht in kultureller Fremdheit, nicht in religiöser Differenz, nicht in ökonomischer Funktion, nicht in einer Klassenlage gründend, müsse die frühmittelalterliche Sklaverei verstanden werden und vor allem nicht als rechtlich präzises Statusgefüge, als normativ strukturierte reale „Lage“ bzw. soziale „Schicht“ – trotz der Fortwirkung römisch-rechtlicher Normen und Formen.

 

Rio dreht den Spieß um. Unfreiheit (unfree status) versteht sie – analog zur Verwandtschaft – “as a strategy, that is, how and why it was produced and reproduced, …, as a result of an act of labelling rather than as a static object“ (S. 10f.). Ausgehend von diesem praxeologischen Konzept sozialer Beziehungen dient slavery als ein unverzichtbares Instrument der rivalisierenden Mächtigen, den Abhängigen zur Durchsetzung verschiedenster Ziele möglichst viele Rechte zu verweigern, während es beim serfdom umgekehrt um den grundsätzlichen Zugang zu einzelnen Rechten für die Abhängigen geht (S. 14). Das ist eine Hypothese, die ernsthafte Beachtung und eingehende Prüfung verdient.

 

Die Konstruktion des Buches ist konsequent. Der Rahmen: enger Einstieg – das simpel dualistische römische Sklavenrecht (liber/servus) –, enger Ausstieg – die hochmittelalterliche Zweiheit von „personal serfdom“ und „unfree tenancy“ –, und dazwischen ein sachlich und räumlich so breit wie möglich entfaltetes, ungleichheitspraktisches serviles Innenleben. Gegliedert ist es in drei Teile zu insgesamt sechs Kapiteln: I Diversity: Ways in and ways out (S. 17–131), II Regularities: The Logic of Diversity (S. 132–211), III The institutional framework: Continuity and Change (S. 215–245). In jedem Kapitel wird größter Wert sowohl auf großräumige bzw. regionale Eigenheiten gelegt (Francia, Italy, Iberian Peninsula, Anglo Saxon England, Ireland / Wales, Byzantium) und versucht, durch prägnante Fälle Anschauung über jeweilige Besonderheiten zu bieten.

 

Zuerst werden die externen und internen Wege ins Sklave-Sein ausgebreitet (Pattersons intrusive Sklaverei). Was man über die Versklavungen mittels Raub und Kauf weiß, ist leider sehr wenig (Kapitel 1). Schon mehr über Selbstverkauf, Schuld- und Strafverknechtung, die stets Einzelne betrifft (Kapitel 2). Für die erborene Unfreiheit (Pattersons extrusive Sklaverei) wird aufs Kapitel 4 verwiesen. Zum formellen Aus-Weg, den Freilassungen, kann Rio anhand ihrer Vorarbeiten aus dem Vollen schöpfen. Hier gelingt ihr ein Panorama, in dem deren enorme Formen-, Funktions- und Wandlungsvielfalt neuartig ausgeschöpft ist. So schwer das numerische Gewicht der Einzel- bzw. der Massen-Freilassungen auch zu ermessen ist – sie sind als Phänomen im kulturellen Vergleich „extremely peculiar“, weil sie ganz verschiedene Funktionen für die Freilasser sowie für die Freigelassenen haben. Sie dringen viel tiefer ins soziale Gewebe ein als die binäre „master-servant relationship“, sie entwickeln große Anpassungskraft beim Wandel des Verhältnisses zwischen den unfreien und den freien Teilen der Gesellschaft und sie zeigen, wie wichtig das machtrhetorische Spiel mit der Freiheit bzw. Unfreiheit unter den Beteiligten, das heißt nicht nur den Herrschenden, sondern auch der Beherrschten ist. Das alles bedeutet aber längst nicht, dass die Freilassungen maßgeblich zur Genese des späteren serfdom beigetragen hätten, was seit Marc Blochs großer These über „The Rise of Dependant Cultivation and Seignorial Institutions“ (1941) immer noch verbreitet angenommen wird.

 

Die beiden Schauplätze, wo sich alltägliche Herrschaft und Ausbeutung der Unfreien in all ihren Variationen entfalten, machen den zweiten Teil des Buches aus: „Household“ (Kapitel 4) und „Estate Communities“ (Kapitel 5). Rios großräumige Umschau zur Haushaltssklaverei zeigt, wie schwierig es ist, hier ein klares und zugleich differenziertes Profil zu zeichnen. Zwischen dem mediterranen Süden bzw. Osten, wo urbane Kaufsklaverei in Großhaushalten und Gewerben fortwirkt, und dem irischen Nordwesten, geprägt vom Knechte/Mägde-Wesen rivalisierender Clans, breitet sich ein ebenso großräumig wie lokal differenziertes, nur sehr schwer überschaubares Feld von vermögenslosen Sklaven in freibäuerlichen Höfen und aristokratischen Landgütern aus – in ersteren nur punktuell fassbar bei urkundlichen Transfers, in letzteren breiter belegt durch die großen Land- und Einkommensregister, wo sowohl Gruppen unbehauster Fronhof-Unfreier (prebendarii) oder mancipia frondienstpflichtiger Bauern verbreitet gewesen sein dürften. Aber waren sie alle wirklich Sklaven – oder doch lediges Gesinde, das unter den Bauern zirkulierte und für die Herrenzwecke verfügbar war? Rio vermittelt insgesamt den Eindruck, dass Haushaltssklaverei die eigentliche Normalform radikaler Unfreiheit der Zeit war, mit der alle Aristokraten in viele Richtungen experimentierten, dass aber zugleich unübersehbar ist, wie der Servilisierungsdruck sich vom Prinzip des erborenen Sklave-Seins zum Blick auf die agrarische Ausbeutbarkeit der Sklaven verschiebt.

 

Solide Rechnung trägt Rio in Kapitel 5 der aktuellen Forschungslage über die Formenvielfalt der estate communities (bipartites System, Betriebsgrundherrschaft, Villikation) und über die in sie eingebundenen Inhaber (servile tenants) kleiner Hofstellen (mansus). Ihrer Perspektive treu, deutet sie aber die Ursache für die dortigen servilen, eben nicht mehr sklavistischen Verhältnisse konsequent um. Die bisherige, sozialstrukturell ausgerichtete Forschung hat sich bei der Ordnung der diversen Kategorisierungen dieser Leute (coloni, mansuarii, manentes, lidi, servi, familia usf.), ihrer Hofstellen (mansusingenuilis, lidilis, servilis) sowie der an beide – Leute bzw. Hofstellen – gekoppelten Lasten (opus, debitus, census, servitium usf.), die ja von Domäne zu Domäne, von Herrschaft zu Herrschaft, von Region zu Region changieren, stets am Modell des geburts-normativen Dualismus (ingenuus / servus) und seiner ökonomisch verursachten Nivellierung zu servilen Bauern orientiert. Rio zieht einen ganz anderen, sehr einfachen Schluss: Alle jeweiligen Bezeichnungskonglomerate sind eigentümliche Resultate von Aushandlungen sowohl zwischen den benachbarten Herren als auch zwischen dem jeweiligen Herrn und seinen Familiaren vor Ort! Damit radikalisiert Rio die von mir 1978 präsentierte These von „Rentenlandschaften“, mit der ich auf den Einfluss von regionalen Gewohnheiten auf die Abgaben- und Dienstkonglomerate in den Domänen hinweisen wollte. Rio verkleinert den Maßstab also noch einmal: Bestimmend für eine rigide oder legere Handhabung der „Unfreiheitssprache“ (und damit der Servilisierungspolitik) waren die lokalen bzw. domanialen Kräfteverhältnisse.

 

Aus dieser Sicht sind die in den Registern festgeschriebenen Verhältnisse als situativ produzierte Kompromisse zu verstehen. Dass es – unter deren Decke – im Gezerre um Geburtsstatus, Heiratslizenz, Herrenzugehörigkeit, lokale Hierarchie und vor allem um Abgaben und Frondienste viel beweglicher zuging, zeigen die Urkunden über Streitfälle vor Gericht. Sie nehmen im Laufe des 9. Jahrhunderts deutlich zu, Beweis genug für Rio, dass die Unfreiheits-„Keule“ keinesfalls weniger benutzt wurde, sondern häufiger. Aber in einem neuen Sinne, der nicht mehr in der unfreien Geburt, sondern in bodenbezogenen servilen Lasten gründete und somit zunehmend seine sklavistische Rigidität verlor. Die Folge: die Leute galten nicht mehr als entweder-oder, sondern als mehr-oder-weniger frei bzw. unfrei.

 

Der deutlich kürzer gefasste dritte Teil dürfte diejenige Forschung besonders provozieren, die der Geltung und Wirkung der institutionalisierten Ungleichheitsnormen eine, wenn nicht die entscheidende Rolle im sozialen Getriebe zuspricht – die Rechts- und die Dogmenhistorie. Erst am Ende ihres Buches fragt Rio, wie die praktischen Verweigerungen oder Konzessionen von Rechten „might have been both reflected in and fascilitated by rules and concepts“ (S. 215). Dies deshalb, weil sie die secular laws und church canons eben nicht für die Ausgangspunkte der Servilisierungspaktiken hält, sondern für deren Resultat („outcome“).

 

Auch hier hat Rio eine komplex gefügte, im Gesamtsinn aber durchaus einfache Antwort parat. Die Komplexität gründet in der Schwierigkeit, das Verhalten der drei Agenten – Klerus („church“), Hegemon („state“) und Aristokraten („lords“) – voneinander abzugrenzen, sind sie doch alle Herren über „ihre“ unfreien Leute. Differenzen sind am besten in den Feldern der Ehe, der religiösen Rechte und Pflichten, der Reproduktion der Statuskategorien, der Familie, des Eigentums und des Erbes zu erkennen.

 

Die Politik der Kirchen – alles andere als ein homogener Block – gegenüber den Unfreien besteht einerseits darin, deren Geschlechtsleben, Arbeits- bzw. Feiertagsmoral und liturgisches Verhalten zu kontrollieren. Andererseits tritt der Klerus als steter Mahner gegenüber allen Formen harter Behandlung auf, droht mit jenseitigen Strafen, nimmt Hilfsbedürftige in patronalen Schutz, verteilt Almosen.

 

Die Maßnahmen der Könige zur Ordnung von Statushierarchien, zur Klärung von Statuskonflikten, Heiratsverhalten und Herrschaftszugehörigkeit versteht Rio gerade nicht als Maßnahmen im Sinne konkreter Sozialpolitik, sondern als Servilitäts-Rhetorik auf höchstem Regulierungsniveau, will sagen als schiedsrichterliche, kaum sanktionierbare Normen-Vorgaben für Aristokraten, die einen legitimen Bezugsrahmen für die Durchsetzung ihrer Interessen brauchten. Rio vergleicht diese Funktion mit der des Goldstandards als Wertindex für ein Währungssystem (S. 244): Status-Recht als „a bargaining tool, deployed strategically as a means of obtaining something else“ (S. 241). Mehr Einfluss auf die Servilisierungspraxis der Lords untereinander und gegenüber ihren Familiaren vor Ort war für die Zentralgewalt nicht „drin“. Zu diesem im Detail schwer zu fassenden Spielraum beschränkt Rio sich auf wenige kontrovers diskutierte Felder: die „mixed marriages“ und das Aufkommen neuer „markers of unfreedom“ – soziale Termini, Genealogien. Am wichtigsten ist aber, dass die Aushandlungen zum servilen Status sich nun auf die erbliche Abhängigkeit von nicht nur einem partikularen Herrn beziehen – eine extrem wichtige Erkenntnis im Blick auf die für die feudale Machtdynamik so charakteristische Mehrherrenschaft über die Unfreien.

 

Ein Buch, das mit einer so starken Hauptthese, aber auch mit einer Fülle von neuen Einzeleinsichten aufwartet, wird Widerspruch hervorrufen und – hoffentlich – eine Debatte ins Rollen bringen. Mich hat Rios hinreißend englischer Pragmatismus wirklich aufgeregt – meist im Positiven, denn er dient vorzüglich dazu, zähe „Re-Stimaginationen“ naiver sozialstruktureller Realitäts-Unterstellungen im Schriftgut der Zeit zu entwerten, ja zu tilgen – eigene eingeschlossen!

 

Mit den nun folgenden Hinweisen möchte ich mich an diesem extrem wichtigen Projekt beteiligen – aber in einem anderen, eher deutschen Sinne, der zwar auch radikal aufs soziale Handeln zielt, aber vermittelt durchs herrschaftliche Denken im Medium eines eigenartigen poströmisch-kirchlichen Lateins. Ich votiere also – dasselbe Ziel vor Augen – für mehr semantische Aufmerksamkeit im Ausdruckfeld der Servilisierung (und De-Servilisierung). Ein solches Ergänzungsprogramm lässt sich an dieser Stelle natürlich nicht ausbreiten. Ich kann nur mit wenigen Stichworten andeuten, worum es geht.

 

Rio hat sich zielsicher auf die Funktion des Servilitäts-Arguments für das soziale Milieu konzentriert (ihre so anschauliche case-Methode). Sie hat diese aber, gut verständlich für ihr Lesepublikum, darstellungssprachlich umgesetzt, ohne überlieferungssprachliche Analyse. Sie hat sich entschieden, vom „legal“ bzw. „servile status“ statt von der conditio bzw. dem iugum servitutis zu sprechen. Damit begab sie sich der Möglichkeit, den jeweiligen Gebrauch der Wortfamilie der Unfreiheit zu profilieren bzw. zu präzisieren – servus, servilis, servitium, servitialis, besonders aber servitus, den Schlüssel-Begriff zur Sache. Viel zu wenig hat Rio sich um die von ihr beiläufig „Nebelwörter“ genannten Sekundärbezeichnungen für die verschiedensten Abtönungen der Servilität gekümmert, und dadurch ist ihr gewissermaßen weggerutscht, wie wichtig soziale Termini wie homo, mancipium, familia nicht nur als Ergänzungswörter zur Unfreiheit waren, sondern als neuartige Sinnträger, die der servitus-Familie langfristig entscheidende Konkurrenz machten.

 

Semantische Aufmerksamkeit bezieht sich eben nicht allein auf die blanke Wortwahl und wenige Fahnenwörter. Jedes Dokument, das erweist die binnentextuelle Bedeutungssuche, bietet adjektivische, nominale und verbale Wortverbindungen und syntaktische Kleinformen, die dem regierenden Wort erst sein spezifisches Sinnprofil geben. Warum hier solch ein banaler linguistischer Gemeinplatz? Weil Rio durch die systematische Nutzung semantischer Methoden nicht nur ihre „case-stories“ hätte bereichern, sondern sie der Modulierung eines zeitspezifischen servitus-Codes hätte dienen können, der eben nicht in den Köpfen der Rechts- und Dogmenhistoriker/innen, sondern in denen der damaligen Schriftmächtigen zu genau dem extrem beweglichen Anspruchsdenken und -handeln taugte, von dem Rio so richtig spricht. Sicher wäre dies nicht allein durch soziolinguistische Analysen einzelner Zeugnisse möglich. Dazu müssten Wortverteilungs- und Wortgebrauchsanalysen digitalisierter Zeugnisbestände kommen, die ja – mindestens zu Teilen – neuerdings verfügbar sind.

 

Um diese abstrakten Postulate anschaulich zu machen, abschließend ein paar hier einschlägige Fragen, die ich als künftige Agenden zum Thema verstehe.[2] Welche Sinndifferenz verbirgt sich in den Wortverbindungen status servilis und conditio servitutis? Meinen das vinculum und das iugum servitutis dasselbe? Was ist das entscheidende Antonym zu servitus: libertas oder ingenuitas? Wie verhalten sich Eigenschaft (proprietas), Zugehörigkeit (pertinentia) und Bleibepflicht (manere) zueinander? Was haben Geburt und Taufe eines Unfreien miteinander zu tun? Man zucke nicht mit den Achseln angesichts solch lateinsüchtiger Spitzfindigkeit eines Mediävisten. Dem ist nicht so. Ich erbiete mich, anhand solcher Stichworte höchst aktuelle Probleme der Sklavereiforschung zu diskutieren. Alice Rios Buch hat mich dazu gerüstet! Ich wünsche ihr, dass es vielen anderen genauso geht!

 

Anmerkungen:
[1] Das Deutsche hat das Handikap, nicht, wie die romanischen Ausdruckstraditionen (engl., franz., ital., span. usf.), bequem und klar zwischen slavery und serfdom unterscheiden zu können. Es kann hier nicht der Ort sein, näher zu begründen, warum es im Deutschen kein analoges Bezeichnungspaar gibt – das zweite Glied fristet ein unentschiedenes Dasein als Knechtschaft, (Leib-)Eigenschaft, Hörigkeit, Servilität, Unfreiheit. Hierzu Ludolf Kuchenbuch, Vom caput zum corpus. Basisthesen und hominologische Hypothesen zur servitus im mittelalterlichen Millennium, in: Alexander Jendorff / Andrea Pühringer (Hrsg.), Pars pro toto. Historische Miniaturen zum 75. Geburtstag von Heide Wunder, Neustadt an der Aisch 2014, S. 3–26.
[2] Ich beziehe mich hier empirisch auf meine großräumige Querschnitt-Untersuchung „Abschied von der Grundherrschaft. Ein Prüfgang durch das ostfränkisch-deutsche Reich 950–1050“, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 121, 2004, S. 1–99; und im begrifflich ausgearbeiteten Längsschnitt auf: „Servitus im mittelalterlichen Okzident – Formen und Trends (7.–13. Jahrhundert)“, in: Alain Dierkens / Nicolas Schroeder / Alexis Wilkin (Hrsg.), Penser la Paysannerie Médiévale, un Défi impossible? Recueil d’études offert à Jean-Pierre Devroey, Paris 2017, S. 235–274.

 

 

 

 

[Regionalforum-Saar] S. Haas u.a. (Hrsg.): Di e Zählung der Welt

Date: 2019/06/20 09:30:44
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Die Zählung der Welt. Kulturgeschichte der Statistik vom 18. bis 20. Jahrhundert

 

Hrsg. v. Haas, Stefan; Schneider, Michael C.; Bilo, Nicolas

 

Erschienen Stuttgart 2019: Franz Steiner Verlag

 

Umfang 261 S., 25 SW-Abb.

Preis 52,00 €

ISBN 978-3-515-12117-0

 

Rezensiert für H-Soz-Kult von Anne Lammers, Berlin

 

Vor mittlerweile 15 Jahren veröffentlichte Adam Tooze einen programmatischen Aufsatz zur kulturhistorischen Einordnung von Wirtschaftsstatistiken.[1] Er zielte darauf ab, die Konstruktionsleistung solcher Statistiken (z. B. Definition „der“ Volkswirtschaft), die für ihre Erstellung zugrunde gelegten Messeinheiten (z. B. Geldwerte), die in ihnen eingeschriebenen Ordnungsvorstellungen, ihre öffentliche Wahrnehmung sowie ihre (grafischen) Repräsentationsformen zu hinterfragen. Diese Aspekte bettete Tooze in die Geschichte der Personen und Institutionen ein, die an der Datenproduktion beteiligt waren. Stefan Haas, Michael C. Schneider und Nicolas Bilo haben nun einen Sammelband herausgegeben, der ausdrücklich an Tooze anknüpft (S. 9) und über Wirtschaftsstatistiken hinausreicht.

 

Der Band umfasst verschiedenste Themen, die von der Medizinalstatistik in Deutschland über die Schul- und Bildungsstatistik in der Schweiz und in China bis zur internationalen Wirtschaftsstatistik reichen. Das breite Spektrum resultiert aus einer Tagung an der Georg-August-Universität Göttingen im September 2015. Die vielfältigen Forschungsperspektiven reflektieren zudem die Interessen und Vorarbeiten der Herausgeber. Michael C. Schneider hat die Statistik in einem Buch von 2013 vor allem aus Sicht der sie produzierenden preußischen Behörde untersucht.[2] Stefan Haas (und auch sein Mitarbeiter Nicolas Bilo) haben sich eingehender mit den sinngebenden Praktiken der preußischen Verwaltung[3] sowie mit der Frage nach Wirklichkeitsbeschreibungen der Vergangenheit durch Historiker und Historikerinnen beschäftigt.[4]

 

Die Herausgeber fassen „Statistiken als eine spezifische Wissenspraxis […], die Phänomene ordnet und kategorisiert, um damit Vergleiche sowie Ein- und Ausgrenzungen zu ermöglichen“. In dieser Lesart sind Statistiken „Bestandteile komplexer Entscheidungsfindungs- und Kommunikationsprozesse“ (S. 11). Datensammlungen seien auch ein zentrales Medium öffentlicher Debatten, die dadurch „zunehmend in statistischen Bahnen gedacht“ wurden und konsequenterweise „einen wirklichkeitskonstruierenden Charakter“ erhielten (ebd.). Ähnlich wie Tooze im erwähnten Aufsatz legen Bilo, Haas und Schneider das Hauptaugenmerk auf die in den Statistiken eingeschriebenen Informationen, Kategorien und Ordnungsvorstellungen, ohne den weiteren institutionellen Rahmen außer Acht zu lassen (v. a. S. 12ff.). Der Erkenntnisgewinn der einzelnen Beiträge hängt besonders davon ab, ob es den Autoren und Autorinnen gelingt, diese Aspekte gemeinsam zu behandeln – die staatliche bzw. institutionelle historische Statistik auf der einen, die Frage nach Wirklichkeitskonstruktionen auf der anderen Seite.

 

Die Aufsätze von Christa Kamleithner und Theresa Wobbe nehmen eine solche übergreifende Perspektive ein. Kamleithner legt nicht nur überzeugend dar, dass Akteure aus der Hygienebewegung und Stadtplanung die Einrichtung und die frühen Arbeiten des Statistischen Bureaus von Berlin prägten, sondern zeigt darüber hinaus, dass die Statistiken sowie die aus ihnen entwickelten Stadtpläne, Tabellen und Diagramme für das Bild der Stadt im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert maßgeblich waren. So fanden spezifische, auf die Hygienebewegung zurückzuführende Denkordnungen Eingang in die Politik und schlugen sich in baulichen Modernisierungsverfahren nieder. Am Beispiel der internationalen Standardisierungsbemühungen um die Kategorie „Erwerbstätigkeit“ kann Wobbe nachzeichnen, dass die International Labour Organization (ILO) wesentlich dazu beitrug, eine sich besonders auf Frauen negativ auswirkende „Klassifikation von Arbeit“ (S. 169) zu etablieren: Insbesondere Hausarbeit wurde nicht in die Kategorie der „gainful occupations“ eingeordnet (S. 168) und galt damit als unproduktiv. Dass die ILO überhaupt ein so großes Interesse an einheitlichen Kategorisierungen entwickelt hatte, hing wiederum mit ihrer Hauptaufgabe zusammen, über „die Generierung von Wissen zur internationalen Regulierung der Arbeitsbedingungen durch soziale Normen“ beizutragen (S. 163) und langfristig das Profil des Völkerbundes bzw. später der Vereinten Nationen als „centre of calculation“ zu schärfen (S. 171).

 

Wolfgang Göderle erweitert die bisherige, reichhaltige Forschung zur Volkszählung von 1869 im Habsburgerreich durch eine detaillierte Analyse der hinter dieser Art von Statistik liegenden Datenerhebungsprozesse. Er stellt dar, inwiefern eine spezifische Beziehung von Verwaltung und Wissenschaft „als Ressourcen für einander“ (S. 121 – in Anknüpfung an Mitchell G. Ash) bewirkte, dass „ein neues bürgerliches Weltbild“, in diesem Fall künstlerisches und wissenschaftliches Denken, in die Sphäre der Administrativstatistiker einzog, die „noch wenige Jahre zuvor ausschließlich der Pragmatik des neoabsolutistischen Machterhalts vorbehalten war“ (S. 117). Anhand der Einführung des „Zählungskatasters“ kann er zeigen, wie sich mediale Repräsentationen wandelten und – immer dann, wenn die Kataster leer blieben – „ein Negativbild des zu vermessenden Staates“ konstruiert wurde (S. 114). Im Sinne der Forschungsperspektive des Sammelbandes hätte man sich noch gewünscht, mehr darüber zu erfahren, inwiefern das Selbstverständnis der datenerhebenden Personen auch Einfluss auf die Kategorien des Zensus gehabt hat.

 

Einige weitere Beiträge orientieren sich stärker an system- und staatstheoretischen Ansätzen. Sie geben einen Einblick in verschiedene historische Kontexte, in denen Statistik als Regierungswissen neue Institutionen hervorbrachte (Axel C. Hüntelmann zur Medizinalstatistik) oder als administrative Selbstkontrolle fungierte (Christina Rothen und Thomas Ruoss zur Schulstatistik). Franziska Hupfer problematisiert anhand der schweizerischen Niederschlagsstatistik (1860–1920) die symbiotische Beziehung zwischen Naturwissenschaften und Nationalstaat (S. 74). Diese Beiträge enthalten eine Fülle von Informationen über die institutionellen, personellen oder politischen Bedingungen der Datenerhebung. Sie behandeln die Frage, wie „Statistiken Realität repräsentieren“ (S. 10), jedoch eher am Rande. So hätte man sich bei Hupfer eine Vertiefung ihrer Eingangsthese gewünscht, dass sich „ein komplexer Konstruktionsprozess und nicht etwa ein Akt simpler Repräsentation“ vollzieht, wenn „Naturwirklichkeit in Tabellen, Grafen oder Diagramme transformiert wird“ (S. 73f.). Die spannende Beobachtung, dass die meteorologische Datenerfassung den „Eindruck eines natürlich zusammengehörigen Raumes“ erweckt und „die ideologische Konstruktion der Nation“ unterstützte (S. 74), wird im weiteren Verlauf des Aufsatzes nur ansatzweise anhand der Statistiken untersucht. Den Beitrag von Rothen und Ruoss nennen die Herausgeber eingangs als Beispiel für die verschiedenen Klassifizierungsmöglichkeiten der Bildungsstatistik (S. 16). Aber hier geht es vor allem um „den Aufstieg von Statistik in der Schulverwaltung“, also um „unterschiedliche Funktionen“ der Statistik, nicht um die Klassifikationen selbst (S. 123).

 

An der Gesamtkonzeption des Bandes ließe sich bemängeln, dass Titel und Inhalt nicht gut aufeinander abgestimmt sind. Der griffige Obertitel „Die Zählung der Welt“ suggeriert, es gehe entweder um historische Versuche, die Welt als globalen Zusammenhang statistisch zu erfassen, oder aber darum, möglichst viele Weltteile und die in ihnen stattfindenden, thematisch vielfältigen, lokalen oder nationalen Statistikproduktionen zu untersuchen. Leider wird weder das eine noch das andere konsequent umgesetzt: Zwar will sich der Band „nicht auf eine westliche Binnenperspektive verengen“ (S. 10), aber sowohl die Einleitung als auch sieben weitere Beiträge nehmen diesen Blickwinkel ein und beschäftigen sich mit Deutschland, der Schweiz, Österreich oder den USA. Dass zwei weitere Aufsätze mit China eine nicht-westliche Weltregion einbeziehen (Hajo Frölich, Andrea Bréard), ist lobenswert und spannend, rechtfertigt aber den „globalen“ Titel nicht. Die internationale Statistik wird immerhin an zwei Stellen thematisiert (Theresa Wobbe, Martin Bemmann), wobei auch hier die westliche Perspektive im Vordergrund steht. Abgesehen von der geografischen Einordnung passt der Untertitel nicht so recht zu den Beiträgen im Band: Auf dem Cover sind drei Jahrhunderte angekündigt, während die Einleitung den Untersuchungszeitraum auf das 19. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts festlegt (S. 10).

 

Ferner fällt die dominierende nicht-inklusive Sprache auf. Das generische Maskulinum wird auch in der Einleitung nicht hinterfragt oder kommentiert. Zudem fehlt jeder Hinweis auf die Statistik als ein Instrument, mit dem Geschlechterbeziehungen historisch erst konstruiert und verfestigt wurden. Dabei zeigt Theresa Wobbes Text diese Zusammenhänge eindrücklich. An einigen Stellen hätte es darüber hinaus eine sprachliche Bearbeitung gebraucht, um unverständliche Satzkonstruktionen aufzulösen (z. B. S. 121). Die anfängliche Freude über das in einigen Aufsätzen abgedruckte Bildmaterial wird punktuell dadurch getrübt, dass dieses nicht sinnvoll in den Fließtext eingebunden ist. An einer Stelle unterbricht ein Faksimile gar ein eingerücktes längeres Zitat (S. 229).

 

Trotz dieser Kritikpunkte bleibt positiv hervorzuheben, dass sowohl die Einleitung als auch die Beiträge manche Denkanstöße und spannende Erkenntnisse bieten. So verweisen die Herausgeber zu Recht auf das Forschungsdesiderat hinsichtlich der „zivile[n] Wissensproduktion durch Zahlen“ (S. 12; „zivil“ ist hier in Abgrenzung vom Staat und seiner Bürokratie gemeint, nicht speziell vom Militär). Sie ziehen eine Verbindungslinie zur heutigen Praxis privater Großunternehmen wie Facebook und Google, massenweise Daten über ihre Nutzer und Nutzerinnen zu sammeln (S. 15). Einige Beiträge legen explizit Wert darauf, bisher wenig beachtete oder aufgrund einer schwierigen Quellenlage kaum zugängliche Bereiche der Statistikproduktion zu erschließen. Heinrich Hartmann etwa fragt in seinem Aufsatz über „Behavioralismus als statistisches Paradigma der Modernisierung“ danach, wie „[s]tatistische Kategorien […] zu Elementen werden, mit denen sich Individuen identifizieren“ (S. 237). Hajo Frölich interessiert sich für die – intendierte wie nichtintendierte – Selbstbeschreibung der Befragenden (in diesem Fall die schwache chinesische Zentralregierung im frühen 20. Jahrhundert) durch die Statistiken. Wer Anregungen für neue Themen im Bereich der Kulturgeschichte der Statistik sucht, wird in diesem Sammelband fündig werden, auch wenn eine einheitliche Forschungsperspektive nicht ganz durchgehalten wurde.

 

Anmerkungen:
[1] Adam Tooze, Die Vermessung der Welt. Ansätze einer Kulturgeschichte der Wirtschaftsstatistik, in: Hartmut Berghoff / Jakob Vogel (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivwechsels, Frankfurt am Main 2004, S. 325–351.
[2] Michael C. Schneider, Wissensproduktion im Staat. Das königlich preußische statistische Bureau 1860–1914, Frankfurt am Main 2013.
[3] Stefan Haas, Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800–1848, Frankfurt am Main 2005.
[4] Ders. / Clemens Wischermann (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Geschichte. Wissenschaftstheoretische, mediale und lebensweltliche Aspekte eines (post-)konstruktivistischen Wirklichkeitsbegriffes in den Kulturwissenschaften, Stuttgart 2015.

 

 

 

 

 

 

[Regionalforum-Saar] W. v. Hippel: Hermann R öchling

Date: 2019/06/20 09:35:51
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Hermann Röchling 1872–1955. Ein deutscher Großindustrieller zwischen Wirtschaft und Politik. Facetten eines Lebens in bewegter Zeit

 

von Hippel, Wolfgang

 

Göttingen 2018: Vandenhoeck & Ruprecht

Umfang 1.086 S., 34 Abb., 8 Tab.

Preis € 90,00

ISBN

978-3-525-31062-5

 

Rezensiert für H-Soz-Kult von Rainer Möhler, Historisches Institut, Universität des Saarlandes

 

Das Saarland kann zeithistorisch betrachtet als eine „verspätete“ deutsche Region bezeichnet werden: Erst nach dem Ersten Weltkrieg im Versailler Vertrag als Verwaltungseinheit „Saarbeckengebiet“ definiert und unter Völkerbundsherrschaft gestellt, vollzog sich der Aufstieg der NSDAP zu einer ernstzunehmenden Partei in dieser „katholisch-proletarischen Provinz“ (Gerhard Paul) nur mit großer Verzögerung, begann die nationalsozialistische Herrschaft erst mit dem 1. März 1935, trat das seitdem als „Saarland“ bezeichnete Gebiet erst zum Jahresbeginn 1957 der Bundesrepublik Deutschland bei und erst 1958, acht Jahre nach den vergleichbaren Richtlinien des Bundestages, wurde ein Gesetz zum „Abschluss der Maßnahmen zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus“ verkündet. Während sich der Verlauf der zeithistorischen Erforschung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wenig von der allgemeinen bundesdeutschen Landesgeschichtsschreibung unterscheidet, brach erst vor etwa zehn Jahren ein regionaler „Historikerstreit“ um die Bewertung einzelner NS-belasteter saarländischer Persönlichkeiten aus.[1]

 

Im Zentrum dieser erinnerungspolitischen, stark emotionalen Debatte steht seitdem neben den ehemaligen Ministerpräsidenten Heinrich Welsch und Franz-Josef Röder vor allem der Saarindustrielle Hermann Röchling (1872–1955), der wie kein anderer die Spezifika der saarländischen Zeitgeschichte als die einer deutsch-französischen Grenzregion im Zeitalter der Weltkriege verkörpert – allein seine zweimalige Verurteilung durch französische Militärgerichte als „Kriegsverbrecher“ nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg dürfte ein Unikum sein. Seine extrem gegensätzlichen Beurteilungen reichen von „reaktionärer Kapitalist“, „Hitler-Freund“ und „Annexionsimperialist“ bis hin zu einer heute noch vor Ort in Völklingen spürbaren Verehrung als sozial engagierter Unternehmer, innovativer Techniker und jahrzehntelang erfolgreicher Arbeitgeber und Geschäftsführer der Röchling’schen Eisen- und Stahlwerke GmbH. Der von ihm in der NS-Zeit für „seine“ Arbeiter initiierte Siedlungsbau im Stadtteil Bous hatte anlässlich seines 70. Geburtstags 1942 den Namen „Hermann-Röchling-Siedlung“ erhalten, war 1945 in „Bouser Höhe“ entnazifiziert worden, um ein Jahr nach der zweiten Saarabstimmung vom 23. Oktober 1955 erneut in „Hermann-Röchling-Höhe“ umbenannt zu werden. Nach einer heftigen Debatte einigte sich der Völklinger Stadtrat 2013 auf den leicht geänderten Namen „Röchling-Höhe“ – ein Ende des Streits ist auch heute noch nicht in Sicht.[2]

 

Mit dem monumentalen Werk von Wolfgang von Hippel liegt jetzt, über 60 Jahre nach dem Tode Hermann Röchlings am 24. August 1955, die erste ausführliche wissenschaftliche Biografie zu seiner Person vor. Bei einem Umfang von über 1.000 Seiten, 3.560 Fußnoten, 18 Seiten Literaturverzeichnis und einer fünf Seiten umfassenden Zeittafel – das Ganze fast zwei Kilogramm schwer – liegt die Vermutung nahe, dass es sich hierbei um eine abschließende, alles umfassende Untersuchung zu Röchlings Leben und Wirken handele. Bereits der vom Autor gewählte Untertitel „Facetten eines Lebens“ deutet jedoch an, dass von Hippel dieser Erwartung von Anfang an entgegentreten will. Der Hauptgrund für die angesichts der historischen Bedeutung der Person doch erst sehr späte Inangriffnahme einer biographischen Erforschung und die sympathisch bescheidene Selbsteinschätzung des Autors liegt in der Quellenlage: Zwar stand ihm als erstem unabhängigen Historiker überhaupt das gesamte Familien- und Unternehmensarchiv der Firma Röchling in der Mannheimer Hauptverwaltung offen, das er, nachdem er es zunächst archivalisch verzeichnen und ordnen musste, uneingeschränkt auswerten konnte; das Archiv ist jedoch lückenhaft, da Röchling in den letzten Kriegswochen eine umfangreiche Aktenvernichtung von ihn kompromittierenden Unterlagen durchführen ließ. Ebenfalls im Mannheimer Familien- und Unternehmensarchiv vorhanden sind als Depositum die Unterlagen des 2004 verstorbenen Rechtsanwalts Otto Kranzbühler, der Röchling im Rastatter Kriegsverbrecherprozess 1948/49 verteidigte und danach die Gnadenkampagne organisierte. Für den Leser unklar bleibt der genaue Umfang der weiteren Archivarbeit von Hippels; ausdrücklich erwähnt wird von ihm nur das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes. Die französischen staatlichen Archive, die für dieses Thema von zentraler Bedeutung sind, wurden von ihm nicht konsultiert; der problemlose Zugang zu allen Unterlagen zum Zweiten Weltkrieg, von Premierminister Manuel Valls am 24. Dezember 2015 verkündet, war allerdings für seine Forschungsarbeit zu spät erfolgt.[3]

 

Von Hippels biographische Untersuchung ist eine Auftragsarbeit der Firma Röchling. Im Gegensatz zur älteren Darstellung von Gerhard Seibold, der vor allem für den familieninternen Gebrauch ein hagiographisches Bild „der Röchlings“ zeichnete, ist sich von Hippel stets seiner Verantwortung als kritischer, unabhängiger Historiker bewusst gewesen, der sich aber eine solche Gelegenheit, ein bislang und wohl auch weiterhin der Öffentlichkeit verschlossenes Archiv auswerten zu können, nicht entgehen lassen wollte.[4] Dieser privilegierte Aktenzugang veranlasste ihn, in seine Darstellung umfangreiche Quellenzitate einzubauen und die zu Recht berühmt-berüchtigte Denkschrift Röchlings vom August 1936, „Gedanken über die Vorbereitung zum Kriege und seine Durchführung“ (S. 412–417), komplett abzudrucken; sein Buch soll erklärtermaßen auch den Charakter einer „quellenmäßig überprüfbare[n] Dokumentation“ (S. 15) haben.

 

Von Hippel gliedert seine Darstellung in 21 Kapitel, die von sehr unterschiedlichem Umfang sind: Einzelne umfassen weniger als zehn Seiten (zum Beispiel das Kapitel XVI zu den Rüstungsprojekten „Röchling-Granate“ und der Wunderwaffe V3-„Hochdruckpumpe“), mehrere zwischen 50 und 80 Seiten; das ausführlichste Kapitel IV zum Saarkampf in der Völkerbundszeit umfasst dagegen über 130 Seiten. Die Gliederung ist überwiegend biographisch-chronologisch, zum Teil aber auch thematisch (die Kapitel XII bis XVII widmen sich Themen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges); es ist zu vermuten, dass von Hippel die archivalische Ordnung auch seiner Darstellung zugrunde legte. Die Untersuchung schließt mit einer ausführlichen Betrachtung des „Lebensabends“ im Kriegsverbrechergefängnis in Wittlich, der erfolgreichen Gnadenkampagne, die zur vorzeitigen Freilassung im August 1951 führte, sowie einem resümierenden Kapitel über „Hermann Röchling im Urteil von Mit- und Nachwelt“, das auch etwas versteckt von Hippels Fazit (S. 1.022–1.027) enthält. Das Buch ist durchweg gut lesbar geschrieben, zuweilen sehr detailfreudig, vereinzelt auch mit Wiederholungen im Text. Im Großen und Ganzen gibt es jedoch nur wenig Kritisches zu vermerken: Bei einzelnen Themen ist die Literaturgrundlage etwas dünn beziehungsweise einseitig, wenn von Hippel zum Beispiel beim Röchling-Prozess nach dem Ersten Weltkrieg vor allem auf Röchling selbst und die zeitgenössische Schrift des Verteidigers seines Bruders Robert, Friedrich Grimm, einem völkisch-rechtsextremen Juristen, verweist; störend wirken auch die in wissenschaftlichen Texten unüblichen Verweise auf Wikipedia-Seiten.

 

Wolfgang von Hippel ist es gelungen, eine informative, distanziert-kritische, um ein ausgewogenes Urteil bemühte Biographie zu schreiben. Hermann Röchling war zeitlebens eine Unternehmerpersönlichkeit, die es verstand (oder zumindest versuchte), das wirtschaftliche Wohlergehen seines Familienunternehmens mit betont deutsch-nationalen politischen Aktivitäten zu verbinden. Zu seiner Zeit bedeutete dies, dass er sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg versuchte, mit militärischer Rückendeckung den Einflussbereich seines Unternehmens weit in den lothringischen Raum zu erweitern, und dass er in der Völkerbundszeit zum wichtigsten Vorkämpfer für die Rückkehr des Saargebietes zum Deutschen Reich wurde. Mit dem Regierungsantritt Hitlers wandelte er sich umgehend zu einem glühenden Verehrer des Führers, den er unaufgefordert mit Briefen und Denkschriften versorgte, deren antisemitische Sprache und Inhalt sich nicht von nationalsozialistischer Propaganda unterscheiden. Darüber hinaus profilierte sich Röchling gegenüber Rüstungsminister Speer mit Vorschlägen zur besseren Ausbeutung der Arbeitskräfte in den besetzten Ländern („Nutzbarmachung der Menschenreserven in den besetzten Gebieten“) und unterhielt für sein Völklinger Werk ein eigenes Arbeitserziehungslager in Etzenhofen, in dem Zwangsarbeiter unter menschenunwürdigen Bedingungen zur „deutschen Arbeit“ umerzogen und misshandelt wurden. Charakteristisch für von Hippels Urteil ist hier sein Hinweis, dass Etzenhofen zwar das einzige derartige Arbeitserziehungslager im Saarland war, andere Unternehmen ihre „delinquenten“ ausländischen Arbeitskräfte jedoch in das Saarbrücker Gestapolager „Neue Bremm“ einweisen ließen, in dem weit schlimmere Zustände herrschten (S. 779).

 

Seit Beginn des Zweiten Weltkrieges häufte Hermann Röchling neben seinen Führungspositionen im Röchling’schen Firmengeflecht sowie 16 Mitgliedschaften in Aufsichtsräten eine Fülle von Ämtern im wirtschaftspolitischen Bereich an. Die wichtigsten waren der Vorsitz in der Reichsvereinigung Eisen und das Amt des Reichsbeauftragten für Eisen und Stahl in den besetzten Gebieten. Reichsminister Speer würdigte seine Verdienste für die nationalsozialistische Rüstungswirtschaft noch im Dezember 1944 mit der persönlichen Verleihung des „Ritterkreuzes des Kriegsverdienstkreuzes mit Schwertern“. Von Hippel zählt außerdem noch weitere 33 Ehrenämter, Orden und Ehrenzeichen auf, die Röchling bis Kriegsende ansammelte. Und trotzdem musste auch Röchling erfahren, dass er im NS-Staat mit anderen Mächtigen um Einfluss und Führernähe konkurrierte: Anfangs war dies der „rote Gauleiter“ Josef Bürckel, der ihm im Streit um die Saarbrücker Casino-Gesellschaft, eine traditionelle Begegnungsstätte des gehobenen Bürgertums, die neuen Machtverhältnisse darlegte; nach Kriegsausbruch waren dies vor allem der Reichsminister Hermann Göring und die Vertreter der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie, die ebenfalls versuchten, in den Besitz der lothringischen Gruben und Werke zu gelangen.

 

Von Hippels Buch bietet eine immense Fülle von Informationen zu Hermann Röchlings Leben und Wirken, die weit über „Facetten eines Lebens in bewegter Zeit“ hinausgehen, und wird auf Jahrzehnte ein Standardwerk nicht nur zu dessen Person, sondern auch zur saarländischen Zeitgeschichte sein. Es zeichnet das Bild einer politisch äußerst stark engagierten Unternehmerpersönlichkeit, die zugunsten des Familienunternehmens und der Nation bereit war, „Kriegsverbrechen“ zu begehen, sich seit 1933 zu einem glühenden Hitler-Verehrer und radikalen Antisemiten entwickelte und sich bis zuletzt mit aller Energie dafür einsetzte, den nationalsozialistischen „Endsieg“ zu ermöglichen. Ohne solche mächtigen und einflussreichen Persönlichkeiten wie Hermann Röchling wäre es dem NS-Staat nicht möglich gewesen, seinem zentralen Ziel der Vernichtung des europäischen Judentums so nahe zu kommen. Eine angemessene historische „Würdigung“ seiner Person im öffentlichen Leben des Saarlandes steht noch aus.

 

Anmerkungen:
[1] Gerhard Paul, Die NSDAP des Saargebietes. Der verspätete Aufstieg der NSDAP in der katholisch-proletarischen Provinz, Saarbrücken 1987. Einen Einstieg in den neueren Forschungsstand bietet: Hans-Christian Herrmann / Ruth Bauer (Hrsg.), Widerstand, Repression und Verfolgung. Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus an der Saar, St. Ingbert 2014. Typisch für Form und Inhalt des „saarländischen Historikerstreits“ ist die Ausgabe 117/118 der Saarbrücker Hefte 2018.
[2] Knappe biografische Informationen zu Röchling bieten u. a.: Ralf Banken, Art. „Röchling, Hermann“, in: NDB 21 (2003), S. 705f.; Hans-Christian Herrmann, Hitlers willige Helfer – ein saarländischer „Held“. Der Völklinger Stahlindustrielle Hermann Röchling als Nazi-Größe und Wortführer seiner Landsleute, in: saargeschichten 3 (2012), S. 4–11. Neueren Forschungsstand bieten die beiden von Meinrad Maria Grewenig herausgegebenen Sammelwerke: Die Röchlings und die Völklinger Hütte [Katalog zur Ausstellung], Völklingen 2014 und: Internationale Wissenschaftliche Konferenz. Die Röchlings und die Völklinger Hütte, Völklingen 2016.
[3] „Arrêté ministériel portant ouverture d'archives relatives à la Seconde Guerre mondiale“ vom 24.12.2015, abgedruckt in: Journal officiel, 27.12.2015, https://francearchives.fr/fr/actualite/440,55# (24.05.2019).
[4] Gerhard Seibold, Röchling. Kontinuität und Wandel, Stuttgart 2001. Auf der Website der Röchling-Gruppe finden sich keinerlei Hinweise auf das Archiv: https://www.roechling.com/de/roechling-gruppe/historie (24.05.2019).

 

 

 

 

[Regionalforum-Saar] Logik und Lücke. Zur Konstr uktion des Authentischen in Archiven und Sammlungen

Date: 2019/06/25 08:31:54
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Als institutionalisierte Gedächtnisse einer Gesellschaft werden Archive und (museale) Sammlungen allzu oft mit der Bewahrung des „Authentischen“ gleichgesetzt. Da Sammeln jedoch kein bloßes Anhäufen darstellt, sondern schon immer ein bewertendes Selektieren beinhaltet, sind Auswahl und Kassation die Regel. Die Kriterien hierfür werden immer wieder geändert und institutionell neu verhandelt, oft aber nicht transparent gemacht. Dieses Vorgehen hinterlässt unterschiedlich deutlich erkennbare Spuren, mal als dokumentierter Hinweis, mal als Lücke. Was im Archiv, in Sammlungen und Museen vorzufinden ist, ist somit nicht das Abbild einer wie auch immer verstandenen vergangenen Realität, sondern eine Konstruktion des „Authentischen“. Den damit einhergehenden Authentisierungspraktiken in Museen, Archiven und Sammlungen ging die Tagung nach. Sie zielte darauf ab, danach zu fragen, „wie politische, gesellschaftliche, institutionelle und technische Faktoren sowie ein wechselndes Geschichts- und Wissenschaftsverständnis Sammlungsstrategien und -ziele beeinflusst haben“. Die Tagung wurde im Rahmen des Leibniz-Forschungsverbundes „Historische Authentizität“ konzipiert und brachte Vertreter/innen unterschiedlicher Archive zusammen, um fächer- und institutionenübergreifend spezifischen (Eigen-)Logiken und Lücken in den Gedächtnisinstitutionen Archiv und Museum und ihren unterschiedlich gelagerten Sammlungen auf die Spur zu kommen. Anhand exemplarischer Zugänge widmeten sich die vier Panels Sammlungs- und Ordnungslogiken, verschiedenen Archiv- und Sammlungslücken, sogenannten Umbruchssammlungen sowie Authentisierungspraktiken zwischen Materialität und Digitalität als Marker für „Authentizität“.

Nach einer Begrüßung und einleitenden Worten durch WILHELM FÜßL (München) eröffneten ANDREAS LUDWIG (Potsdam) und ACHIM SAUPE (Potsdam) die Tagung. Logiken und Lücken seien entscheidende Faktoren dafür, was in Gedächtnisinstitutionen als „authentisch“ markiert werde. Ihre Analyse könne Aufschluss über die Deutungsmacht von Institutionen geben und damit zusammenhängende Auswahl- und Anordnungsprozesse deutlich machen. Anhand konkreter Fallbeispiele sei danach zu fragen, was beim Sammeln und Archivieren ausgeblendet und überblendet werde, und welche Auswirkungen Verlust und Bestandslücken für das kulturelle Gedächtnis hätten. Mit einem Überblick über Aufkommen und Verwendung des Begriffes „Authentizität“ in einer historischen Perspektive lenkte Saupe den Fokus auf Authentisierungsstrategien und -praktiken im Archivdiskurs einerseits und in der archivalischen Arbeit andererseits. „Authentizität“ sei nicht eine Eigenschaft der Dinge, sondern als ein komplexer Bestimmungs-, Zuschreibungs- und Autorisierungsprozess zu verstehen. Mit einem prozessualen Authentizitätsverständnis, das Alltagspraktiken beleuchte und Machtfragen nicht ausblende, könne im besten Fall die oft zu beobachtende Differenz zwischen einem poststrukturalistischen, metaphorischen Archivbegriff und den theoretisch-methodologischen Standortbestimmungen der Archivwissenschaft, wenn nicht überwunden, so doch in eine produktive Spannung versetzt werden.

Das erste Panel begab sich auf die Spur von (historisch gewachsenen) Sammlungs- und Ordnungslogiken in unterschiedlichen Archiven mit Fokus auf „Authentizität“. Haben Illustrationen auf Briefköpfen, Hängeanleitungen für die Ausstellung oder Vorskizzen zu Kunstwerken bereits Kunstwert oder vor allem dokumentarischen Wert? Auf ebendiese Aushandlungen für Kunstarchive ging BIRGIT JOOSS (Kassel) ein, denn Dokumente, die sowohl Text als auch Bilder enthalten, seien oft schwer einzuordnen. Je nach Zuordnung ändere sich zudem die institutionelle Zuständigkeit – Archiv oder Museum. Damit einher gingen weitere Konsequenzen: konservatorische Aspekte, Erschließungspraktiken und nicht zuletzt Zugänglichkeit für die Forschung. Doch trennscharfe Grenzen seien nicht zu ziehen, vielmehr handele es sich dabei um Einzelfallentscheidungen. So stünden Institutionen mitunter vor der Frage, ob Kunstwerke zu behalten seien oder ins Museum gegeben werden sollten. Die Rezeption würde sich so ändern, ob dies auch Einfluss auf ihre „Authentizität“ habe, bliebe offen.

Mit dem Bewusstsein um die Subjektivität der Quelle, ihrer Bewertung und Interpretation sowie Möglichkeiten erhöhter Objektivität durch Transparenz befasste sich SUSANNE FREUND (Potsdam). Anhand eines aktuellen Forschungsprojekts stellte sie Forschungs- und Lernprozesse des Fachbereichs Informationswissenschaften der Fachhochschule Potsdam vor. Angestrebt ist ein institutionenübergreifendes Quelleninventar zur deutschen Kolonialgeschichte in Form eines Webportals, das Metadaten an einer zentralen Stelle im Internet sammelt und bereitstellt. Durch das Zusammentragen von Informationen seien spezifische institutionelle Logiken erkennbar geworden, die das Gedächtnis deutscher Kolonialgeschichte charakterisierten. Die Verwaltungsakten gewährten Einblick aus Sicht der Kolonialherren, erzählten jedoch nicht die Perspektive der Kolonialisierten. Dies aufzubrechen und andere Dokumente zu finden, wie z. B. persönliche Zeugnisse, sei die Aufgabe des mit dem Forschungsprojekt verbundenen Webportals, um dem Ziel „Historischer Authentizität“ durch Kontrastierung von Quellenkorpora näher zu kommen.

Welche Rolle Zufall und das Fehlen institutionalisierter archivarischer Strukturen bei der Entstehung von Sammlungslogiken und Lücken spielen können, zeigte UTE KLATT (Mainz) am Beispiel des Bildarchivs des Römisch-Germanischen Zentralmuseums (RGZM). Das Ziel einer vergleichenden und möglichst vollständigen Kopiensammlung von Altertümern wurde zu Beginn unter anderem mit Hilfe von Zeichnungen sowie später mit zugesandten Fotografien von Objekten aus anderen Sammlungen verfolgt – welche Abbildungen somit ins Bildarchiv gelangten, hing zum Teil vom jeweiligen Schenker ab. Hier stellt sich die Frage, ob anhand dieses fotografischen Bestandes die damals vorherrschenden Austauschnetzwerke nachgezeichnet werden können. Die zunehmende Professionalisierung und Ausbildung im Restaurierungssektor wiederum, hatte zur Folge, dass mit der Zeit vermehrt Fotografien entstanden, die die unterschiedlichen Arbeitsschritte am Objekt festhielten. Darüber hinaus verweise das RGZM-Archiv auf eine hausinterne Dokumentarfunktion: so wurden eigene Ausstellungen, Institutsfeiern oder auch Bombenschäden im Zweiten Weltkrieg fotografisch festgehalten. Auf diese Weise sorge das Bildarchiv dafür, dass dieses auch als Medium der Authentisierung des Museums selbst diene.

Das zweite Panel widmete sich ganz dem Thema „Lücke“. Lücken entstehen durch unvollständig erworbene bzw. gestiftete Quellensammlungen oder auch durch selektive Quellenauswahl in Archiven und Museen. DIETMAR SCHENK (Berlin) verdeutlichte in seinem Vortrag die Herausforderung einer eigenen „Archivtheorie“ der Archivwissenschaft, die unabhängig von einer rein kulturwissenschaftlichen Perspektive zu Archiven (und ihren Lücken) zu etablieren sei. Archivalien seien immer schon als ein „authentischer“ Zugang zur Geschichte, Archive quasi als Zeitmaschinen mit unmittelbarem Zugang zur Vergangenheit betrachtet worden. Doch obwohl die Vorstellung von „Authentizität“ immanent für Archive sei, benötige die Archivwissenschaft einen brauchbaren Begriff des „Authentischen“, der noch nicht gefunden wurde.

WILHELM FÜßL (München) betonte die oft problematische Überlieferung von Nachlässen. Von Quellen zu sprechen hieße, von Lücken zu sprechen. So seien Nachlässe etwa per se lückenhaft, da Bestände bereinigt und einzelne Dinge dem Archiv vorenthalten, verkauft, entsorgt oder anderweitig verschenkt würden. Füßl machte wie schon Birgit Joos darauf aufmerksam, dass auch Objekte zu Nachlässen gehören und damit zu archivierende Dinge seien – gerade auch hier sind Lücken zu verzeichnen: Oft würden nur „Erfolgsgeschichten“ bewahrt, Misserfolge jedoch nicht. Gerade in derartigen Fällen fehlten dann Apparaturen oder Materialproben in Nachlässen von Naturwissenschaftlern.

CLAUS LUDL (München) widmete sich der Frage, wann Lücken evident würden bzw. wann sie wahrzunehmen seien. In seinem Vortrag entwickelte er aus einem Panorama von Fallbeispielen eine Matrix möglicher Lücken, die in Sammlungen entstehen können. Wichtig wäre daher die Frage, ob und wie Lücken wahrgenommen würden. Fällt eine Lücke auf oder ist sie nur indirekt zu schlussfolgern? Anhand von Lücken ließe sich einerseits Wissen (re)konstruieren oder auch Nicht-Wissen generieren.

Am Abend hielt HELMUTH TRISCHLER (München) die Keynote über Sammlungslogiken in den Gedächtnisinstitutionen Archiv, Museum und Bibliothek. Als aktuelle Herausforderung widmete er sich der Spezialisierung von Gedächtnisinstitutionen (weg von der „Vollversorgung“ bzw. dem Anspruch, das Wissen der Welt zu sammeln) sowie den Konzepten des „Entsammelns“ und „Sammelns im Verbund“. Er diskutierte drei Fallbeispiele: das Deutsche Museum München, das Technische Museum Wien sowie das Science Museum London. Dabei beschrieb er exemplarisch verschiedene Sammlungsstrategien und -logiken, d. h. die systematische Sammlung, die zufällige Sammlung sowie die historisch gewachsene Sammlung. Gedächtnisinstitutionen seien „Authentisierungsmaschinen“, die Sammlungen im Wechselspiel mit der öffentlichen Rezeption authentisieren würden. Heute würden diese Praktiken um die Provenienzforschung ergänzt, und gerade im Spannungsfeld der Digitalisierung und „Authentizität“ entstünden Chancen und Herausforderungen.

Im dritten Panel wurden „Umbruchssammlungen“ thematisiert. Dabei stand die Frage im Raum, wie Sammlungen und Archive durch gesellschaftliche Umbrüche und institutionelle oder personelle Neuausrichtungen entstehen und sich verändern würden. PETER ULRICH WEIß (Potsdam) widmete sich unter den Schlagwörtern Ordnung und Diktatur dem Reichsarchiv bzw. dem Deutschen Zentralarchiv. Dabei zeichnete er Umwandlungen und Strukturveränderungen zwischen Nationalsozialismus und Staatssozialismus nach, im Sinne einer politisch-ideologischen Sammlungslogik. Echte und künstliche Lücken seien etwa aufgrund von Geheimhaltungsstrategien somit „logisch“ in Sammlungen von Diktaturen.

KAI DREWES (Erkner) befasste sich mit dem Architekturhistoriker Kurt Junghanns und seinen Plänen eines DDR-Architekturmuseums. Dabei hob er auch das „Scheitern des Sammelns“ hervor, da diverse Umbrüche im Archiv stattfanden und ein Architekturmuseum – obwohl immer noch „Gründungsmythos“ des Archivs – nie umgesetzt wurde. Kurt Junghanns Sammlungslogik war dabei einerseits systematisch, andererseits auch forschungsbezogen. Möglicherweise dienten die Pläne für das (nie realisierte) Museum auch als begünstigendes Argument zur Nachlassüberlassung bei Privatpersonen und gegenüber staatlichen Stellen.

MICHAEL FARRENKOPF (Bochum) thematisierte in seinem Vortrag das Ende des Bergbaus und die Frage nach dem „archivierten Bergbauerbe“. Dabei stand die Frage im Raum, wie bereits andernorts archivierte Bestände vom Deutschen Bergbau-Museum übernommen und erhalten werden könnten. Zum Beispiel führten schon frühere Zechenschließungen in den 1950er- und 1960er-Jahren zu Verlusten von Archivsammlungen. Das Deutsche Bergbau-Museum inklusive dem Montan-Archiv versucht dem entgegen zu wirken: sowohl mit digitalen Projekten im Internet, wie z. B. durch eine nationale Erhebung/Vernetzung des Bestandes von Sammlungen des Steinkohlebergbaus, als auch mit einer Subjektivierung und Personalisierung der Bergbau-Geschichte z. B. durch Oral History.

JÜRGEN BACIA (Duisburg) referierte über die freien Archive, die sich den neuen sozialen Bewegungen widmen – über ihre Probleme und Herausforderungen. Problematisch sei hier vor allem die Quellenlage sowie dahinter verborgene Logiken. Er erkannte eine Überlieferungslogik, einerseits bei den Bewegungen selbst, die sich „bewegen“ würden, mitunter auch von ihren Standpunkten weg, andererseits, weil diese Gruppen ihre Geschichte möglicherweise nicht bewahren oder aber nicht mit Dritten teilen wollen würden. Eine weitere Überlieferungslogik sah er bei den traditionellen Archiven, die einerseits keinen Zugang zu alternativen Milieus hätten, andererseits aufgrund ihrer Staatsnähe aber auch keinen finden würden. Die freien Archive wiederum wären unterfinanziert und müssten oft improvisiert arbeiten. Das vierte Problem sah er bei der Politik, bzw. bei der (mangelnden) Finanzierung der freien Archive durch diese. So blieb festzuhalten, dass jede dieser Logiken strukturbedingte Lücken produziere.

Das vierte Panel befasste sich mit den Auswirkungen des veränderten Verständnisses des Originalen und „Authentischen“ im digitalen Zeitalter und beleuchtete Authentisierungspraktiken im digitalen Archiv sowie beim Umgang mit Kopien. MARGIT KSOLL-MARCON (München) ging in ihrem Vortrag der Frage nach, inwiefern sich das Provenienzprinzip als Ordnungskriterium bei digitalen Informationen aufrechterhalten ließe, da u. a. Herkunft, Entstehung und historisch gewachsene Strukturen Authentizitätskriterien seien. Doch stehe man heute diesbezüglich vor Herausforderungen, denn beispielsweise datenschutzbegründete Löschroutinen oder serverbasierte (temporäre) Verknüpfungen bei digitalen Daten erschwerten die Dokumentation gemäß dem Provenienzprinzip. Gerade deswegen sei es wichtig, alsbald spartenübergreifende Kriterien für die Sicherstellung der „Authentizität“ bei digitalen Informationen aufzusetzen.

Nicht immer bedarf es des Originals, um zu etwas „Authentischem“ zu gelangen. Dies verdeutlichte ANNETTE FREY (Mainz) am Beispiel der archäologischen Kopiensammlung des RGZM, die 1852 angelegt wurde und der Wissenschaft als Grundlage für eine vergleichende Archäologie dienen sollte. Das Ziel, alle wichtigen Altertümer „der deutschen Länder“ an einem Ort zu versammeln, um deren Studium zu ermöglichen, war ohnehin nur mittels Kopien realisierbar. Für den Zweck, nämlich die Zusammenstellung einer systematischen Sammlung zur chronologischen und regionalen Bestimmung, waren Kopien ausreichend.

Die Tagung machte deutlich, wie sehr Logiken und Lücken die Sammlungen in Archiven und Museen bestimmen. Die Einblicke in die jeweiligen Arbeitsweisen unterschiedlicher Institutionen ließen dabei spezifische Sammlungslogiken und Authentizitätsvorstellungen erkennen. So zeigte sich, dass in Museen auch praktische Logiken des Sammelns vorherrschen und sich eine Sammlungslogik mitunter durch die Dialektik von Ordnung, Zufall, Forschungsinteressen und Lücken konstituiert. Hingegen scheint im Archivwesen ein anderer Vorgang vorzuherrschen: dort ist es vornehmlich die Performanz von Behörden oder Gruppen, durch die sich eine Logik des Archivierens und Sammelns ergibt. Nicht zuletzt zeigte sich, dass hinter diesen Sammlungspraktiken noch mehr steckt, nämlich eine Art der Selbsthistorisierung und Selbstidentifizierung von Institutionen. Dabei sind Lücken oft logisch – sowohl die „negativen“ Lücken, wie oft diskutiert, aber auch die „positiven“ bzw. begründeten Lücken, über die die Bestandsbildung einer Sammlung in Erfahrung zu bringen sei. Der Authentizitätsbegriff tauchte dabei in unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen auf, so in Bezug auf Originalität (das „echte“ Dokument), auf Überlieferungszusammenhang und Bestandsbildung (Authentisierung von Wissensbeständen) sowie in Bezug auf die Glaubwürdigkeit einer Institution (Akt der Autorisierung). In den Diskussionen wurde mehrmals deutlich, dass unter den Gedächtnisinstitutionen v. a. Vertreter/innen aus Archiven thematisierten, ob sie einen Begriff des „Authentischen“ bräuchten oder ob sie mit der Idee und der Praxis des Authentisierens operieren könnten. Dabei wurde betont, dass das Konzept „Authentizität“ nicht nur als theoretischer Analyserahmen, sondern als praxeologisches Werkzeug fungieren müsse. Denn Archive müssten Kassationspraktiken vornehmen und diese begründen, und schlussendlich müssten Archive somit das „Authentische“ bestimmen bzw. es als solches erklären. Von den Teilnehmer/innen wurde eine verstärkte archivtheoretische Auseinandersetzung in der Community gefordert. Auch eine Reflexion der Konsequenzen des eigenen archivarischen Handelns sei notwendig, nicht zuletzt für die Forschung, um Transparenz und Nachvollziehbarkeit eines weitgehend als Verwaltungshandeln rezipierten Tuns herzustellen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung: Wilhelm Füßl (Deutsches Museum, München), Andreas Ludwig (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam), Achim Saupe (Leibniz-Forschungsverbund Historische Authentizität)

Panel 1: Sammlungs- und Ordnungslogiken

Moderation: Andreas Ludwig (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam)

Birgit Jooss (documenta archiv, Kassel): Archiv oder Sammlung – Archivale oder Kunstwerk? Aus der Praxis in Kunstarchiven

Susanne Freund (Fachhochschule Potsdam): Historische Authentizität in Lehre und Forschung des FB Informationswissenschaften der FH Potsdam

Ute Klatt (Römisch-Germanisches Zentralmuseum, Mainz): Theorie und Praxis. Von der archäologischen Theorie zur Logik des Sammlungsaufbaus im Bildarchiv des RGZM

Panel 2: „Verlust“ und „Lücke“ als Kategorien von „Authentizität“

Moderation: [von Annette Frey übernommen] Elke Bauer (Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung, Marburg)

Dietmar Schenk (Universität der Künste, Berlin): Archivarische Kassationspraktiken und ihre Begründung

Wilhelm Füßl (Deutsches Museum, München): Überlieferungslücken, ihre Motive und Auswirkungen auf die kulturelle Überlieferung und die Geschichtswissenschaft

Claus Ludl (Deutsches Museum, München): „Reinigungsprozesse“ und Bestandbildung im Nachlass von Gernot Zippe (1917–2008)

Keynote

Helmuth Trischler (Deutsches Museum, München): Sammlungslogiken in Archiven, Bibliotheken und Museen – Realitäten und Konstruktionen

Panel 3: Umbruchssammlungen

Moderation: Achim Saupe (Leibniz-Forschungsverbund Historische Authentizität)

Peter Ulrich Weiß (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam): Ordnung und Diktatur. Politisch-ideologische Einflussnahmen auf Archivierungsprinzipien im Reichs- und Deutschen Zentralarchiv der DDR

Kai Drewes (Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung, Erkner): Der Architekturhistoriker Kurt Junghanns und die Planungen für ein DDR-Architekturmuseum

Michael Farrenkopf (Deutsches Bergbau-Museum Bochum): Auslauf einer Branche – Eine Zäsur für das archivierte Bergbauerbe als Authentizitätsinstanz?

Jürgen Bacia (Archiv für alternatives Schrifttum, Duisburg): Unsere Geschichte gehört uns! Die Archive der Neuen Sozialen Bewegungen

Panel 4: Authentisierungspraxen zwischen Materialität, Kopie und Digitalität

Moderation: Michael Farrenkopf (Deutsches Bergbau-Museum Bochum)

Margit Ksoll-Marcon (Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, München): Authentizität digitaler Archivierungen

Annette Frey (Römisch-Germanisches Zentralmuseum, Mainz): Frühe Sammlungslogik in der Kopiensammlung des RGZM

[ausgefallen] Elke Bauer (Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung, Marburg): Pertinenz und Provenienz oder die Vereinbarkeit des Unvereinbaren. Bildarchive und die Chance des digitalen Wandels