Monatsdigest

[Regionalforum-Saar] Führung über den jüdi schen Friedhof Ottweiler

Date: 2018/06/08 08:45:37
From: Hans-Joachim Hoffmann <hans-joachim-hoffmann(a)web.de>

Der Jüdische Friedhof Ottweiler – Ein Blick über die Mauer
Friedhöfe gesellschaftlicher Außenseiter?
Klaus Burr und Hans-Joachim Hoffmann laden in Kooperation mit der KVHS Ottweiler und der Synagogengemeinde Saar am Sonntag, den 10.06.2018, 17.00 Uhr zum Besuch ihrer Führung über den Jüdischen Friedhof ein. Der deutsch-jüdische Schriftsteller Heinrich Heine (1797-1856), der Deutschland auf Grund seiner liberalen politischen Einstellung verlassen und sein Leben im Exil in Paris verbringen musste, deutete in seinen „Reisebilder(n), Dritter Teil: Italien 1828, Reise von München nach Genua, Kap. XXX“ die Bedeutung von Friedhöfen an: „Ist das Leben des Individuums nicht vielleicht eben so viel wert wie das des ganzen Geschlechtes? Denn jeder einzelne Mensch ist schon eine Welt, die mit ihm geboren wird und mit ihm stirbt, unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte.“ Mit der Feststellung: „unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte“ behauptet Heine zumindest andeutungsweise, dass das Leben jedes Einzelnen von weltgeschichtlichen Ereignissen berührt, wenn nicht entscheidend beeinflusst und grundlegend verändert wird. Diese Einwirkung weltgeschichtlicher Ereignisse auf das Leben der BürgerInnen Ottweilers lässt sich am Beispiel des jüdischen Friedhofs und des benachbarten kommunalen Friedhofs veranschaulichen. Dazu einige Beispiele: Betritt man den Jüdischen Friedhof, so stellt man auf der rechten und linken Seite zunächst unbelegte Felder fest. Eine Skizze, erhalten in den Unterlagen des Friedhofsamtes der Stadt Ottweiler, liefert die Erklärung: Diese Fläche trennte die Stadt Ottweiler 1944 ab für die sog. „Ostarbeiter“, d.h. für in Ottweiler verstorbene Zwangsarbeiter. Die Eltern der hier bestatteten osteuropäischen (russischen) Zwangsarbeiter konnten bei der Geburt ihrer Kinder nicht ahnen, dass ihre Kinder durch die Eroberung Russlands verschleppt und in der Fremde ihr Leben lassen würden. „Weltgeschichte“ griff in ihr alltägliches Dasein ein und veränderte es grundlegend. Ein vergleichbares Schicksal erlitten die Vertriebenen der deutschen Ostgebiete während des Vorrückens der russischen Armee. Bei unseren bisherigen Führungen über den jüdischen Friedhof tauchte auch immer wieder die Frage auf: Was hat es mit dem danebenliegenden Friedhof auf sich, auf dem noch einige Grabsteine erhalten sind? Dazu müssen wir einen Blick in die Ottweiler Lokalgeschichte zurückwerfen. Über Jahrhunderte bestatteten die katholische und evangelische Kirche die Verstorbenen auf den der Kirchengemeinde gehörenden konfessionellen Friedhöfen. Nach dem Ersten Weltkrieg konstituierte sich im Zuge der politischen Umgestaltung spätestens 1920/21 eine Ortsgruppe der Kommunistischen Partei Deutschlands. Aufgrund ihrer atheistischen Ideologie kann es offensichtlich dazu, dass sich die Vertreter der Christlichen Kirchen weigerten, verstorbene Mitglieder der KP auf den konfessionellen Friedhöfen zu bestatten. Dies veranlasste Karl Sticher, den Sprecher der Stadtratsfraktion der KP, in der Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung am 26. Juli 1921 den Antrag zu stellen, einen „paritätischen Friedhof“ anzulegen. Zur Vorbereitung der Anlage dieses „paritätischen Friedhofs“ berief die Versammlung eine Kommission, um die damit verbundenen Fragen zu klären. Letztlich blieb dem Begehren der KP jedoch die Erfüllung ihres Wunsches versagt. Es sollte noch bis 1951/52 dauern, bis ein kommunaler Friedhof neben dem jüdischen Friedhof „Auf dem Burg“ angelegt wurde. Im Zusammenhang mit den Haushaltsberatungen des Stadtrates am 22. März 1949 wies der Beigeordnete Hermann Schmidt auf ein Problem bei der Bestattung hin: „Da „kein gemeindeeigener Friedhof vorhanden sei, sei in der Stadt Ottweiler für die Dissidenten und Feuerbestattler, insbesondere für Personen, die keiner Religionsgemeinschaft angehörten, ein Mißstand eingetreten dergestalt, daß den betreffenden große Schwierigkeiten bei der Beerdigung gemacht würden. Schmidt führte aus, daß sich die einzelnen Kirchengemeinden sogar schon bei Vorhandensein einer Leiche nicht bereit erklärt hätten, die Beerdigung durchzuführen. Erst nach Verhandlungen habe man die Leichen in der sogenannten Hundsecke unterbringen können. [...]. Schmidt stellte den Antrag, [...], daß die Dissidenten in Zukunft bei Beerdigungen gleichfalls wie die Angehörigen einer Religionsgemeinschaft einen ehrenvollen Platz auf dem Friedhof erhalten.“ (Sitzungsprotokoll vom 22.März 1949) Nur zögernd griff die Stadtverwaltung diesen Antrag auf, denn am 02.12.1949 trug der Beigeordnete Schmidt abermals diesen Wunsch im Auftrage des Feuerbestattungsvereins vor (Sitzungsprotokoll vom 02.12 1949). Daraufhin beauftragte der Stadtrat die Baukommission mit der Umsetzung. Verzögerung trat wegen Erkrankung einzelner Mitglieder und Überlastung der Baukommission ein, aber am 19.Mai 1950 beschloss der Stadtrat den Ankauf des Geländes neben dem jüdischen Friedhof. (Sitzungsprotokolle vom 23.Januar 1950 und 19. Mai 1950). Der Stadtrat fasste am 08.12.1950 den Grundsatzbeschluss zu Größe und Kosten des kommunalen Friedhofes: „[...] Dem von der Verwaltung vorgelegten Projekt zur Schaffung eines kommunalen Friedhofes auf dem städtischen Grundstück hinter dem jüdischen Friedhof wird zugestimmt. Es sind 180 Grabstätten vorgesehen. Die Kosten betragen 250.000 frcs. und sollen im Haushaltsplan 1951 bereitgestellt werden.“ (Sitzungsprotokoll vom 08.12.1950) In der Sitzung vom 19.12.1951 verabschiedete der Stadtrat die Friedhofssatzung, so dass wahrscheinlich Anfang 1952 die erste Bestattung auf dem kommunalen Friedhof stattfand. Auf der Basis des Sterberegisters beim Standesamt Ottweiler steht zu vermuten, dass die Dissidentin Maria Helene Baßler, die Frau des Gymnasialzeichenlehrers Friedrich Baßler, der 1933 die Ottweiler Ehrenbriefe für Adolf Hitler, Hermann Göring, Alois Spaniol und Paul von Hindenburg entworfen hatte, als erste auf dem kommunalen Friedhof bestattet wurde; sie starb am 22. März 1952 (Sterberegister Standesamt Ottweiler 22/1952). „Unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte.“ Der jüdische Friedhof Ottweiler, das einzig erhaltene Zeugnis jüdischen Lebens in Ottweiler, ermöglicht uns Nachgeborenen das Entstehen, Werden und die gewaltsame Vernichtung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur nachzuvollziehen, eingebettet in die lokale, regionale und nationale Geschichte. Die erhaltenen Grabmale zeigen uns zugleich eine Bestattungskultur auf, die sich von der christlichen und atheistischen grundlegend unterscheidet. Des Weiteren ruft der jüdische Friedhof das Schicksal der in Ottweiler verstorbenen bzw. ums Leben gekommenen Zwangsarbeiter in Erinnerung. Der kommunale Friedhof erinnert an die Ausgrenzung einer Bevölkerungsgruppe wegen ihrer parteipolitischen Orientierung. Obwohl Angehörige der Ortsgruppe der KP Ottweiler ihren Beitrag zur Entwicklung des Ortes geleistet haben, als Stadtverordnete Entscheidungen für die Einwohner trafen, stießen sie selbst angesichts des Todes auf Ablehnung der christlichen Kirchen vor Ort, die ihnen eine würdige Bestattung verweigerten. Politisch erfuhren Mitglieder der KP Ottweiler Verfolgung durch den Nationalsozialismus, verbunden mit Inhaftierung und/oder Emigration. Zur Erinnerung an das Schicksal einzelner politisch verfolgter Familien verlegt Gunter Demnig am 30. Oktober 2018 „Stolpersteine“. Bedacht werden dieses Mal die Familien Hermann John – Friedrich John – die Familien Pabst, deren Angehörige auch auf dem kommunalen Friedhof ihre letzte Ruhestätte fanden, und der Spanienkämpfer Werner Heinrich. Juden – „Ostarbeiter“ – Kommunisten: Sie lebten, arbeiteten und wirkten in Ottweiler. Verschüttet ist die Geschichte der sog. Ostarbeiter in Ottweiler, dem völligen Vergessen entgegen geht die Geschichte der KP Ottweiler, dem Vergessen entkommen ist die Geschichte der jüdischen Gemeinde Ottweiler dank der Erhaltung des jüdischen Friedhofs. Er regte an zur Aufarbeitung dieses Teils der Ottweiler Lokalgeschichte. Zu wünschen wäre, dass die wenigen, noch erhaltenen Grabmale auf dem „paritätischen Friedhof“ ebenfalls Anstoß gäben, die Geschichte der Ortsgruppe der KP aufzuarbeiten, wünschenswert auch Nachforschungen zu den sog. „Ostarbeitern“, die zur Zwangsarbeit aus ihrer Heimat verschleppt wurden. „Der Blick über die Mauer“ bietet eine weite Perspektive zur Erhellung einzelner Aspekte zur Ottweiler Lokalgeschichte. Dem Aspekt der jüdischen Bestattungskultur widmet Klaus Burr bei der Führung am 10.06.2018, um 17.00 Uhr sein besonderes Augenmerk; Hans-Joachim Hoffmann beschränkt sich auf Ausführungen zu einzelnen Grabmalen und zu der Bedeutung einzelner Familien. Dieses Mal stellt er das Leben der Familie Samuel Levy in den Mittelpunkt. Treffpunkt: Jüdischer Friedhof Maria-Juchacz-Ring, Ottweiler.- vom Schwimmbad kommend – rechts in den Maria-Juchacz-Ring einbiegen – nach ca. 50 m links Aufgang zum Jüdischen und kommunalen Friedhof

Zur Aufarbeitung der NS-Zeit und zur Erinnerung an die letzten jüdischen Bewohner Ottweilers verfasste Hans-Joachim Hoffmann die Dokumentation „Seid vorsichtig mit der Obrigkeit...!“ Beitrag zur Erinnerungskultur und Lokalgeschichte Ottweilers.“ Dieses 405 Seiten umfassende Buch (ISBN 978-3-946313-01-4) kann zum Preis von € 19.80 erworben werden bei:
Archäologie - Büro & Verlag - Glansdorp, Kantstraße 32, 66636 Tholey
Hans-Joachim Hoffmann, Adolf-Kolping-Weg 7, 66564 Ottweiler (06824-7990)
Sparkasse Neunkirchen, Filiale Wilhelm-Heinrich-Straße, 66564 Ottweiler
Presse-Shop Ottweiler, Inhaberin Hannelore Henn, Wilhelm-Heinrich-Straße 13, 66564 Ottweiler.

Die KVHS, die Synagogengemeinde Saar sowie die Stadt Ottweiler freuten sich, möglichst viele Interessenten begrüßen zu können. Treffpunkt: Jüdischer Friedhof Maria-Juchacz-Ring, Ottweiler Sonntag, 10.06.2018, 17.00 Uhr






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Re: [Regionalforum-Saar] [Saar] Festakt im Landesmuseum Birkendeld

Date: 2018/06/14 12:08:01
From: alsfassen <alsfassen(a)web.de>


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Diese Nachricht wurde von meinem Android Mobiltelefon mit WEB.DE Mail gesendet.
Am 14.06.18, 03:00, Eberhard Stumm <ahnen(a)eberhard-stumm.net> schrieb:
       Landesmuseum Birkenfeld
 Römische Gottheit  NEU im Museum
     Besonderer Fund aus Hottenbach
                    Festakt
Sonntag, 24. Juni 2018   14.00 – 18.00 Uhr
     Vorstellen der römischen Gottheit
     * die archäologische Geschichte *
    * der Fundbericht aus Hottenbach*
     Feierliche Übergabe der Statuette
    vom Landesmuseum Trier an das
          Landesmuseum Birkenfeld

            Rahmenprogramm:
Schmieden römischer Zeltheringe
Gießen einer antiken Plakette
Kalligraphische Kunst
Lesung: Die geheimnisvolle Gottheit aus Hottenbach
Familienforschung/Beratung
Antiquarischer Büchertisch
Musikalische Umrahmung
Kaffee & Kuchen & Getränke
Eintritt frei

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Liebe Grüße
Eberhard (Stumm)

Arbeitsgruppe Familienforschung
im Verein für Heimatkunde im Landkreis Birkenfeld
http://www.landesmuseum-birkenfeld.de/landesmuseum/arbeitsgruppe-familienforschung

Wenn Du erkennst, dass es Dir an nichts fehlt, gehört Dir die ganze Welt >> Laotse

_______________________________________________
Saarland-L mailing list
Saarland-L(a)genealogy.net
http://list.genealogy.net/mm/listinfo/saarland-l

[Regionalforum-Saar] Die Saarbrücker „Vill a Davidson“ – das Geburtshaus des Rundfunks an der Saar

Date: 2018/06/18 18:22:21
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Die Saarbrücker „Villa Davidson“ – das Geburtshaus des Rundfunks an der Saar

 

Schon immer hatten die Rundfunksender im Saarland historisch interessante Domizile: der Saarländische Rundfunk jetzt das „Schloss Halberg“, davor Radio Saarbrücken das ehemalige evangelische Gemeindehaus „Wartburg“ und zu allererst der Reichssender Saarbrücken u. a. die „Villa Davidson“. 

Diese großbürgerliche Villa am Saarbrücker Saarufer war anfangs mit der saarländischen  Kinogeschichte eng verbunden.  „Geburtshaus“ des Radios im Saarland wurde sie erst 1935. Ein Luftangriff machte im Krieg dem Sendebetrieb von dort ein abruptes Ende.

 

Von Axel Böcker, Axel Buchholz (Text) und Stefan Weszkalnys*

 

Die „Villa Davidson“ gab es erst wenige Monate, als am 29. Oktober 1923 in Berlin das deutsche Radio seine ersten noch recht quäkenden Töne in den Äther schickte. Ans Radiomachen im damals von Deutschland abgetrennten Saargebiet war aber noch lange nicht zu denken. Die Regierungskommission des Völkerbunds gestattete nur das Radiohören.

Der Kinematograph und die Lichtspielhäuser dagegen hatten ihre Erfolgsgeschichte auch an der Saar längst begonnen. In Saarbrücken war damit der Name der Brüder Davidson eng verbunden…

 

Der gesamte Beitrag von Axel Böcker, Axel Buchholz und Stefan Weszkalnys ergänzt durch Videos und illustriert mit zahlreichen Bildern unter  

 

 www.sr.de/fundstuecke 

(Diese Adresse in die Adresszeile des Browsers eingeben oder die Beitragsüberschrift von Google suchen lassen. Achtung: kleines "f" und "ue" bei fundstuecke beachten.)

 

Mit bestem Gruß

 

Axel Buchholz

 

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Im Arbeitskreis SR-Geschichte (Vorsitzender: Roland Schmitt, 0681/6022465) haben sich aktive und ehemalige SR-Mitarbeiter ehrenamtlich zusammengefunden. Seit Mitte 2011 werden regelmäßig im Internet "Fundstücke aus der SR-Geschichte" veröffentlicht, Redaktion Axel Buchholz (06805/1022). Sie sollen nach und nach in Ergänzung zur großen SR-Chronik Interessantes aus der Vergangenheit "unseres Senders an der Saar" vor dem Vergessen bewahren.

Wer an der Reihe ehrenamtlich mitarbeiten möchte, ist herzlich dazu eingeladen.
Willkommen sind
- Texte, Fotos/Dokumente aus der SR-Geschichte, die dem SR

   rechte- und kostenfrei zur Verfügung gestellt werden,
- Hinweise auf Kollegen, die vielleicht etwas beisteuern könnten
- Tipps für interessante Fundstücke zur SR-Geschichte

Auch Mail-Adressen von weiteren Interessierten an dieser Info-Mail zur SR-Geschichte sind willkommen.
Mails/Zuschriften zu einem Fundstück oder einer Infomail werden gern veröffentlicht, soweit sie allgemein interessant sind und nicht ausdrücklich als privat bezeichnet werden.

 

 

 

 

Axel Buchholz

Journalist und Journalismus-Dozent

Honorarprofessor am

Journalistischen Seminar der

Johannes Gutenberg-Universität Mainz

axel.buchholz(a)uni-mainz.de

[Regionalforum-Saar] Gallische Chroniken. Ediert, übersetzt und kommentiert

Date: 2018/06/20 03:30:52
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

J.-M. Kötter u.a. (Hrsg.): Gallische Chroniken

Gallische Chroniken. Ediert, übersetzt und kommentiert

 

Hrsg. v. Kötter, Jan-Markus; Scardino, Carlo

Paderborn 2017: Ferdinand Schöningh

XXXVI, 264 S.

Preis € 89,00

ISBN 978-3-506-78489-6

 

Rezensiert für H-Soz-Kult von  Raphael Brendel, München

 

Dieser Band aus der mittlerweile sechs Bände (zwei weitere erscheinen in diesem Jahr) umfassenden Reihe „Kleine und fragmentarische Historiker der Spätantike“ bietet eine neue Edition, eine Übersetzung und einen Kommentar zu den bislang wenig erforschten Gallischen Chroniken von 452 und 511. Der Aufbau entspricht dem der Vorgängerbände: Auf das Vorwort (S. V) und das Abkürzungsverzeichnis (S. IX–XXXVI) folgen die Edition der Gallischen Chronik von 452 (S. 1–176) mit Einleitung (S. 3–40), Text und Übersetzung (S. 41–75) sowie Kommentar (S. 77–176) und die Edition der Gallischen Chronik von 511 (S. 177–264) mit Einleitung (S. 179–196), Text und Übersetzung (S. 197–211) sowie Kommentar (S. 213–264).

 

Zunächst einige Worte zu diesen vermutlich nur wenigen Spezialisten bekannten Texten auf Basis der Einleitungen: Der Autor der Chronik von 452 lässt sich nur aus dem Werk selbst erfassen. Sein geographischer Fokus liegt auf Südgallien (er schrieb wohl im unteren Rhônetal), während er für Ereignisse in anderen Gebieten chronologische Ungenauigkeiten aufweist; selbst für das übrige Gallien zeigt er wenig Interesse. Dennoch ist die Chronik nicht als ‚Nationalgeschichte‘ konzipiert. Der Autor interessiert sich für das Mönchstum, war aber nicht zwingend selbst ein Mönch. Seine Chronik, eine von 379 bis 452 reichende Fortsetzung des Hieronymus, wurde wohl kurz nach 452 abgeschlossen. Das Werk hat einen pessimistischen Grundtenor – wenngleich mit der Hoffnung auf eine Restabilisierung der Verhältnisse –, folgt dem Vorgängerformat strenger als die meisten anderen Chroniken und weist bis 447 immer wieder Datierungsfehler auf. Das stark negative Barbarenbild ist durch die Gleichsetzung von (auch heidnischen) Barbaren mit Arianern, die der Chronist als Hauptgefahr ansieht, bedingt. Die Quellen der Chronik sind nicht sicher zu bestimmen, allerdings werden mehrere Autoren (etwa Ambrosius, Sulpicius Severus und Augustinus) erwähnt. Wahrscheinliche Vorlagen sind Rufinus, die Narratio de imperatoribus domus Valentinianae et Theodosianae und eine nicht identifizierbare Ausgabe von Konsularannalen, wohingegen der Chronist das Werk seines Zeitgenossen Prosper Tiro, von dem er sich auch in seiner Gedankenwelt stark unterscheidet, nicht gekannt zu haben scheint. Die früheste nachweisbare Benutzung liegt mit der Chronik von 511 vor; ab dann erfreut sich die Chronik von 452 großer Beliebtheit, wie die etwa 40 Handschriften bezeugen. Bei zwei weiteren Herrscherlisten, die zusammen mit der Chronik überliefert sind, handelt es sich wie bei der handschriftlichen Zuschreibung der Chronik an Prosper um spätere Interpolationen. Der Wert der Chronik liegt neben dem gebotenen Sondergut vor allem in der dezidiert gallischen Perspektive auf die Ereignisse der Völkerwanderung und in der Stellungnahme zum Verhältnis zwischen Reich und Kirche, die der Chronist als untrennbar miteinander verbunden ansieht.

 

Die Chronik von 511 ist zwischen 511 und 733, vermutlich aber im frühen 6. Jahrhundert entstanden. Über den Verfasser lässt sich nur sagen, dass er ein in Südgallien (wohl nahe Arles) schreibender Katholik war; die handschriftliche Zuweisung der Chronik an Sulpicius Severus ist ein späterer Irrtum. Die von 379 bis 511 reichende Fortsetzung des Hieronymus geht auf eine unbekannte chronistische Quelle mit vergleichsweise guten Informationen zurück und konsultiert daneben für die Zeit bis 452 als Quellen die Chronik von 452, die Chronik des Hydatius und das Werk des Orosius und weist gemeinsame Vorlagen mit einigen anderen Chroniken auf; der aus Hieronymus stammende Teil der Chronik ist mit zusätzlichen Einträgen aus bekannten Quellen angereichert und erweitert. Der Wert der Chronik ist gering, da nur ein Eintrag Sondergut aufweist und es sich um ein weitgehend kompilatorisches Werk handelt, das kein in sich geschlossenes Geschichtsbild entwickelt. Inhaltlich bietet der Chronist vor allem dynastische Informationen; den barbarischen Völkern, insbesondere den Westgoten, wird relativ breiter Raum zugestanden, kirchengeschichtliche Nachrichten fehlen hingegen weitgehend. Insgesamt handelt es sich um ein Mittelstück zwischen einer vollständigen Chronik und einer reinen Herrscherliste. Die Chronik ist nur in einer erhaltenen und einer verschollenen Handschrift überliefert.

 

Die Aspekte, die an dieser Ausgabe positiv bzw. negativ zu beurteilen sind, decken sich im Wesentlichen mit dem, was bereits über die in derselben Reihe erschienene Edition der Chronik des Prosper Tiro geäußert wurde.[1] Text, Übersetzung und Kommentar sind als Forschungsbeitrag wie als Arbeitsinstrument gelungen und stellen die grundlegenden Werke zu den jeweiligen Chroniken. Die überschaubare Literatur ist praktisch vollständig berücksichtigt.[2] Die Edition ist nicht nur in fachlicher Hinsicht[3], sondern auch sonst sehr sorgfältig gearbeitet.[4] Kritisch ist dagegen wie bereits zuvor das Fehlen des Registerteils anzumerken. Zu dem in Vorbereitung befindlichen Online-Auftritt, der wie auch die E-Book-Fassung einen Ersatz zum Register darstellen soll (S. V), verweise ich auf die bereits erwähnte Rezension zu Prosper Tiro. Vielleicht wäre ein nach Abschluss der Reihe zu publizierender Gesamtregisterband eine Option, Namen und Sachbegriffe besser zu erschließen. Ein weiterer Kritikpunkt ist die Auslassung der modifizierten Hieronymuschronik (S. 189), die der Chronik von 511 vorangeht. Der geringe historische Wert des Textes kann kein Argument dafür sein, da das auch für die späteren Passagen gilt. Umgekehrt wären aus diesen Partien Informationen über die Quellen des Chronisten und den Umgang mit seinen Vorlagen zu entnehmen. Zudem wird im Kommentar gerade darauf hingewiesen, dass die beiden Teile eine Einheit bildeten (S. 190 und 218). Aber selbst wenn sich eine Edition der früheren Partien nicht gelohnt hätte, wäre es zumindest sinnvoll gewesen, in einem eigenen Kapitel einen eingehenden Vergleich anzustellen, aus dem hervorgeht, wie genau der Chronist seine Vorlage bearbeitete. Da die Chronik von 452 an einen vollständigen Text des Hieronymus angehängt ist (S. 25), wobei allerdings nicht sicher zu sein scheint, ob dies dem Chronisten selbst zuzuschreiben ist, erübrigt sich das in diesem Fall hingegen.

 

Von einigen kleineren Kritikpunkten abgesehen bietet die bewährte Reihe somit wieder ein unverzichtbares Standardwerk, das für zwei bislang kaum berücksichtigte Quellen eine (fast) vollständige Erarbeitung bedeutet. Wer sich mit der spätantiken Chronistik, dem Blick der Zeitgenossen auf die Völkerwanderung oder der Geschichte Galliens im 5. Jahrhundert befasst, wird den Band mit großem Gewinn nutzen.

 

Anmerkungen:
[1] Raphael Brendel, Rezension zu: Maria Becker / Jan-Markus Kötter (Hrsg.), Prosper Tiro, Chronik. Laterculus regum Vandalorum et Alanorum. Ediert, übersetzt und kommentiert. Paderborn 2016, in: H-Soz-Kult, 10.10.2016, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-26381 (29.05.2018).
[2] Lediglich bei den Ausgaben antiker Texte fehlen manchmal neuere und teilweise bessere Werke: Agnellus (Nauerth), Anonymus Valesianus II (König), Cassiodors Chronik (Klaassen), Chronicon Paschale (Whitby / Whitby), Jordanes’ Getica (Möller), Rutilius Namatianus (Wolff). Helms Ausgabe der Chronik des Hieronymus (S. XVII) liegt noch in einer (jedoch nur unwesentlich ergänzten) dritten Auflage von 1984 vor; was S. XVII als zweite Auflage von Hohls Edition der Historia Augusta von 1965 zitiert wird, ist tatsächlich die dritte (die zweite erschien 1955); bei Olympiodor (S. XIX) und Priskos (S. XX) wären die Seitenangaben nachzutragen. Im Literaturverzeichnis findet sich die nachahmenswerte Praxis, bei publizierten Qualifikationsschriften auch Ort und Jahr des Einreichens anzugeben, was aber bei Übereinstimmen der Orte nur verkürzt (Baumgart, Lütkenhaus, Scharf) und oft gar nicht angegeben wird (Brennecke, Busch, Demandt, Kulikowski, Lepper, Matthews, McLynn, Muhlberger, Van Nuffelen). Bei der Literatur waren nur unwesentliche Fehlstellen zu ermitteln: Richard W. Burgess, Chronicles, consuls, and coins, Farnham 2011, Nr. XII (Nachdruck von Burgess 1993/94 mit Addenda am Schluss des Bandes); Brian Croke, Christian chronicles and Byzantine history, 5th–6th centuries, Aldershot 1992, Nr. III (Nachdruck von Croke 1983 mit Addenda am Schluss des Bandes); Klaus M. Girardet, Kaisertum, Religionspolitik und das Recht von Staat und Kirche in der Spätantike, Bonn 2009, S. 419–454 (Nachdruck von Girardet 1974); Moses I. Finley (Hrsg.), Studies in ancient society, London 1974, S. 304–320 (Nachdruck von Thompson 1952); Helmuth Schneider (Hrsg.), Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der römischen Kaiserzeit, Darmstadt 1981, S. 29-47 (deutsche Übersetzung von Thompson 1952). Das Buch von Matthews über die „Western aristocracies“ erschien 1990 in einer ergänzten Neuauflage; bei dem Buch von Maenchen-Helfen über die Hunnen hätte noch auf das englische Original (1973) verwiesen werden können.
[3] Ergänzungen zum Kommentar: S. 85, Anm. 2 hätte für den Konsul von 386 noch auf Roger S. Bagnall u.a., Consuls of the later Roman empire, Atlanta 1987 verwiesen werden können. Mit einer Bauinschrift des Eugenius, die auch den Namen seiner kaiserlichen Kollegen führt (S. 100, Anm. 3), befasst sich Thomas Grünewald, Arbogast und Eugenius in einer Kölner Bauinschrift. Zu CIL XIII 8262, in: Kölner Jahrbuch für Vor- und Frühgeschichte 21 (1988), S. 243–252. Zum Usurpator Johannes (S. 141) ließe sich noch der Eintrag in der Prosopographie von Hans C. Teitler, Notarii and exceptores, Amsterdam 1985, S. 143 mit S. 293, Anm. 174 ergänzen. Auf S. 149f. zu 109 wird nicht gefragt, warum der Chronist Placidia als regina bezeichnet. Einige weitere Hinweise auf neuere Literatur bietet die in Anm. 1 zitierte Rezension. Wenn hingegen S. 237 der Tod des Vandalenkönigs Gunderich daemone correptus nicht diskutiert wird, liegt das vermutlich daran, dass diese Diskussion in der Edition des Hydatius, von dem die Chronik hier nur abschreibt, erfolgen wird.
[4] Druckfehler sind ausgesprochen selten: S. IX „Prosopgraphie“; S. XXVIII (Hahn 2006b) „2006“ (richtig „2008“); S. XXXII „464“ (richtig „364“); S. 15: „niederzuschlagen, und“ (richtig „niederzuschlagen und“); S. 57 (50) „übertrat<,> um“; S. 63 (81) „begonnen<,> sich“; S. 99 „volljährigen, Kaisers“ (richtig „volljährigen Kaisers“); S. 233 „wir“ (richtig „wird“); S. 247 „Wandalen“ (statt sonst „Vandalen“); S. 263 „Holder Egger“ (richtig „Holder-Egger“).

 

 

 

 

[Regionalforum-Saar] Der Siebenjährige Krieg (Ta gungsbesprechung)

Date: 2018/06/22 10:25:24
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Der Siebenjährige Krieg 1756-1763: Mikro- und Makroperspektiven

München

Veranstalter: Marian Füssel, Historisches Kolleg München / Universität Göttingen

01.03.2018 - 03.03.2018

 

Von Sebastian Pranghofer, Geschichte der Frühen Neuzeit, Helmut-Schmidt-Universität Universität der Bundeswehr, Hamburg

 

Die Idee vom Siebenjährigen Krieg als „The First World War“ (Winston Churchill) fußt auf nationalgeschichtlich geprägten Vorstellungen von einem imperialen Konflikt zwischen den kolonialen Großmächten des 18. Jahrhunderts, England und Frankreich. Dem entgegen steht traditionell die deutsch-österreichische Deutung als Reichsverfassungskonflikt und Kristallationspunkt des österreichisch-preußischen Dualismus. Vor dem Hintergrund der Globalisierung, der Neuordnung der internationalen Beziehungen seit den 1990er-Jahren und den damit zusammenhängenden asymetrischen Kriegen findet der Siebenjährige Krieg seit mehreren Jahren wieder verstärkte Beachtung in der internationalen Geschichtswissenschaft. Dabei geht es vor allem um sein globale Dimension und eine differenziertere strukturgeschichtliche Interpretation. Zu einer genaueren Betrachtung der politisch-kulturellen Verflechtungen zwischen unterschiedlichen Akteuren und Kriegsschauplätzen traten jüngst vermehrt Untersuchungen zu sozioökonomischen Transfer- und Transformationsphänomenen im Rahmen des Siebenjährigen Krieges.

 

Auf der Münchner Tagung zum Siebenjährigen Krieg in mikro- und makrogeschichtlicher Perspektive wurde hieran anknüpfend der Frage nachgegangen, wie man dem Siebenjährigen Krieg als globalem Konflikt besser gerecht werden könnte. In seiner Einleitung diagnostizierte MARIAN FÜSSEL (München / Göttingen) in vier Bereichen Defizite der bisherigen Forschung: Erstens, aufgrund der nationalgeschichtlichen Perspektivverengung, eine Aufspaltung in einen globalen englisch-französischen Konflikt und einen europäischen Konflikt. Zweitens, eine immer noch unzureichende gegenseitige Rezeption der englischsprachigen und der deutschsprachigen Forschung. Drittens, eine Fokussierung auf die Hauptakteure England, Frankreich, Preußen und Österreich sowie eine Vernachlässigung der Rolle Spaniens. Viertens, das Bemühen um eine vereinheitlichende Gesamtdeutung des Siebenjährigen Krieges als kohärentem Konfliktzusammenhang. In diesem Bemühen werden, so Füssel, in der Forschung die durch den Krieg ausgelösten gegenläufigen Bewegungen gleichzeitiger Ver- und Entflechtung nur selten analytisch in ein Verhältnis gesetzt.

 

Um diese Defizite auszugleichen wurden auf der Tagung bewusst unterschiedliche Forschungstraditionen miteinander ins Gespräch gebracht und spezifische Schwerpunkte gesetzt. So wurden etwa im Programm die spanische Perspektive stärker berücksichtigt und statt der großen Schlachten Belagerungen als Orte der Verdichtung von Kriegshandeln betrachtet. Ziele der Tagung waren laut Füssel zunächst die Zusammenfassung bisheriger Ergebnisse und die Identifikation von Desideraten. Darüber hinaus ging es dem Veranstalter auch darum, der Mitte des 18. Jahrhunderts als „Sattelzeit“ gerecht zu werden, in der sich zum Teil gegenläufige Phänomene wie globale empire und nationaler Patriotismus herausbildeten, mit dem Siebenjährigen Krieg als Katalysator. Schließlich sollte das Spiel mit den unterschiedlichen Maßstäben von Mikro- und Makroperspektive neue Einsichten ermöglichen und dem Umstand Rechnung getragen werden, dass Kriege nicht nur zu stärkerer Verflechtung, sondern auch zu Entflechtung führen können. Das produktive Spannungsverhältnis zwischen einer auf einzelne Untersuchungsgegenstände, Personen oder geografische Räume fokussierten Mikroperspektive sowie eine die Vielzahl von Akteuren und ihre Interaktion berücksichtigenden und die globale Konfliktdimension erfassenden Makroperspektive wurde in vier Sektionen diskutiert.

 

In der ersten Sektion ging es um Staat und Verwaltung im Siebenjährigen Krieg. Am Beispiel von England und Frankreich widmete sich ERICA CHARTERS (Oxford) der staatlich-militärischen Ressourcenverwaltung anhand der unterschiedlichen Aufzeichnungspraktiken zur Administration militärischen Personals. Während in England Soldaten quantitativ in regelmäßigen Rapporten erfasst wurden, legten französische Offiziere Berichte über ihre Soldaten in narrativer Form vor. In beiden Fällen wurden die Berichte für strategische Entscheidungen herangezogen, wobei sich das französische System aufgrund seiner Informationsfülle zum Teil als wenig praktikabel erwies. Im englischen System hingegen wurden die Soldaten auf eine Rechengröße reduziert. Neben der administrativen Funktion dieser Praktiken schrieb Charters den Aufzeichnungen auch eine ambivalente symbolische Bedeutung zu. So waren die englischen Rapporte Ausdruck von Staatlichkeit und zugleich öffentliche Rechenschaftsberichte, was etwa angesichts hoher Verluste wiederum zur Infragestellung staatlichen Handelns führen konnte.

 

STEPHEN CONWAY (London) untersuchte den Strategiewandel der Britischen Regierung im Zuge des Kriegsjahres 1759. Er stellte ein Umschwenken von einer defensiven und auf Schutz vor einer Invasion ausgerichteten Kriegführung hin zu einem offensiveren Vorgehen fest – gerade in Übersee. Dabei betonte Conway, dass, entgegen der von Pitt selbst ins Spiel gebrachten Lesart, die britische Strategie keineswegs auf empire-building ausgerichtet waren, sondern in erster Linie dazu dienen sollten, französische Ambitionen einzuhegen und ein Gleichgewicht der europäischen Mächte aufrecht zu erhalten.

 

In vergleichender Perspektive befasste sich der Beitrag von HORST CARL (Gießen) mit Besatzungsregimen im Siebenjährigen Krieg (österreichisch-französisch in den preußischen Westprovinzen, französisch in Hessen und Kurhannover, preußisch in Sachsen, russisch in Ostpreußen sowie britisch in Kanada, Havanna und Manila). Deutlich wurde, dass Okkupationsregime bei der Umsetzung ihrer Ziele (Pazifizierung und Ressourcengenerierung) in der Regel auf die Kooperation ständischer Eliten vor Ort angewiesen waren. Daraus ergaben sich scheinbar gegenläufige Tendenzen: eine bemerkenswerte Erweiterung des Handlungsspielraums der lokalen Beamten sowie eine Intensivierung staatlichen Handelns und zugleich die verstärkte Mitwirkung der Stände an der Staatsbildung. In Bezug auf den kolonialen Kontext verwies Horst Carl darauf, dass vor allem die britische Besatzung Havannas und Manilas der kurzfristigen Ressourcengenerierung diente und nicht den Prämissen einer auf lange Sicht angelegten imperialen Ausbeutung folgte.

 

Die zweite Sektion zu Belagerungen begann mit einem Vortrag von DANIEL HOHRATH (Ingolstadt) über den Festungskrieg in Schlesien. Er rückte damit eine Form der Kriegführung in den Mittelpunkt, die in strategisch-taktischer Hinsicht und den damit verbundenen logistischen Aufwand deutlich wichtiger war als die großen Feldschlachten. Zugleich war die Eroberung von Festungen nicht nur von militärischer, sondern auch von großer symbolischer Bedeutung, wenn Orte, die territoriale Herrschaft repräsentierten, in feindliche Hände fielen. Daniel Hohorath zeigte auch, wie in der Mikroperspektive Belagerungen wiederum Ereignisse darstellten, in denen sich nicht nur die soldatische, sondern auch die zivile Kriegserfahrung verdichtete und in der städtischen Überlieferung und Erinnerungskultur manifestierte.

 

Die beiden nächsten Vorträge von SVEN EXTERNBRINK (Heidelberg / Göttingen) und THOMAS WELLER (Mainz) befassten sich in zwei Fallstudien mit britischen Belagerungen im kolonialen Kontext. Am Beispiel von Quebec (Externbrink) und Havanna (Weller) wurden die unterschiedlichen politisch-kulturellen und vor allem räumlich-zeitlichen Bedingungen der beiden Kriegsereignisse deutlich. Während in Quebec mit dem kurzen Sommer vor allem der Faktor Zeit Handlungsspielräume entscheidend beschränkte, waren es in Havanna die klimatischen Bedingungen der Karibik mit ihren Gesundheitsgefahren. In der Mikroperspektive zeigte sich, wie in beiden Fällen Fehleinschätzungen der zeitlich-räumlichen Gegebenheiten durch die Verteidiger ihre Niederlagen mitbedingten.

 

Im ersten Vortrag der dritten Sektion zu Diplomatie und Kommunikaton im Siebenjährigen Krieg sprach MARK HÄBERLEIN (Bamberg) über das Kommunikationsnetzwerk des Halleschen Pietismus im Siebenjährigen Krieg. Auf Grundlage einer umfangreichen Lektüre der im Archiv der Franckeschen Stiftungen überlieferten Korrespondenz konnte er zeigen, wie stark konfessionell geprägt die pietistische Sicht auf den Siebenjährigen Kriege war. Dieser erschien providentiell gedeutet als Werkzeug göttlicher Fügung und Preußens Bestehen als entscheidend für den Bestand der Kirche im Reich und die Mission in Übersee. Die globale Dimension des Siebenjährigen Krieges spiegelte sich dabei in erster Linie im Kommunikationsnetzwerk der Halleschen Pietisten selbst wider.

 

Die anderen beiden Vorträge der Sektion widmeten sich zwei Schlüsselfiguren der europäischen Diplomatie im Siebenjährigen Krieg. MARION GODFROY-TAYART DE BORMS (Caen) betrachtete die Rolle des Duc de Choiseul, der prägenden Figur der französischen Außenpolitik. Dieser nahm die von Frankreich anfangs vernachlässigte globale Dimension des Konflikts mit den Briten ab 1758 ernster. Daraus ergab sich laut Godfroy-Tayart nach dem Frieden von Paris eine Umorientierung in der französischen Kolonialpolitik. Die Besitzungen in Amerika wurden neu organisiert, territoriale Herrschaft etabliert (z. B. Louisiana) beziehungsweise Kolonisten systematisch angesiedelt (z. B. Guyana).

 

Mit der Frage der Planbarkeit und den Entscheidungsspielräumen des österreichischen Staatskanzlers Anton Graf Kaunitz beschäftigte sich LOTHAR SCHILLING (Augsburg). Als dessen zentrales Handlungsmotiv und ihn mit Maria Theresia verbindendes gemeinsames Interesse stellte er den Revanchekrieg gegen Preußen zur Wiedererlangung Schlesiens heraus. Von Kaunitz analysierte verfügbare Informationen systematisch, wobei militärisch-technische Fragen tendenziell ausgeblendet wurden. Die koloniale Dimension des britisch-französischen Gegensatzes zog er erst seit Mitte der 1750er-Jahre in seine Überlegungen mit ein. Auch wenn Kaunitz einige Entwicklungen, etwa die Konvention von Westminster, nicht voraussehen konnte, so war laut Schilling das Bündnis zwischen Österreich, Frankreich und Russland letztlich sein Werk. Insgesamt wurde in Schillings Ausführungen deutlich, wie schwer sich für die nur einem kleinen Kreis von Akteuren zugängliche Geheimdiplomatie des 18. Jahrhunderts Verfügbarkeit und Relevanz von Informationen durch Historikerinnen und Historiker bestimmen lassen.

 

Im Abendvortrag widmete sich BARBARA STOLLBERG-RILINGER (Münster) den Wiener Perspektiven auf den Siebenjährigen Krieg. Zunächst machte sie deutlich, dass es in Österreich, im Gegensatz zu Preußen und dem protestantischen Norden des Reiches, keine große mediale Öffentlichkeit gab und die Wiener Sicht vor allem eine höfische Perspektive war. Dementsprechend galt Preußen spätestens nach der traumatischen Niederlage im österreichischen Erbfolgekrieg als natürlicher Feind des Hauses Habsburg. Ziel war daher neben der Rückgewinnung Schlesiens immer auch die Demütigung des preußischen Königs. Im Reichskrieg musste Maria Theresia den Eindruck konfessioneller Parteinahme unter allen Umständen vermeiden. Nach innen aber nutzen die Habsburger eine religiös-dynastische Inszenierung zur Kriegsmobilisierung. Das gemeinsame öffentliche Beten von Untertanen und Herrschaft war dabei von zentraler symbolischer Bedeutung. In den vereinzelten Berichten deutete sich durchaus die Anteilnahme der Untertanen am Kriegsverlauf und eine Identifikation mit dem Herrscherhaus an. Abschließend unterstrich Stollberg-Rilinger, dass Maria Theresia und Friedrich II. sich in vielerlei Hinsicht in ihrer Wahrnehmung des Siebenjährigen Krieges ähnelten. Beide sahen sich einer Übermacht an Feinden gegenüber, wollten sich mit aller Macht behaupten, waren Vertreter einer offensiven Taktik und pflegten ein stratetgisch-instrumentelles Verhältnis zum Reich.

 

Die vierte Sektion zu Zirkulationen und Rezeptionen begann mit einem Vortrag von TIM NEU (Bochum), in dem er die britische Finanzlogistik im Siebenjährigen Krieg untersuchte. Er legte überzeugend dar, wie public credit als Rückgrat der britischen Kriegsfinanzierung nur als genuin „glokales“ Phänomen verstanden werden kann. Entscheidend war der Kaufkrafttransfer aus dem Zentrum in die Peripherie und die Fähigkeit, den public credit vor Ort zu realisieren. Dieser war in Personen, Zahlungsmitteln und Institutionen verkörpert und an vertrauenswürdige Praktiken wie Auszahlung, Schuldverschreibung, Wechselgeschäfte und vor allem Verträge zwischen dem Schatzamt und Kaufmannsbankiers zur Geldüberweisung gebunden. In diesem System wurde der Kredit weltweit nicht mehr über Vertrauen in individuelle Zahlungsfähigkeit, sondern in die Zahlungsgarantie der öffentlichen Hand gewährleistet.

 

Am Ende der Tagung widmeten sich zwei Beiträge zu Spanien einem Akteur, der sonst weniger Beachtung findet. DIEGO TÉLLEZ ALARCIA (Logrono) argumentierte, dass erst durch den späten spanischen Kriegseintritt der Siebenjährigen Krieg zu einem wirklich globalem Krieg wurde. Vor allem die immer größere werdende Bedrohung kolonialer Interessen durch die britische Kriegführung in der Karibik zwang Spanien zum Handeln. Erst dadurch dehnte sich nach Téllez der Konflikt geografisch auf Südamerika sowie den Pazifikraum aus. Die Rolle Spaniens im Siebenjährigen Krieg führte für ihn nicht nur zu einer Neuordnung der Einflusssphären in Nordamerika, sondern wurde von Téllez auch als Ausdruck der Krise des spanischen empire und als Teil der Vorgeschichte der Unabhängigkeit der spanischen Kolonien zu verstanden.

 

Im letzten Vortrag von SASCHA MÖBIUS (Berlin) ging es um Wissenstransfer durch spanische Militärbeobachter im Siebenjährigen Krieg und deren Einfluss auf die Reform der Reglements der spanischen Armee. Besonderes Augenmerk lag auf stereotypen Zuschreibungen von nationalen Eigenschaften. Das spanische Idealbild einer Armee war von der vermeintlich überragenden Effizienz, Disziplin und taktischen Wandlungsfähigkeit der preußischen Armee geprägt. Dem adeligen Stolz der spanischen Offiziere wurde der Diensteifer der preußischen Offiziere gegenüber gestellt. Elementartaktik, Vorschriften zu Sauberkeit und Hygiene sowie Befehlsstrukturen übernahm man aber aus österreichischen Reglements. Folglich diente laut Möbius Preußen im spanischen Reformdiskurs als Markenzeichen und zur Legitimation von Reformen. Das professionelle Selbstverständnis preußischer Offiziere war lediglich als Leitbild für die spanischen Militärreformen relevant.

 

Mit Blick auf die Ziele der Tagung machte Marian Füssel zu Beginn der Abschlussdiskussion deutlich, dass Mikro- und Makroebene nicht mit lokal beziehungsweise global gleichgesetzt werden dürfen. Daraus folgerte er, dass der empirische Befund und die darin deutlich werdenden widersprüchlichen Entwicklungen ernster zu nehmen seien. Bei der Betrachtung konkreten Handelns in seiner globalen Dimension stellte sich unter dem Brennglas des Siebenjährigen Krieges Globalisierung insbesondere als gebrochene Globalisierung dar. Horst Carl und Lothar Schilling mahnten an, dass dabei in vergleichender Perspektive sowohl die unterschiedlichen Zeitökonomien der Akteure sowie die zeitgenössischen Sicht auf Mikro- und Makroperspektiven berücksichtigt werden müssen, um die Handlungshorizonte und Handlungsspielräume besser bewerten zu können. Für akteurszentrierte Ansätze und die Untersuchung konkreten Handelns im Rahmen einer globalen Mikrogeschichte plädierten Mark Häberlein, Tim Neu und Barbara Stollberg-Rilinger. Nur so ließe sich Fragen nach der Reichweite des Siebenjährigen Krieges, Handlungshorizonten sowie dem dialektischen Verhältnis von entanglement und disentanglement angemessen nachgehen.

 

Die Ausrichtung der Tagung legte nahe, dass Untersuchungen von Praktiken (Charters, Neu) und Akteuren (Godfroy-Tayart, Schilling, Stollberg-Rilinger) eine wichtige Rolle spielen. Ebenso überrascht nicht, dass „der Krieg vor Ort“ (Carl, Externbrink, Hohrath, Weller) sowie Perzeption und Rezeption (Häberlein, Möbius) besondere Beachtung fanden. Wie sich diese Befunde aber mit Strategien und strukturgeschichtlichen Interpretationen (Conway, Téllez) verbinden lassen, bleibt eine spannende Frage. Offen bleiben auch Fragen zur zeitgenössischen Wahrnehmung der zeitlich-räumlichen Dimension des Siebenjährigen Krieges. Insbesondere die Perspektiven von nicht als Kriegsparteien beteiligten Akteuren (z. B. Niederlande, skandinavische Länder, osmanisches Reich) und der außereuropäischen Akteure müssen noch in eine wirklich globalen Geschichte dieses Konfliktes integriert werden.

 

Insgesamt wurde auf der Tagung deutlich, dass der Siebenjährige Krieg weiterhin ein wichtiger Schlüssel zur Geschichte des 18. Jahrhunderts ist. Über ihn lassen sich Zugänge zu Großthemen wie europäische Expansion, Globalisierung und empire finden – ein Begriff, der in den Diskussionen vielleicht mehr Beachtung verdient hätte. In jedem Fall wurde deutlich, dass eine neuen Ansätzen gegenüber aufgeschlossene Geschichte des Siebenjährigen Krieges vielfältige Forschungsperspektiven eröffnet. Man darf man auf die Veröffentlichung der Tagungsergebnisse, die in der Reihe des Historischen Kollegs erscheinen wird, gespannt sein.

 

Konferenzübersicht:

 

Begrüßung

Frank Rexroth (München/Göttingen)

 

Einführung

Marian Füssel (München/Göttingen)

 

Sektion I: Staat und Verwaltung

Erica Charters (Oxford): Man Power and State Power: Counting Men during the Seven Years War

Stephen Conway (London): Britain's Global Seven Years

Horst Carl (Gießen): Der verwaltete Krieg – Okkupationserfahrung im Siebenjährigen Krieg im Vergleich

 

Sektion II: Belagerungen

Daniel Hohrath (Ingolstadt): Bastionen statt Schlachtfelder? Die schlesischen Festungen und ihre Belagerungen im Siebenjährigen Krieg

Sven Externbrink (Heidelberg/Göttingen): Der kürzeste Vormittag. Quebec 13. September 1759

Thomas Weller (Mainz): Clash of Empires? Die britische Eroberung von Havnanna 1762 und die Folgen

 

Sektion III: Diplomatie und Kommunikation

Mark Häberlein (Bamberg): Der Siebenjährige Krieg und das Kommunikationsnetz des Halleschen Pietismus

Marion Godefroy-Tayart de Borms (Caen): France, the Duke of Choiseul and the Seven Years War

Lothar Schilling (Augsburg): Architekt und Werk? Kaunitz und die Große Koalition von 1756

 

Abendvortrag

Barbara Stollberg-Rilinger (Münster): „Das grosse Werk der Eurasierung des Königs in Preussen“ - Wiener Perspektiven auf den Siebenjährigen Krieg

 

Sektion IV: Zirkulation und Rezeptionen

Tim Neu (Bochum): Glocal Credit. Die britische Finanzlogistik im Siebenjährigen Krieg

Diego Téllez Alarcia (Logrono): The Spanish Monarchy and the Seven Years War

Sascha Möbius (Berlin): Stereotype und Wissenstransfer. Die spanischen Militärbeobachter im Siebenjährigen Krieg

 

 

 

 

 

 

[Regionalforum-Saar] J. Grethlein: Die Odyssee. H omer und die Kunst des Erzählens

Date: 2018/06/25 11:21:09
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

J. Grethlein: Die Odyssee. Homer und die Kunst des Erzählens

 

München 2017: C.H. Beck Verlag

329 S.

€ 26,95

 

ISBN 9783406708176

 

Rezensiert für H-Soz-Kult von

Penelope Kolovou, Institut für Klassische und Romanische Philologie, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

 

„Der Homer möchte in manchen Augenblicken [...] farblos und unnaiv erscheinen“ – so Hugo von Hofmannsthal.[1] Jedenfalls liest sich die Odyssee auch trotz des bereits seit Jahrtausenden vorhersagbaren happy end heute noch spannend und bietet jedem Interpreten immer noch die Gelegenheit, neue Lektüreansätze vorzustellen beziehungsweise die alten neu zu erhellen. Jonas Grethlein ist es mit diesem Buch gelungen, vor allem die wissbegierige Leserschaft (jedoch gegebenenfalls mit gewissen Vorkenntnissen), methodisch in die Formen und Funktionen der Erzählkunst Homers einzuführen und ihr somit die facettenreiche Welt der Odyssee zu offenbaren, „ohne dem homerischen Epos seine Fremdheit zu nehmen“ (S. 14).

 

In der Einleitung (S. 8–39) macht Grethlein die breite Nachwirkung der homerischen Odyssee deutlich, indem er ein weltweites Netz von modernen Adaptionen des odysseischen Mythos exemplarisch ausbreitet. So führt Grethlein den Leser dahin, die Odyssee als „intellektuelle Herausforderung und ästhetisches Vergnügen zugleich“ (S. 14) betrachten zu wollen. Der Autor setzt nichts voraus und spart auch im Verlaufe des Buches nicht damit, selbst das, was für Fachleute basics wären, zu erläutern, etwa die Entstehung und Entwicklung der sogenannten homerischen Frage in Anlehnung an die Konventionen der mündlichen Dichtung (S. 22–27), die künstliche homerische Sprache (Formelsprache und typische Szenen; Homers Sprache und Stil, S. 27–35), sowie die Skizzierung der Struktur und des Inhalts der Odyssee (S. 15–22). Der Fokus liegt jedenfalls auf den Elementen, die zum strukturalistischen Instrumentarium des Erzählers gehören, das eine kohärente Lektüre der Odyssee möglich macht. Denn Grethlein hat vor, die Odyssee in der Folge als Makrostruktur zu lesen, indem er das Hauptaugenmerk auf die „Sequentialität“ der Erzählung, die „zeitliche Dynamik“ oder den „Zeitfluss“ des Leseprozesses setzt, was den Erfahrungscharakter des Handlungsverlaufs auszeichnet. Darüber hinaus argumentiert Grethlein in seinem Buch, wie Menschen immer wieder durch Narration ihre Identität bestimmen, sich mit der Zeit auseinandersetzen, Gesellschaften zusammenschweißen oder in Frage stellen.[2] In diesem Sinne lässt sich Grethleins Vorhaben zusammenfassen als „Erfahrung und Erzählung im Epos“, welches des Weiteren eine reflexive Erzählung über das Erzählen sei (S. 36–39).

 

Im zweiten Kapitel (Die Telemachie: Erzählungen vom Vater, S. 41–85) diskutiert Grethlein die „erzählerische Auseinandersetzung mit der Erzählung“ anhand der „Telemachie“ (Od. 1–4), einem Bestandteil der Odyssee, in dem Telemach verschiedenen Erzählungen über seinen Vater zuhört. Wenn auch das glückliche Ende der Odyssee immer wieder vorweggenommen wird, entstehe gerade dadurch eine sowohl für die antike als auch für die gegenwärtige Unterhaltungsliteratur „besondere Form der Spannung“, die dazu anregt, über das wie der Erzählung, nämlich über die Handlung, nachzudenken. Indem der Leser sich mit dem suchenden Telemach identifizieren soll, rückt er selbst ins Zentrum des Geschehens. Von Erkenntnissen aus der Phänomenologie und den Kognitionswissenschaften angeregt erklärt Grethlein am Beispiel der Reaktion der Penelope auf den Gesang des Rhapsoden Phemios (S. 53–59) die Relevanz von Balance zwischen Identifikation und Entfremdung bei der Erfahrung von Erzählungen als einer Spannung-generierenden Leseerfahrung mit intellektueller, emotionaler und körperlicher Resonanz. Die Funktion von Erzählungen als pharmakon (Heilmittel und Zauberei zugleich) wird im nächsten Kapitel ausführlicher vorgestellt. Wenn auch die Telemachie nicht als Wegbereiter des modernen Bildungsromans gilt (S. 71–85), stelle sie kein defizitäres Menschenbild als Typus vor (vgl. 5. Kap.). In Anlehnung an Theorien des antiken und des modernen Romans, welche angemessen erwähnt werden, erklärt Grethlein, inwieweit die Telemachie das Verhältnis zwischen antiker Erzählung und Persönlichkeit kritisch hinterfragt.

 

Im nächsten Kapitel (Vom Zuhörer zum Erzähler: Odysseus bei den Phaiaken, S. 87–119) weist Grethlein am Beispiel der drei unterschiedlichen Gesänge des Rhapsoden Demodokos auf die Heilkraft der Erzählung hin, während Odysseus in der „Phaiakis“ (Od. 5–12) sich an seinen eigenen Leiden „ergötzt“ (cf. Od. 15.400–401), zuerst als Hörer, dann als Erzähler. Von einem kognitiven Standpunkt aus betrachtet geben Erzählungen dem Zuhörer die Möglichkeit, das Erzählte des eigenen Leids aus einer gewissen Distanz wieder zu erfahren und somit eine Art katharsis zu erleben, indem das vorherige Wissen um das Ende eine Art von Sicherheit schenkt. Die Wiedergabe der Abenteuer von Odysseus selbst, argumentiert der Autor, bilde daher programmatisch einen Teil der Handlung als eine Methode, die eigenen Traumata durch das Erzählen zu bewältigen, denn wir können „Wirklichkeit verarbeiten, indem wir sie erzählen“ (S. 112). Wie es sich in der Heimkehrliteratur zeigt, formt die narrative Auseinandersetzung mit Erfahrungen im Endeffekt die Identität des Zuhörers/Erzählers und somit zeigen uns die sogenannten Apologen (Od. 9–12) „einen wichtigen Grund, warum Menschen ihre eigene Geschichte erzählen“.[3] Mit Blick auf die Erzählkunst in den Apologen wird die Spannung stets auf das wie transponiert und zwar gerade durch in die Erzählung eingebettete Vorwegnahmen, Prophezeiungen, Voraussagen.

 

Im vierten Kapitel (Polyphem: Erzählung, Kunst und Geschichte, S. 121–158) thematisiert Grethlein am Einzelbeispiel des Polyphemabenteuers den historischen Hintergrund der Apologen (S. 121–141) und die Wirkungsgeschichte der Blendung des Kyklopen als Motiv in der antiken Bildmalerei (S. 141–158). Ein Märchenmotiv wird zur reflektierenden Impression der historischen Erfahrungen der frühgriechischen Kolonisation als Siedlungserfahrung und Erfahrung des Anderen der griechischen Zivilisation und der gesetzlichen Polis, „zwischen Natur, Zivilisation und Goldenem Zeitalter“ (S. 127–130). Das Kapitel endet mit der Diskussion über die erzählerische Reflexivität des Polyphemmotivs, mit Fokus auf der Funktion des Blickes (zum Beispiel auf der sogenannten Eleusis-Amphora).

 

Das fünfte Kapitel (Rückkehr, Wiedererkennung und Erzählung, S. 159–203) führt in den zweiten Teil der Odyssee ein (S. 159–163) und argumentiert für die Bedeutung von Erzählungen als Medium der Identität zur Wiedererkennung des Odysseus. Als Bestandteil des Kapitels skizziert Grethlein auch die Interpretationsmöglichkeiten der spannenden Frage, ob und wann genau Penelope den Odysseus wiedererkennt, ehe sie den Bogenkampf ankündigt. Im Hinblick auf die Poetik der Spannung in der Epik zieht er konkret einen Vergleich zu unserem Erwartungshorizont bei der Lektüre eines modernen Romans, um zu zeigen, dass „im Vordergrund der homerischen Erzählung [...] eine packende Darstellung der Handlung, nicht die subtile Ausleuchtung von Innenwelten“ stehe (vgl. 2. Kap.). Obwohl der nostos in einer visuellen Sprache erzählt wird, lässt sich der Sehsinn bei Realisierung der Heimkehr nur ungenügend aufzeigen. Auf den Seiten 171–179 geht es um das „aggressive Potential“ des Blickes als Zeichen von Konfrontation, Aggression und Angriff, wie es sich an allen neun Belegen der Wendung hupódra idón („von unten herauf blickend“) beim Polyphemabenteuer, in der Episode um Skylla und Charybdis und der Mnesterophonie nachweisen lässt. Somit beschreibt der Autor die Wandlung des Odysseus vom passiven Erdulder auf Irrfahrt, zum Aggressor auf Ithaka. Die „Lügengeschichten“ (S. 190–203) des Odysseus (etwa an Athene, Eumaios, Antinoos, Eurykleia, Penelope, Laertes) werden gelesen als selbst geformte, „dem Wahren ähnliche“ Geschichten, in welchen Fakt und Erfindung miteinander vermengt werden, damit Odysseus durch diese Schemata seine Erfahrungen verarbeiten kann. Sie gelten dann als Sprechakte, die den jeweiligen Zuhörer bewegen und dementsprechend die Identität von Odysseus schildern.

 

Im sechsten Kapitel (Ethik und Erzählung, S. 205–242) wird die Gerechtigkeit des Odysseus mit Bezug auf das Schicksal der Gefährten und der Freier sowie die gegebenenfalls willkürliche Gerechtigkeit der Götter thematisiert. Bereits im Proöm führt Homer die Ethik als einen wichtigen Aspekt in der Welt seiner Epik ein, jedoch scheint er im Laufe der Erzählung eher „philodysseus“ zu sein. So wird bei der Erwähnung der Freveltaten der Gefährten und deren Bestrafung Odysseus zwar von jeglicher Schuld freigesprochen, doch geschieht dies eher im Sinne eines „Exkulpationsversuchs“.

 

Der Schluss der Odyssee ist durch eine erneute Darstellung von Volks- und Götterversammlungen spiegelbildlich zum Anfang komponiert, wenngleich der Ausgang der Erzählung offenbleibt, was dem epischen Genre durchaus angemessen ist. Nichtsdestoweniger gewährt auch die Odyssee dem Leser die Befriedigung, ein glattes Ende zu haben, wenn auch nur vorläufig (S. 253–259), und bietet eine in die Handlung integrierte „Antizipation des Rückblicks“ über das letzte Drittel der Erzählung an. Der Autor erklärt im siebten Kapitel (Das Ende erzählen, S. 243–269), warum der 24. Gesang doch Bestandteil der Odyssee ist, und thematisiert den viel diskutierten Vers Od. 23.296 als einen Höhepunkt im Sinne eines möglichen telos; die Deutung dieses Verses ist nämlich eng verknüpft mit der Frage, „wie man die Odyssee liest: als die Erzählung einer Rache, als die Geschichte eines Paares oder als die Rückkehr des Herrschers.“

 

Nachdem Grethlein verschiedene Mittel, Formen und Funktionen des Erzählens in der Odyssee beschrieben hat, fasst er in einem Epilog (Reflexivität und Erfahrung, S. 271–282) seine Thesen zusammen; darin betont er, dass die Erzählung als Erfahrung von der Kunst des Erzählenden und der Rezeption abhängt, wobei auf angemessene Weise ästhetische Distanz gewahrt bleiben soll. Das Buch endet wiederum mit einem zweiten Blick auf das mannigfaltige Nachleben der Odyssee, mit der Besprechung der Odysseus-Figur als des „Dulders“, „Überlebenden“ und „Ur-Erzählers“ im einflussreichen autobiographischen Roman Ist das ein Mensch? des Shoah-Überlebenden Primo Levi (1919–1987): „so wird der Odysseus, der von seinen Erlebnissen berichtet, ein Spiegel für den schreibenden Levi. Ebenso wie dieser erzählt er, um seine traumatischen Erfahrungen zu bewältigen“ (S. 276). Am Beispiel von Levi thematisiert Grethlein die Rezeption der Odyssee durch Übersetzungen und skizziert schließlich den Stand der Forschung in der Literaturkritik, mit Betonung des Aufstiegs von Konzepten der Präsenz, Erfahrung und Materialität. Das Buch endet mit dem Fazit, dass das Erzählen als „Überlebensstrategie“ zum Gegenstand der Odyssee werde.

 

In lockerem Erzählton und verständlicher Sprache arbeitet sich der Autor an konkreten Beispielen durch das Epos. Ausführliche Nacherzählungen, exemplarische Exkurse, eventuelle Wiederholungen sowie Zusammenfassungen der wichtigsten Punkte am Ende jeder Einheit funktionieren konstruktiv, indem sie die Lesenden dabei unterstützen, dem roten Faden zu folgen. Neben einer gut lesbaren Einführung in die homerische Odyssee bietet das Buch ein Potpourri von möglichen Ausgangspunkten und lebendigen Praxisbeispielen für die Lektüre eines Werkes anhand aktueller Theorien der Narratologie. Die Odyssee als Erzählung über das Erzählen bildet zwar eher einen topos in post-strukturalistischen Lektüren, aber die Faszination des Epos liegt doch gerade in der Hinterfragung seiner eigenen Poetik.

 

Anmerkungen:
[1] Hugo von Hofmannsthal (Einleitung), Erzählungen aus den Tausendein Nächten. Nach dem arabischen Urtext übertragen von Enno Littmann, Insel-Verlag, Wiesbaden 1954, S. 8.
[2] In diesem Zusammenhang wäre eine Auseinandersetzung mit Brian Boyd, On the Origins of Stories: Evolution, Cognition, and Fiction, Cambridge 2009 wünschenswert.
[3] Zum Thema siehe auch Jonathan Slay, Achilles in Vietnam. Combat Trauma and the Undoing of Character, Scribner, New York 1994, und ders. Odysseus in America. Combat Trauma and the Trials of Homecoming, Scribner, New York 2002.