Date: 2017/07/02 19:27:30
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>
Neuerscheinung: Einwohner von Hornbach 1798-1875
Thomas Besse [Thomas(a)Besse.de] hat mich gebeten, über dieses neue Buch zu informieren:
Der
Amerikaner John Georg Blum aus Wausaukee in Wisconsin/USA hat
ein
Einwohnerbuch von Hornbach bei Zweibrücken von 1798 bis 1875
zusammengestellt.
Er hat auf die Mikrofilme der Mormonen in Salt Lake City
zurückgerufen und die
Geburts-, Heirats- und Sterbedaten der Standesämter der Gemeinde
Hornbach
verwendet. Das Buch hat 445 Seiten und kann in Hardcover für 25
€ und in
Softcover für 19 Euro im Historama beim Historischen Verein
Hornbach [http://historischer-verein-hornbach.de/]
oder bei der Zweibrücker Arbeitsgemeinschaft für
Familienforschung erworben
werden.
Es wurde lediglich eine kleine Auflage von 50 Exemplaren bei der Fa. Pirrot in Sbr-Dudweiler gedruckt. |
Date: 2017/07/05 18:33:05
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>
Warum ist der Wendelskuchentag in St. Wendel am 5. Juli?
Heute feiert die katholische Kirche in St. Wendel ein Fest, das auf einer alten Tradition beruht, das Wendelskuchenfest. Hergeleitet wird es von einer Geschichte aus der Geschichte:
„Am 5. Juli ist der Wendelskuchentag. Für diesen Tag backen manche St. Wendeler Hausfrauen kleine Brote, die sie mit zur Kirche nehmen, wo sie neben dem Hochaltar hingestellt werdden. Nach dem Hochamt segnet der Priester die Brote, und die Leute nehmen sie wieder mit nach Hause. Dieser fromme Brauch erinnert an die Übertragung der Gebeine des hl. Wendelinus im Jahre 1360 aus der Magdalenenkapelle in das damals fertiggestellte Chor der Pfarrkirche. Von der Zeit an ließ der Kirchenvorstand alljährlich viele hunderte Brötchen backen und segnen und dann unter die Meßdiener und das Volk als „St. Wendels Kuchen“ verteilen. Als in der Franzosenzeit 1793 der Kirche viele Einkünfte verlorengingen, konnten keine Brötchen mehr ausgeteilt werden. Aber die Leute brachten nun selbst Brote und Kuchen und ließen sie segnen, und so ist es geblieben bis auf den heutigen Tag.“
So beschreibt es Nikolaus Obertreis in seinem Buch „Stadt und Land des hl. Wendelin“ im Jahre 1927.
Heute werden diese Brote von der hiesigen Pfarrgemeinde in Auftrag gegeben. Es gibt ein genaues Rezept dafür, das u.a. auch Rosinen enthält.
Ein ähnlicher Artikel im derzeitigen Pfarrbrief spricht von einer 657-jährigen Tradition. Das wollte ich genauer wissen und habe mir im Pfarrarchiv die alten Kirchenrechnungen angeschaut.
Die sog. „Kirchenrechnungen“ sind Jahresberichte über alle Einnahmen und Ausgaben, die der Kirchenrechner (nicht der Pfarrer) verwaltete. Die Abrechnung erfolgte für ein Geschäftsjahr, das von Johannis des einen bis Johannis des nächsten Jahres reichte. Johannis, das ist das Hochfest der Geburt Johannes’ des Täufers am 24. Juni.
Es ist in jedem Jahr ein umfangreicher Bericht mit zahlreichen Unterpositionen. Zunächst kommt eine Übersicht, in welchen Währungen gerechnet wird, dann erfolgen die Einnahmen - aus den Opferstöcken zunächst in der Pfarrkirche und bei St. Anna (eine Kapelle auf dem heutigen Golfplatz), später auch am Wendelsbrunnen; aus ausgeliehenem Geld; jede Menge Positionen aus verpachteten Grundstücken und Häusern; diPe „Priesterpräsenz“, das sind Einnahmen aus Selbstverpflichtungen, etwa fiktiven Zinsen, die entstünden, würde man Grundstücke oder Häuser verpachten. Ihr Zweck ist die Finanzierung der Geistlichen - quasi das frühere Pendant einer Kirchensteuer, die ja auch eine freiwillige Abgabe ist. Auf der Ausgabenseite stehen die Saläre für die Geistlichen in Form von Geld und Naturalien unddie Aufwendungen für Reparaturen und Neubauten an der Kirche und anderen, der Pfarrei gehörigen Gebäuden. Darunter befindet sich auch die Aufstellung von „Ausgaben an Korn“, das etliche Seiten vorher bei den „Einnahmen aus Korn“ eingegangen war.
„Korn“ oder „Getreide“ - so erzählt Frau wikipedia - sind die meist einjährigen Pflanzen der Familie der Süßgräser, die wegen ihrer Körnerfrüchte kultiviert werden, andererseits die geernteten Körnerfrüchte. Die Früchte dienen als Grundnahrungsmittel zur menschlichen Ernährung oder als Viehfutter, daneben auch als Rohstoff zur Herstellung von Genussmitteln und technischen Produkten.
Zum Korn zählen u.a. Weizen, Roggen, Gerste und Hafer. In unseren Breiten wurde bevorzugt Roggen und Hafer angebaut. Da der Hafer eine eigene Position in der Kirchenrechnung hat, bleibt der Roggen, vielleicht auch Weizen, für die Position „Korn“ übrig. Die Kirchenrechnung bleibt da unspezifisch - vermutlich wußte damals sofort jeder, was mit „Korn“ gemeint war - warum es also noch stärker differenzieren?
In unseren Kirchenrechnungen findet sich tatsächlich unter den Ausgaben für Korn ein jährlich ein Posten über die Menge an Korn, das für den Wendelskuchen ausgeben wurde.
Schauen wir zum Beispiel in die Rechnung von 1589-1590:
Quelle: Pfarrarchiv St. Wendel, Kirchenrechnung 1:
Seite 146 Außgab korn „Item uff Trantzlationis St Wandalini verbacken in brodt v mtr“
„v mtr“ ist die Mengen- und Maßangabe: „v“ ist die römische Zahl „5“, „mtr“ steht für „Malter“.
Ich habe die Getreidemaße zu St. Wendel nachgeschaut:
Ein Malter (222,4 Liter) = 8 Faß, 1 Faß = 4 Sester, 1 Sester = 4 Mäßchen. 1 Malter wog: Hafer 106,752 kg; Roggen 151,232 kg.
(Quelle: Erich Mertes Kolverath, „Alte Fruchtmaße in den ehemaligen Regierungsbezirken Koblenz-Trier und ihre Umrechnung in kg/Liter“, wgff.net/trier/download/Verzeichnisse/Fruchtmasse.pdf)
Die genannten 5 Malter Roggen waren demnach 750 kg. Das hört sich nach „viel“ an, aber wieviel Mehl und Teig und Brot gibt das tatsächlich? Dazu kommen wir später.
Es gibt eine weitere Position, die sich mit dem Thema „Wendelskuchen“ befaßt. Sie steht bei den allgemeinen Ausgaben:
Seite 138 „item von fünff maltr wendelsbrott zu backen geben Cv alb“
Das bedeutet, man hat den Bäckern außer dem Material, sprich: Korn, noch Geld gegeben und zwar 105 Albus. Wofür erfahren wir in der Kirchenrechnung 1754-1755:
Seite 601: „Ausgaab geldt Itz denen beckeren 4 Malter Korn zum Wendels brodt zu backen anjetzo wegen dem holtz 7 Gulden 12 alb“
Hier ist die Menge an Korn um einen Malter herabgesetzt worden. Dafür erhalten sie eine stattliche Menge Geld für das Holz, das sie zum Backen brauchen.
In dieser Rechnung 1754-1755 wird auch zum ersten Mal ein Datum für den Wendelskuchentag genannt:
Seite 606: „Restiert also 4 Mltr Vor künfftige Rechnung vor das Wendels brodt zu backen, weillen selbiges jedes jahr d 5ten Juli in nachfolgender Rechnung stehet“
Der hier genannte Rest kommt wohl daher, daß der Kirchenrechner die vier Malter Korn erst in der nächsten Rechnung verbuchen will oder wird oder kann. Die Abrechnung für die Rechnung ist der 24. Juni 1755, aber die Kornausgabe erfolgt erst am 5. Juli. Warum das so ist, wissen wir nicht; vielleicht wurde das Korn, das er für diese Ausgabe vorgesehen hatte, zu spät angeliefert.
Und da haben wir das Datum, um das es hier geht: den 5ten Juli. Dem Tag, an dem die Reliquie von der Magdalenenkapelle in die Pfarrkirche übertragen wurde. Nach heutiger Lesart am Pfingstmontag 1360.
Bleiben wir bei dem Datum.
Pfingsten wird am 50ten Tag der Osterzeit gerechnet, also am 49. Tag nach dem Ostersonntag. Das sind genau sieben Wochen. Da der Pfingstmontag 1360 am 5ten Juli war, muß Ostern demnach um den 17ten Mai gewesen sein. Etwas spät im Jahr für mein Dafürhalten, denn wir sind Ostern im März bzw. April gewöhnt.
Wann ist denn Ostern?
Das 1. Kirchenkonzil im Jahre 325 hat festgelegt, daß Ostern stets am ersten Sonntag nach dem ersten Vollmond des Frühlings stattfindet. Stichtag ist damit der 21. März, die "Frühlings-Tagundnachtgleiche". Damit ist der früheste mögliche Ostertermin der 22. März (wenn der Vollmond auf den 21. März fällt und der 22. März ein Sonntag ist.), der späteste ist der 25. April.
Und wie war das 1360?
Für solche Berechnungen verwende ich gern ein Computerprogramm, mit dem ich seit Jahren gute Erfahrungen beim Umsetzen von Datumsangaben aus und in den französischen Revolutionskalender gemacht habe: es heißt GenTool6.0, wurde 2008 von Heinz Georg Schlöder aus Troisdorf entwickelt und wird von ihm kostenlos als download zur Verfügung gestellt (http://www.gentools6.de).
Dieses Programm gibt das Osterfest, d.h. den Ostersonntag, mit dem 5ten April 1360 an, natürlich nach dem julianischen Kalender (der gregorianische wurde erst gut 200 Jahre später entwickelt un kam erst 1582 zur Anwendung).
Aber - Moment - wenn der Ostersonntag der 5. April war, dann war Pfingstsonntag der 23. Mai. Wo kommt denn dann der 5. Juli her?
Es wird Zeit, sich das zugrundeliegende Ereignis genauer anzuschauen.
„Trantzlationis St Wandalini“ heißt es 1589-1590.
In der ältesten, im Pfarrarchiv St. Wendel vorhandenen Rechnung aus dem Jahr 1519-1520 wird auf Seite 57 der Begriff nur in einer anderen Variante genannt: „tranßlationis Wandalen“
Gemeint ist stets die Übertragung der Gebeine von der Magdalenenkapelle in die Pfarrkirche.
Welche Belege haben wir dafür? Max Müller verweist in Bezug auf das Datum „5. Juli 1360“ in seiner „Geschichte der Stadt St. Wendel“ auf das Wendelsbüchlein von Pfarrer Keller aus dem Jahre 1704.
Aber der Text dort nennt gar kein Jahr und ist an sich recht chaotisch:
„Diese Kirch war endlich von dem weltberühmten Cardinal Nicolao Causano Consecrirt und mit einer sillbernen Ampel und ewigen licht geziert und beschenckt. Am H. Pfingstfest erhöbte er den h. leichnam aus seinem Grab, darin er über 650 Jahre gelegen und verehrt worden, und übersetzte ihn in Jetzt gemeltete Kirch. Dieses Fest wirt noch Jehrlich den 5ten Heumonat gehalten und gesegnetes Bord ausgetheilt.“
Keller wirft hier wirklich alles durcheinander. Er - bei dem Jahr 617 als Todesjahr des hl. Wendelin zum ersten Mal auftaucht - legt die Translation auf das Jahr 1267 bzw. danach fest (617 plus „über 650“). Die silberne Ampel ist allerdings eine Stiftung des Trierer Erzbischofs Boemund an die Pfarrkirche, aber erst am 31. Mai 1361 (PfA St. Wendel, US 14), und Nikolaus von Cues hat mit St. Wendel gar erst im 15ten Jahrhundert zu tun, also nochmal 100 Jahre später.
Das Datum „1360“ als Fertigstellungsjahr des Kirchenneubaus und Übertragsjahrs der Reliquie wird zum ersten Mal in Christoph Brouwers „Antiquitatum et annalium Trevirensium libri“ auf, zunächst als kurzer Hinweis im chronologischen Index (Seite 70:
„Anno demum MCCCLX, crescente S. Wendalini oppido, templum eidem Divo excitatum consecratumque, corpore illius ex aede B. Magdalenae, eodem translato.”
Frau Dr. Stitz hat den Text ins Deutsche übersetzt:
„Schließlich wurde im Jahre 1360, als die Stadt des heiligen Wendalinus wuchs, dort ebendiesem Heiligen eine Kirche gebaut und geweiht, nachdem sein Leichnam aus dem Haus [= Kapelle] der heiligen [eig. „seligen“] Magdalena dorthin überführt worden war.“
Der Haupttext auf Seite 232 weicht ein wenig von vorgenanntem Text ab:
„CLXXXI. S. Wendalini translatio. Annus Chr. 1360 Hoc etiam tempore, cum S. Wendalini oppidum jure Treverico probe communitum tectis aedificiisque jam frequens staret, visum incolis est Boëmundi ac decessorum ope, novam aptare patrono sedem; quare sat amplum Confessoris honori positum templum, anno recuperatae salutis 1360. Innocentii Pontificis VIII. consecratum est; hucque Sancti corpus, eximiâ mox venerationis pompâ illatum.“
Übersetzung (ebenfalls Frau Dr. Stitz)
„181. Übertragung des hl. Wendalin. Christi Jahr 1360 Zu dieser Zeit auch, als die Stadt des hl. Wendalin, mit trierischem Recht gehörig ausgestattet, bereits mit zahlreichen Häusern und Gebäuden dastand, schien es den Einwohnern richtig, mit Boemunds und seiner Nachfolger Hilfe, ihrem Schutzpatron einen neuen Sitz anzupassen [eine neue Kirche zu errichten]; daher wurde zur Ehre des [hl.] Bekenners eine ziemlich geräumige Kirche gebaut [und] im Jahre des wiedererlangten Heils 1360, im achten Jahre des Papstes Innozenz eingeweiht; hierher wurde der Leichnam des Heiligen bald in einer ganz besonderen Prozession, die seiner Verehrung diente, übertragen.“
Haben Sie den kleinen Unterschied gemerkt? In der Einleitung wird der Leichnam zuerst übertragen, dann erfolgt die Weihe. Im Hauptteil ist es anders herum: hier erfolgt erst die Weihe, dann die Übertragung.
Aber immer und auf jeden Fall soll das im Jahre 1360 geschehen sein.
Auf die Unmöglichkeit, daß die Kirche um diese Zeit fertiggestellt und deshalb eingeweiht wurde, will ich an dieser Stelle nicht eingehen, sonst ufert dieser Text völlig aus.
Irgendwas war los in dieser Zeit um 1360:
=> 11.07.1358 Arnold, genannt Kickuz, Priester und Frühmesser der Maria Magdalena Kapelle in St. Wendel, wird durch EB Boemund von Trier Rektor der Magdalenenkapelle in St. Wendel
=> Christi Himmelfahrt 1359 Der Generalvikar der Diözese Metz beurkundet die Consecration der Magdalenenkapelle zu St. Wendel und eines Altares zu Ehren S. Mariae Magdalenae und erteilt ihr einen 30-tägigen Ablaßprivilig
=> 04.04.1360 Ablaßbrief auf 40 Tage für die Pfarrkirche und die Magdalenenkapelle zu St. Wendel durch 18 Bischöfe aus Avignon
=> 08.06.1830 Ablaßbrief auf 40 Tage für die Pfarrkirche zu St. Wendel durch Erzbischof Boemund von Trier (wird von Metz bestätigt)
=> 25.07.1360 Die Brüder Arnold und Jakob von Odenbach übertragen ihre Rechte an der Mühle zu Stegen auf die Frühmesse in der Kapelle St. Maria Magdalena zu St. Wendel
=> 31.05.1361 Erzbischof Boemund von Trier stiftet eine Messe in der Pfarrkirche St. Wendel. Die Priester versprechen, ein ewiges Licht in der Kirche zu unterhalten, wozu der Erzbischof eine silberne Ampel stiftet.
Aber das sind nur Einzelstücke, und niemand kennt ihren Zusammenhang.
Auch wenn man niemals weiß, wie zuverlässig selbst eine zeitgenössische Quelle ist, bleibt hier die Frage, ob Brouwer, der zwischen 1559 und 1617 lebte, als Quelle angesehen werden kann, obwohl er ja eigentlich wie wir nur Zweitverwender ist.
Tatsächlich gibt es noch einen älteren Beleg, in dem von einer Translation die Rede ist.
Dabei handelt es sich um eine Ablaßurkunde aus dem Jahre 1318, in der die Magdalenenkapelle zum ersten Mal schriftliche Erwähnung findet. Das Original wird im Landeshauptarchiv Koblenz unter der Signatur 1 A 3596 geführt. Ich folge hier einer Abschrift und Übersetzung, die Dr. Margarete Stitz vorgenommen hat. Das Original wurde am 23. September 1318 in Metz ausgestellt.
Bruder Daniel, durch Gottes Gnade Bischof von Arka und Vikar des Metzer Kapitels während der Sedisvakanz, erteilt einen 40-tägigen Ablaß allen, die die Kirche des heiligen Wandelinus aufsuchen und zwar an folgenden Tagen:
„an seinem Fest und [am Fest] seiner Übertragung und am Weihefest dieser Kirche, ebenso an den Festen der seligen Maria, der seligen Katharina, Maria Magdalena, des seligen Nikolaus und [am Fest] der Weihe der Magdalenenkapelle, und am Karfreitag und an den einzelnen Festen der Vorgenannten und in den Oktaven ihrer Weihen, wenn sie ihre Sünden gebeichtet haben und bereuen (…)“
Das Problem ist jetzt nur, daß wir nicht wissen, um welche Übertragung es sich handelt. Ich denke, es ist unstrittig, daß seine Gebeine übertragen worden.
Fragt sich, wohin. Aus einem Erdgrab in die Magdalenenkapelle. Aus dem Vorgänger der Pfarrkirche in die Magdalenenkapelle. Aus der Magdelenenkapelle in die Pfarrkirche.
Daß die Leute in St. Wendel immer angenommen haben, daß er in der Magdalenenkapelle geruht und in die Pfarrkirche übertragen wurde, ist unstrittig … aber Vorsicht: die Annahme ist unstrittig. Wie oft wurde die Magdalenenkapelle bis zu ihrer Säkularisierung um 1800 „Wendelskapelle“ genannt, wie oft allein in den Kirchenrechnungen.
Aber daß die Gebeine 1360 [noch?] in der Magdalenenkapelle aufbewahrt wurden, dagegen spricht eine Aussage aus der obengenannten Ablaßurkunde von 1318:
„Weil wir überdies den heiligen Wandelinus festlicher verehren wollen, wohin er auch aus der Kirche, in der er ruht, getragen wird, wie es gewöhnlich geschieht [bei Bittgängen], um heiteres oder ruhiges Wetter oder an den Bitttagen, wenn alle sich fromm bei ihm [zur Prozession] versammeln und mit ihm wieder zur Kirche zurückziehen, gewähren wir für immer barmherzig im Herrn zehn Tage Nachlass, im Vertrauen auf unsere vorgenannte Autorität, auf Gnade und Verdienste, von den ihnen auferlegten Bußen.“
Hier ist explizit von der Kirche die Rede, in der er ruht, aus der er getragen wird und zu er von den Gläubigen zurückbegleitet wird. Also liegt er 1318 schon oder noch oder schon wieder in der Pfarrkirche.
Und jetzt gehen die Fragen erst richtig los: Worin hat das Fest der Übertragung von 1318 seinen Ursprung? Wenn er 1318 schon in der Kirche war, welchem Zweck diente die Tumba, die 1802 aus der Magdalenenkapelle in die Pfarrkirche gebracht wurde und vermutlich aus dem 14ten Jahrhundert stammt? Und vielleicht bezieht sich ja das unmögliche Datum „5. Juli“ wirklich auf eine Übertragung der Gebeine - aber schon lange vor 1360, die nichts mit Pfingsten zu tun hat.
Weder auf die Fragen noch die Spekulation werden wir wohl je eine Antwort bekommen. Aber fragen kann man ja mal.
St. Wendel, 5. Juli 2017
Roland Geiger
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Date: 2017/07/07 22:03:58
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>
Das Buch als Medium - Mittelalterliche Handschriften und ihre Funktionen Interdisziplinäre Graduiertentagung Universität Wien Institut für Kunstgeschichte Altes AKH Spitalgasse 2, Hof 9 1090 Wien Die Teilnahme ist kostenlos. Aus organisatorischen Gründen bitten wir um formlose Anmeldung bis 15. August 2017 via tagung.buchfunktion.kunstgeschichte(a)univie.ac.at Freitag, 01. September 2017 08:30 - 09:00 Uhr: Registrierung, Kennenlernen, Kaffee 09:00 - 09:15 Uhr: Grußworte 09:15 - 10:15 Uhr: Keynote 09:15 - 10:15 Uhr Kathryn Rudy (St. Andrews) 10:15 - 10:30 Uhr: Pause 10:30 - 12:00 Uhr: Vorträge (Moderation: Gerd Micheluzzi) 10:30 Uhr Kristina Kogler (Wien): Vidal Mayor - Die Bebilderung einer aragonesischen Rechtshandschrift 10:50 Uhr Diskussion 11:00 Uhr Eszter Nagy (Budapest): The Function of Mythological Images in Books of Hours from Rouen 11:20 Uhr Diskussion 11:30 Uhr Philippa Sissis (Berlin): Zwischen Lesen und Schreiben - Humanistische Inszenierung in Relation zum Text 11:50 Uhr Diskussion 12:00 - 14:00 Uhr: Mittagspause 14:00 - 18:30 Uhr: Ausflug zum Augustiner-Chorherrenstift Klosterneuburg (für Mitwirkende) 19:00 Uhr: Abendessen Samstag, 02. September 08:45 - 09:00 Uhr: Kaffee 09:00 - 10:30 Uhr: Vorträge (Moderation: Christina Jackel) 09:00 Uhr Sophie Zimmermann (Wien): Büchergenealogien. Über imaginierten und tatsächlichen Verlust deutschsprachiger Texte und Handschriften 09:20 Uhr Diskussion 09:30 Uhr Timo Bülters (Rostock/Bonn): Auf Spurensuche im Kloster - Ein niederdeutsches Kräuterbuch in Nonnenhand 09:50 Uhr Diskussion 10:00 Uhr Giulia Rossetto (Wien): Using and Re-Using Parchment Manuscripts: The Case of the Byzantine Prayer-Books 10:20 Uhr Diskussion 10:30 - 10:50 Uhr: Pause 10:50 - 12:20 Uhr: Vorträge (Moderation: Lena Sommer) 10:50 Uhr Alexander Hödlmoser (Wien): Die Österreichische Chronik der Jahre 1454 bis 1467. Editorische Anmerkungen zur Arbeit am Text - damals und heute 11:10 Uhr Diskussion 11:20 Uhr Irina von Morzé (Wien): Eine Weltgeschichte für den Kaiser: Rom, BAV, Vat. lat. 5697 (vor 1437) 11:40 Uhr Diskussion 11:50 - 13: 15 Uhr: Mittagspause 13:15 - 14:25 Uhr: Vorträge (Moderation: Sophie Dieberger) 13:15 Uhr Lisa Horstmann (Heidelberg): Der »Welsche Gast« von Thomasin von Zerclaere. Veränderung der Bild-Text-Relation in 300 Jahren Überlieferungsgeschichte 13:35 Uhr Diskussion 13:55 Uhr Maximilian Wick (München): Die Leidener Wigalois-Handschrift - Ausdruck einer subversiven Theologie? 14:15 Diskussion 14:25 - 14:45 Uhr: Pause 14:45 - 15:45 Uhr: Vorträge (Moderation: Silvia Hufnagel) 14:45 Uhr Stefanie Krinninger (Göttingen): "Het ich nu kunsten spyse / in mir, daz ich [...] / in ditz buch [...] / Ein rede kunde getichten ...". Zum Kunstbegriff des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit 15:05 Uhr Diskussion 15:15 Uhr Dennis Wegener (Wien): Das handschriftlich nachgetragene 117. Kapitel des Theuerdank-Drucks Rar. 325a der Bayerischen Staatsbibliothek München 15:35 Uhr Diskussion 15:45 - 16:00 Uhr: Pause 16:00 - 17:00 Uhr: Vorträge (Moderation: Andrea Riedl) 16:00 Uhr Justyna Luczynska (Krakau): The Franciscan Breviary (Ms. Czart. 1211) in the Library of Princes Czartoryski in Kraków as a Masterpiece of the Neapolitan Illumination Art under the Aragonese Dynasty 16:20 Uhr Diskussion 16:30 Uhr Christina Weiler (Wien): Die Meditationes vitae Christi - Franziskanische Devotionshandschriften des Trecento 16:50 Uhr Diskussion 17:00 - 17:30 Uhr: Abschlussdiskussion ------------------------------------------------------------------------ Christina Weiler Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte Spitalgasse 2, 1090 Wien, Österreich tagung.buchfunktion.kunstgeschichte(a)univie.ac.at Tagungsinformationen <https://buchalsmedium.univie.ac.at/> |
Date: 2017/07/08 22:15:30
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>
Guten Abend,
ich lade Sie ein, sich am Montagabend oben am Dom in St. Wendel einen Vortrag anzuhören.
Im Winter war einFilmteam, das den Film über die Verehrung des hl. Wendelin in aller Welt dreht, in den USA unterwegs. Sie besuchten u.a. den Flecken Perkinsville im amerikanischen Bundesstaat New York, in dessen Pfarrkirche seit 1897 eine Reliquie unseres Heiligen ruht.
Im Rahmen der „Gartengespräche“ (dem „Montagsferienprogramm“ der Pfarrgemeinde St. Wendel) werde ich am kommenden Montagabend über diesen Ort berichten und über die Auswanderer aus St. Wendel und Umgebung (Alsfassen, Urweiler, Remmesweiler, Urexweiler, Tholey etc.), die sich dort niederließen.
Der Vortrag heißt „Der hl. Wendelin reist nach Amerika“.
Auf der Wiese vor dem kath. Pfarrhaus (bei schlechtem Wetter im Cusanushaus) Beginn: 19 Uhr
Der Eintritt ist frei.
Mit freundlichen Grüßen
Roland Geiger |
Date: 2017/07/14 20:23:28
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>
From: Gregor Spuhler <spuhler(a)history.gess.ethz.ch> Date: 15.07.2017 Subject: Tagber: Tag der Zeitzeugen ------------------------------------------------------------------------ Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung, Universität Tübingen 18.05.2017-19.05.2017, Tübingen Bericht von: Gregor Spuhler, Archiv für Zeitgeschichte, ETH Zürich E-Mail: <spuhler(a)history.gess.ethz.ch> Ziel der Tagung war es, sich am ersten Tag über die bisherigen Erfahrungen bei der Arbeit mit Zeitzeugen in der (ausser-)schulischen Bildungsarbeit zu verständigen. Dabei standen die Keynotes von Martin Sabrow (Potsdam) und Christiane Bertram (Konstanz) sowie eine Podiumsdiskussion im Zentrum. Abends präsentierte Aleida Assmann (Konstanz) das letzte Drittel ihres Dokumentarfilms über die Flakhelfergeneration (1926-1929), und Peter Wensierski (Berlin) berichtete vom Making of seines Buches über die Revolution in der DDR 1989. Am zweiten Tag wurden mit Blick darauf, dass über den Nationalsozialismus bald niemand mehr aus eigenem Erleben berichten kann, vier Projekte zur zukünftigen Arbeit mit Zeitzeugen vorgestellt. Deren Chancen und Risiken für das historische Lernen stellte Juliane Brauer (Berlin) in einem zusammenfassenden Referat zur Diskussion. Die Tagung zeigte, dass es nützlich ist, drei verschiedene Begriffe von "Zeitzeuge" zu unterscheiden. Martin Sabrow analysierte den Aufstieg der Figur des Zeitzeugen nach 1945 und seine Funktion in Öffentlichkeit. Für Christiane Bertram sowie für die Fachleute von Schulen, Bildungsforschung und Gedenkstätten standen der Zeitzeuge als Medium bzw. als "Darstellung" oder "Quelle" und die Chancen und Risiken seines Einsatzes in der historisch-politischen Bildung im Zentrum. Davon zu unterscheiden sind schliesslich Zeitzeugeninterviews, die im Rahmen von Oral History-Projekten durchgeführt werden. So standen für ALEIDA ASSMANN (Konstanz) und ALEXANDER VON PLATO (Hagen) das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse am Anfang, während die mediale Verwertung des (bearbeiteten) Zeitzeugnisses nachgeordnet ist. Dieses Erkenntnisinteresse rückt - abgesehen von der Rekonstruktion schriftlich nicht dokumentierter Fakten - entweder Erinnerungs- und Gedächtnisprozesse oder aber das Zusammenwirken von Individuum und Gesellschaft in konkreten historischen Kontexten in den Fokus, ohne dass diese beiden stets miteinander verflochtenen Aspekte völlig getrennt werden könnten. MARTIN SABROW (Potsdam) hob aus seiner Analyse der Figur des Zeitzeugen[1] vier Punkte hervor. 1) Die Inszenierung seiner Erscheinung - die Kamera fokussiert auf zitternde Hände, auf die Falten im Gesicht etc. - verleiht dem Zeitzeugen die Aura der Authentizität. Sie verwandelt ihn in ein sprechendes Relikt aus vergangener Zeit, einen Wanderer zwischen den Welten der Vergangenheit und der Gegenwart. Dank seiner Aura ist die Überzeugungskraft des Zeitzeugen dem Argument des Historikers im medialen Geschichtsdiskurs überlegen. 2) Als Produkt unserer Zeit unterscheidet sich der Zeitzeuge vom Augen- oder Tatzeugen, der über historische Fakten Auskunft geben soll. Für die Genese des modernen Zeitzeugen ist der Eichmannprozess prägend, als über Hundert Überlebende in den Zeugenstand gerufen wurden - nicht um Eichmanns persönliche Verantwortung und Schuld zu beweisen, was die meisten nicht konnten, sondern um die Schrecken des Holocaust und das millionenfache Leiden mit ihren individuellen Aussagen zu bezeugen. 3) Die Geltungskraft des Zeitzeugen beruht auf der zeitlichen Distanz und auf seiner Viktimisierung: Er zeugt von einer schlimmen Zeit, die - zur Erleichterung des Publikums - tatsächlich vergangen ist, und er war damals Opfer. Der Täter, sofern er sich nicht geläutert hat, gilt als "schlechter" bzw. "unzuverlässiger" Zeitzeuge. 4) Schliesslich hat der Zeitzeuge seine Funktion gewandelt: von der kritischen, angebliche Gewissheiten in Frage stellenden Instanz ist er zum Instrument der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung geworden. CHRISTIANE BERTRAM (Konstanz) stellte ihre Interventionsstudie[2] vor, mit der sie den Effekt des Einsatzes von Zeitzeugen im Schulunterricht auf die historischen Kompetenzen der Lernenden mit einer sozialwissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Methodologie gemessen hat. Auf besonderes Interesse stieß ihr Ergebnis, dass jene Schulklassen, in denen ein Zeitzeuge real anwesend war, den Unterricht deutlich interessanter und lebendiger fanden und die Schülerinnen und Schüler auch überzeugt waren, mehr gelernt zu haben, als wenn kein Zeitzeuge vor Ort gewesen wäre. Nachweisen ließ sich ein solcher Effekt aber nicht, im Gegenteil: Die historische Sachkompetenz war in jenen Klassen, in denen ein Zeitzeugnis nur in Form eines Textes oder Videos vorgelegt wurde, dieselbe wie in jenen Klassen, in denen ein Zeitzeuge persönlich erschienen war. Und bei letzteren war die quellenkritische Kompetenz am Ende sogar deutlich geringer. Der Grund dafür dürfte darin liegen, dass ein Videointerview oder eine Transkription quellenkritisch analysiert werden können, was sich in der direkten Begegnung mit dem Zeitzeugen sozusagen verbietet. Der Schluss aus dieser Erkenntnis kann, so Bertram, angesichts der positiven Auswirkungen solch persönlicher Begegnungen auf Motivation und Engagement der Lernenden jedoch nicht sein, keine Zeitzeugen in den Unterricht einzuladen. Vielmehr ist vertieft darüber nachzudenken, zu welchem Zweck sie eingeladen werden und vor allem ist für die (quellen-)kritische Nachbereitung mit der Klasse mehr Zeit einzuräumen. In den Diskussionen auf dem Podium wie auch am folgenden Tag standen die Aura des Zeitzeugen, die Bedeutung von Emotionen für historisches Lernen und das Verschwinden des Zeitzeugen bzw. der Übergang vom realen Zeitzeugen zur "medialen Zeitzeugenschaft" (J. Brauer) im Zentrum. Der Begriff der Aura blieb zwar nicht unwidersprochen, namentlich von jenen, die selbst mit Zeitzeugen arbeiten. Dennoch bestand Einigkeit darin, dass man "den Pelz nicht waschen kann, ohne ihn nass zu machen" (M. Sabrow), das heisst: Will man in der historischen Bildung mit Zeitzeugen auch quellenkritische Kompetenz vermitteln, so findet zwangsläufig eine "Entzauberung" des Zeitzeugen statt und der vermeintlich direkte und authentische Zugang zur Vergangenheit wird relativiert. Wie dies (bzw. ob dies überhaupt) in Anwesenheit des Zeitzeugen geschehen soll, wurde nicht diskutiert. Vielleicht zielte JÖRG SKRIEBELEIT (Flossenbürg) in seiner podiumsgerechten Zuspitzung auf diese Schwierigkeit ab, als er meinte, das von vielen, von ihm selbst aber nicht so sehr beklagte Verschwinden der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen mache die Bildungsarbeit in der einen oder anderen Hinsicht auch leichter. Dass die "Entzauberung" des Zeitzeugen weniger durch Berichtigungen des Historikers, sondern vielmehr durch historische Kontextualisierung und den Vergleich mit anderen Zeitzeugenberichten geschehen soll, wurde wiederholt festgestellt. Wie hängen Emotionen und historisch-politische Bildung zusammen? JULIANE BRAUER (Berlin) zeigte sich gegenüber dem "Gefühlsoptimismus" skeptisch; das Einfühlen in die Menschen der Vergangenheit sei kaum möglich und historisches Lernen erfolge nicht über Empathie und Identifikation, sondern über die Erfahrung von Alterität. Dem wurde von Seiten der Lehrerschaft widersprochen: Emotionen seien zwar nicht alles, aber ohne Emotion sei alles nichts. Die "emotionale Überwältigung" der Schülerinnen und Schüler, vor der die anwesenden Bildungsforscher/innen und Historiker/innen mit Bezug auf den mehrfach zitierten Beutelsbacher Konsens warnten, komme im Schulalltag so gut wie nicht vor, und wenn es emotional schwierig werde, seien die Lehrkräfte dazu da, dies aufzufangen. Konsens herrschte schließlich darüber, dass auf zusätzliche Emotionalisierung zu verzichten ist, dass aber - auch starke - Emotionen bei den hier verhandelten Themen selbstverständlich auftauchen. Sie sollten zugelassen, in den Unterricht miteinbezogen und wiederum zum Gegenstand der Reflexion gemacht werden. Wie das auf sinnvolle und produktive Weise in der Praxis geschehen kann, wurde allerdings nicht vertieft diskutiert. Die am zweiten Tag vorgestellten Projekte zeugten von Engagement, hohem Reflexionsniveau und Mut zur Innovation, und sie boten Anlass zu lebhaften Diskussionen. DOROTHE WEIN (Berlin) stellte die didaktisch aufbereiteten und online zugänglichen Interviews mit ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern vor.[3] SARAH HÜTTENBEREND (Düsseldorf) und RUTH-ANNE DAMM (Düsseldorf) berichteten von ihren Erfahrungen, wenn sie in Schulklassen als "Zweitzeugen" das Leben von Holocaustüberlebenden, die sie persönlich kennen, den Schülerinnen und Schülern näher bringen.[4] Der von BERND KÖRTE-BRAUN (Berlin) vorgestellte Holocaustüberlebende als 3D-Hologramm kann mit dem Publikum in einen virtuellen Dialog treten und um die 2000 Fragen zu seinem Schicksal und seiner Biografie beantworten.[5] Ob der Zeitzeuge damit zum "Homunculus" (A. von Plato) mutiert, der auf eine nicht vorhergesehene Frage dereinst sagen wird, sein Algorithmus könne diese Frage nicht beantworten, sei dahingestellt. KATRIN UNGER (Bergen-Belsen) präsentierte eine App, die auf dem Rundgang durchs heute naturnahe und dadurch fast idyllisch wirkende Gelände des ehemaligen KZ verschiedenste Informationen über Gebäude und Plätze, Personen und Ereignisse darbietet.[6] Als verbindendes Element zwischen den unterschiedlichen Projekten hielt Juliane Brauer fest, dass die direkte und persönliche Begegnung mit dem Zeitzeugen durch die "mediale Zeitzeugenschaft" abgelöst wird. Was aber unterscheidet mediale Zeitzeugenschaft vom ganz gewöhnlichen, in der historischen Bildungsarbeit schon lange verbreiteten biografischen Zugang zum Thema, wie ihn die Selbstzeugnisse von Anne Frank oder Victor Klemperer, von Ruth Klüger oder Primo Levi bieten? Zeitzeugenberichte jüngeren Datums - in der Regel Videozeitzeugnisse - vermitteln als bewegte Bilder einen weit stärkeren Eindruck von der Persönlichkeit als bloße Texte. Didaktisch aufbereitet und technisch raffiniert können sie unsere Informationen dort ergänzen, wo es bislang keine schriftlichen Zeugnisse gibt. Vor allem aber geben sie als retrospektiv angelegte Dokumente Aufschluss darüber, wie die Menschen trotz der in jungen Jahren erlittenen Verfolgung ihr Leben gemeistert haben. Sie stellen also andere Fragen und bieten andere Erkenntnismöglichkeiten als zeitgenössische Selbstzeugnisse. Für die Epoche des Nationalsozialismus ist dennoch fraglich, ob diesen Zehntausenden von Zeitzeugnissen, in den letzten drei Jahrzehnten entstanden sind, auch im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts noch dieselbe Bedeutung zukommen wird. Wenn diese "letzten Zeitzeugen", die 1945 Kinder, Jugendliche oder allerhöchstens junge Erwachsene waren, wie ihre Eltern und Grosseltern längst verstorben sind, könnte das Interesse an Berichten, die mehr als 50 nach den geschilderten Ereignissen entstanden, auch wieder schwinden - zugunsten jener Augenzeugenberichte und Selbstzeugnisse, die in der Zeit der Verfolgung selbst und unmittelbar danach entstanden und inzwischen vielerorts in Vergessenheit geraten sind.[7] Nur kurz zur Sprache kamen an der Tagung die Bildungsarbeit für Erwachsene und die Frage, ob statt der Opfer nicht auch verstärkt die Täter als Zeitzeugen untersucht werden sollten. Mit der Fokussierung auf die Diktaturen des Nationalsozialismus und der DDR bewegte sich die Veranstaltung im nationalgeschichtlichen Rahmen; am Rande wurde erwähnt, dass der Zeitzeuge in der medialen Öffentlichkeit Frankreichs oder Grossbritanniens keineswegs immer Opfer, sondern oft auch Held ist. Und ob man angesichts des durch Flucht und Migration bedingten gesellschaftlichen Wandels in 20 Jahren noch sagen können wird, dass es bei Nationalsozialismus, Holocaust und DDR um "unsere Geschichte" (A. Assmann) geht, wird die Zukunft zeigen. Konferenzübersicht: Martin Sabrow (Potsdam), Wovon zeugt der Zeitzeuge? Christiane Bertram (Konstanz), Wirksamkeit von Zeitzeugenbefragungen in der Schule Aleida Assmann (Konstanz), Alexander von Plato (Hagen), Jörg Skriebeleit (Flossenbürg), Christiane Bertram (Konstanz): Welche Funktionen können / sollen / dürfen Zeitzeugen in der wissenschaftlichen Arbeit und in der (ausser-)schulischen Bildung einnehmen? (Podiumsdiskussion) Aleida Assmann (Konstanz), Anfang aus dem Ende. Die Flakhelfergeneration (Dokumentarfilm) Peter Wensierski (Berlin), Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution (Lesung) Dorothee Wein (Berlin), (Schulische) Bildung mit der Online-Anwendung "Lernen mit Interviews: Zwangsarbeit 1939-1945" Sarah Hüttenberend / Ruth-Anne Damm (Düsseldorf), "Zweitzeugen"-Projekt in der deutschen Erinnerungskultur und Bildungslandschaft Bernd Körte-Braun (Berlin), Zeitzeugen als 3D-Hologramm in der Bildungsarbeit Katrin Unger (Bergen-Belsen), Tablet-Application und Präsenz von Zeitzeugen in der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen Juliane Brauer (Berlin), Zeitzeugen und Emotionen - Chancen und Risiken für das historische Lernen im 21. Jahrhundert Anmerkungen: [1] Martin Sabrow, Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen zwei Welten, in: Martin Sabrow / Norbert Frei (Hrsg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012, S. 13-32. [2] Christiane Bertram, Zeitzeugen im Geschichtsunterricht. Chance oder Risiko für historisches Lernen. Eine randomisierte Interventionsstudie, Schwalbach/Ts. 2017. [3] <http://www.lernen-mit-interviews.de> (07.07.2017). [4] <http://heimatsucher.de> (07.07.2017). [5] <https://sfi.usc.edu/collections/holocaust/ndt> (07.07.2017). [6] <http://www.belsen-project.specs-lab.com/> (07.07.2017). [7] Vgl. Laura Jockusch, "Jeder überlebende Jude ist ein Stück Geschichte". Zur Entwicklung jüdischer Zeugenschaft vor und nach dem Holocaust, in: Sabrow / Frei, Geburt des Zeitzeugen, S. 113-144. URL zur Zitation dieses Beitrages <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=7243> |
Date: 2017/07/14 20:25:32
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>
So einen ausgewanderten Musiker haben wir ja hier in St. Wendel auch: Philipp Jakob Riotte. From: Christian Bartle <christian.bartle(a)icloud.com> Date: 15.07.2017 Subject: Tagber: Die Familie Stamitz und die europäische Musikermigration im 18. Jahrhundert. Johann Stamitz zum 300. Geburtstag ------------------------------------------------------------------------ Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim?/ Forschungsstelle Südwestdeutsche Hofmusik der Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Kurpfälzisches Kammerorchester e. V. Ludwigshafen-Mannheim 17.06.2017-18.06.2017, Schwetzingen / Mannheim Bericht von: Christian Bartle, Musikwissenschaftliches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg E-Mail: <christian.bartle(a)icloud.com> Migration - ein Thema, das in gegenwärtigen Medienberichten an Aktualität und Brisanz kaum zu übertreffen ist und sich zugleich als anthropologische Grundkonstante in der Menschheitsgeschichte manifestiert. Auch Musiker und Komponisten wurden von Migration immer wieder beeinflusst, so etwa der Böhme Johann Stamitz, der die musikalische Entwicklung am kurpfälzischen Hof im 18. Jahrhundert maßgeblich prägte. Das Symposium "Die Familie Stamitz und die europäische Musikermigration im 18. Jahrhundert" und der Festvortrag wurden anlässlich seines 300. Geburtstages von der Forschungsstelle Südwestdeutsche Hofmusik der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der Fachgruppe Musikwissenschaft/Musikpädagogik der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim veranstaltet. Forschungstheoretische Ziele waren die genauere Untersuchung von Migration als biographisches Element diverser Musiker, das Überschreiten von geographischen und konfessionellen Grenzen sowie die reziproke Beziehung zwischen entopischen und migrierten Komponisten. SILKE LEOPOLD (Heidelberg) verwies im Begrüßungsvortrag zunächst auf die übergeordnete Wichtigkeit der Migration innerhalb der Musikgeschichte und stellte pointiert heraus, dass migrantische Mechanismen und der damit einhergehende Austausch zwischen Komponisten die Entwicklung der Musik stets förderten. Als Fallbeispiel führte sie die Mannheimer Schule unter der kurfürstlichen Regierungszeit Karl Theodors an, die prototypisch für die Synthese aus lokalen und fremden Traditionen steht. PANJA MÜCKE (Mannheim) skizzierte im direkten Anschluss mithilfe von Charles Burneys Reiseberichten den jährlichen Wandel der kurfürstlichen Sommerresidenz Schwetzingen, wenn Karl Theodor mit seinem Hofstaat anreiste und zahlreiche Musiker die Klanglandschaft des Dorfes veränderten. Es folgten Erläuterungen zum aktuellen Forschungsstand und zum Konzept der Tagung, bei der insbesondere Nachwuchswissenschaftlern ein Forum gegeben werden sollte. Die Familie Stamitz ist ein Paradebeispiel für eine gelungene Migration und Integration. GWENDOLYN DÖRING (Mainz) beschäftigte sich vor diesem Hintergrund mit der Frage, inwiefern Johann Stamitz' Ausbildung am Iglauer Jesuitengymnasium als Katalysator für seine erfolgreiche Migration und die resultierende Anstellung am kurpfälzischen Hof unter Karl Theodor gedeutet werden kann. Als weichenstellende Grundlage hierfür ist erstens seine fundierte Ausbildung durch die Jesuiten anzuführen - die feste Verankerung von Musikausübung und -vermittlung im Lehrplan stellte Stamitz das Handwerkszeug für seine spätere musikalische Laufbahn zur Verfügung. Für einen geglückten Migrationsprozess kam dem Jesuitenorden mit seinen europaweiten Anlaufstellen zweitens eine wesentliche Vermittlerfunktion als länderübergreifendes Netzwerk zu, das internationale Strukturen zur gesellschaftlichen Integration bereitstellte. Wie sich der länderübergreifende Austausch zwischen Musikern auch durch längere Auslandsaufenthalte kompositionstechnisch konkret äußerte, führte ANDREAS TROBITIUS (Marburg) im folgenden Vortrag am Beispiel von Johann Stamitz' "Missa Solemnis" aus. Vermutlich entstand das kirchenmusikalische Werk um 1754 für die Pariser "Concerts spirituels" - doch ist intendiert der sinfonische Klang der Mannheimer Schule eingearbeitet, der mit Stamitz in die französische Metropole "migrierte" und dort eine innovative Messkonzeption proklamierte: Sätze mit sinfonischem Duktus stehen im Kontrast zu Sätzen in strenger kirchenmusikalischer Manier. Eine detaillierte Analyse des "Gloria" konkretisierte das Sinfonische: Neben der recht üppigen Besetzung und sinfonisch-instrumentalen Klangtechniken ist der Satz gezeichnet von systematisch verarbeiteten Themen. DAVID VONDRÁCEK (München) problematisierte im folgenden Vortrag die Forschungssituation der tschechischen Musikwissenschaft im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hinsichtlich der nationalen Zugehörigkeit des migrierten Johann Stamitz. An ausgewählten Primärquellen wurden die unterschiedlichen Strategien und Argumentationsmodelle tschechischer Wissenschaftler wie etwa Vladimír Helfert oder Bohumil Stedron deutlich, die auf eine Vereinnahmung Stamitz' als tschechischen Komponisten abzielten und in seiner Musik eine böhmisch-mährische Musiksprache zu sehen glaubten. In der Diskussionsrunde wurde in diesem Kontext eindringlich auf die fundamentale Problematik der nationalen Kategorisierung von Musik und Musikpraxis und die anachronistische Verwendung des Nationenbegriffs hingewiesen. Inwiefern Migration im 18. Jahrhundert die Entwicklung musikalischer Gattungen beeinflusste, legte YEVGINE DILANYAN (Schwetzingen) am Fallbeispiel der Flötenquartette dar. Diese Form des Quartetts mit Blasinstrument erfreute sich zu dieser Zeit großer Beliebtheit. Eine vergleichende Analyse zwischen verschiedenen Flötenquartetten von Karl Joseph Toeschi, Ernst Eichner und Carl Stamitz zeigte die Parallelen in Instrumentation, harmonischer Gestaltung und im Umgang mit motivischem Material. Diese Analogien lassen im weiteren Sinne auf eine speziell im kurpfälzischen Raum verbreitete Kompositionsweise für Flötenquartette schließen. Die französische Kultur des 18. Jahrhunderts war für weite Teile Europas normativen Charakters und beeinflusste die lokalen Traditionen auch in Mannheim, wie MECHTHILD FISCHER (Mannheim) eingangs in ihrem Referat betonte. Sie ging der Frage nach, auf welchen Wegen und mithilfe welcher Personen und Institutionen die musikalische Kultur des Nachbarlandes den Weg in die Kurpfalz fand. Die Musiker der stilprägenden Mannheimer Hofkapelle identifizierte sie als einen gewichtigen Faktor und essenziellen Träger dieses Austauschprozesses. Durch Konzertreisen einzelner Mitglieder nach Paris festigten sich dort nach und nach die innovativen Praktiken der Mannheimer Schule und trugen zum Aufbrechen der musikalischen Isolation Frankreichs bei. Umgekehrt verlief der Kulturtransfer aber auch von Paris nach Mannheim - so "migrierte" etwa das Prinzip der "Sinfonia Concertante" durch die Mannheimer Hofmusiker aus Frankreich an den kurpfälzischen Hof, wo es sich schließlich als eine gewichtige Kompositionsform etablierte. Betrachtet man die Rechnungsbücher der Pariser Orchester aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, so sind zahlreiche Hornisten, Klarinettisten und Trompeter deutscher sowie böhmischer Provenienz äußerst präsent. SARAH SCHULMEISTER (Wien) ging der Frage nach, weshalb die Bläserbesetzung in Paris - in den 1760er-Jahren meist ganz vernachlässigt - ab 1770 zunehmend obligat wurde und welche Rolle der Migrationsprozess hierbei spielte. So ist die sukzessive Etablierung von Bläserstimmen an das neue deutsche Konzertrepertoire gekoppelt, das über die Konzertreisen der Mannheimer Hofmusiker nach Paris gelangte. Besonders Johann Stamitz, der Anfang der 1750er-Jahre einige Zeit lang ein Pariser Orchester leitete, besetzte die Hornstimmen mit deutschen Spezialisten und legte damit den Grundstein für die steigende Popularität von Holz- und Blechbläsern. RÜDIGER THOMSEN-FÜRST (Schwetzingen) veranschaulichte am Fallbeispiel der böhmischen Hornistenfamilie Ziwny, wie Musiker den Weg an die verschiedensten südwestdeutschen Hofkapellen fanden und die steigende Nachfrage nach spezialisierten Bläsern in den 1740er-Jahren für eine erfolgreiche Migration nutzten. Um einer gegenseitigen Konkurrenz präventiv entgegenzuwirken, verschafften sich Johann Ziwny und seine vier Söhne ausgehend von Prag Anstellungen in Rastatt, Schwetzingen, Mannheim und wahrscheinlich auch Stuttgart. Als auf Hörner spezialisierte Musiker waren sie nicht polyinstrumental ausgebildet und erwarben aufgrund ihres Könnens hohes Ansehen - Joseph Ziwny etwa wurde Stimmführer in Mannheim und beeinflusste als Pädagoge zudem die Vermittlung und Praxis des Hornspiels. Den zweiten Tag des Symposiums eröffnete SARAH-DENISE FABIAN (Schwetzingen) und untersuchte die konfessionsüberschreitende Integration migrierter katholischer Musiker am württembergischen Hof. Die Personalakten des 18. Jahrhunderts offenbaren zwar deutlich eine katholische Dominanz. Wie aber aus diversen Einstellungsdekreten hervorgeht, zeichnete einerseits die recht liberale, zeitweise geradezu protektive Haltung der Herzöge für das überkonfessionelle Orchester verantwortlich - die Religionszugehörigkeit war demnach zumindest für eine Anstellung als Hofmusiker kein K.-o.-Kriterium. Andererseits war es weniger die Kirchenmusik, die am württembergischen Hof im Vordergrund stand. Vielmehr wurde die Musiklandschaft von der italienischen Oper bestimmt, weshalb der Glaubensunterschied nur eine untergeordnete Rolle spielte. Ähnlich wie mit den nach Paris migrierten deutschen und böhmischen Blasmusikern verhielt es sich mit Italienern an deutschen Höfen. NORBERT DUBOWY (Salzburg) erläuterte, weshalb italienische Musiker in deutschen Hofmusikkapellen des 18. Jahrhunderts derart hoch im Ansehen standen. So war man etwa der Auffassung, dass zur stilgerechten Aufführung von italienischer Musik auch italienische Musiker vonnöten seien. Als sich die Satzkonzeption vom generalbasszentrierten Ensemble hin zum streicherbasierten Orchester vollzog und sich eine Vorliebe für alles Italienische manifestierte, wurde zunehmend die obligate Mehrfachbesetzung der Streicherstimmen Usus. Hier erfolgte zumeist der Rückgriff auf die exzellent ausgebildeten Italiener - andere Positionen, etwa die der Holz- und Blechbläser, blieben ihnen verwehrt und wurden vorrangig mit Deutschen besetzt. THOMAS BETZWIESER (Frankfurt am Main) lenkte den Blick zum Schluss des wissenschaftlichen Tagungspanels auf die Biographie des migrierten Mannheimer Musikers Franz Beck, der vermutlich Schüler von Johann Stamitz war. Schon in jungen Jahren verließ Beck den deutschsprachigen Raum in Richtung Frankreich, wo er in Marseille zunächst eine Anstellung als Kapellmeister antrat. Eine gewichtige Bedeutung kommt ihm in der Stadtgeschichte von Bordeaux zu - hier ließ er sich in den 1760er-Jahren nieder und war bis zu seinem Tod hier wohnhaft. An einigen Beispielen aus diversen kurzen Opern wurde illustriert, wie er die lokale musikalische Tradition mit den Attributen der Mannheimer Schule versah und für das örtliche Musikleben nachhaltig prägend wirkte. Mit dem im Rittersaal des Mannheimer Schlosses stattfindenden Festvortrag von MICHAEL WERNER (Paris) wurden schließlich zentrale Konzepte und Praktiken von Migration resümierend betrachtet und deren Wandel ausgehend vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart skizziert. Das reziproke Verhältnis zwischen Migrationsprozessen und ökonomischen Innovationen, neuen technischen Errungenschaften, sozialen Umwälzungen und politischen Ereignissen wurde als Spannungsfeld begriffen, dessen Impulse die semantischen Dimensionen von Migration formte. Einen feierlichen Ausklang fand das Symposium anlässlich des 300. Geburtstags von Johann Stamitz durch das ebenfalls im Rittersaal stattfindende Festkonzert. Unter dem Dirigat von Johannes Schlaefli präsentierte das Kurpfälzische Kammerorchester gemeinsam mit Bläsern der Musikhochschule Mannheim unter solistischer Mitwirkung von Marco Rizzi (Violine) sowie Wolfhard Pencz (Klarinette) zwei Sinfonien (Wolf D-3 und Wolf Es-4) sowie ein Violin- und Klarinettenkonzert. Das Konzept der Tagung und die Beiträge insgesamt tangierten die Migration als Terminus technicus ausgehend vom Mannheimer Hof unter Karl Theodor einerseits aus einer allgemeineren Perspektive, wobei besonders die Rolle von vernetzten Institutionen als eminenter Faktor für eine erfolgreiche Migration hervorgehoben wurde. Die detaillierte Betrachtung verschiedener Fallbeispiele und vergleichender musikalischer Analysen führte andererseits zu einer Spezialisierung, in deren Mittelpunkt die Musikermigration stand. So ergab sich ein differenziertes Bild der mannigfaltigen kulturellen Implikationen von Migration im damaligen Musikleben: Als Komponente von Musikerbiographien bedingte sie konfessionsübergreifend einen regen Austausch zwischen migrierten und ortsansässigen Musikern, dessen fruchtbare Synthese von Tradition und Innovation sich etwa durch die Analyse gattungsspezifischer Werke und Kompositionstechniken ausgezeichnet nachvollziehen lässt. Implizit deutlich wurde, dass Migration nur gelingen kann, wenn dem Spannungsverhältnis zwischen kultureller Isolation und kultureller Offenheit eine gewisse Ausgeglichenheit zugrunde liegt. In einer Zeit, in der zunehmend Initiativen an Kraft gewinnen, die sich durch kulturelle Abschottung den Auswirkungen der Migration erwehren wollen, hätte die hochaktuelle Thematik des Symposiums nicht passender sein können. Konferenzübersicht: Johann Stamitz zum 300. Geburtstag - Die Familie Stamitz und die europäische Musikermigration im 18. Jahrhundert Silke Leopold, Heidelberg Panja Mücke, Mannheim Begrüßung und Einführung Gwendolyn Döring, Mainz Johann Stamitz und seine Ausbildung bei den Jesuiten. Zur Bedeutung länderübergreifender Netzwerke für Migrationsprozesse im 18. Jahrhundert Andreas Trobitius, Marburg Johann Stamitz' Missa Solemnis in D - Provenienz, Stil, Rezeption David Vondrácek, München Johann Stamitz aus der Perspektive der tschechischen Musikwissenschaft Yevgine Dilanyan, Schwetzingen Die Flötenquartette von C. J. Toeschi, C. Stamitz und E. Eichner aus der Perspektive der Musikermigration am Mannheimer Hof Mechthild Fischer, Mannheim Drehscheibe des Kulturtransfers: Musiker der "Mannheimer Schule" im Austausch mit Paris Sarah Schulmeister, Wien "Cors et clarinettes nouvellement arrivés de l'Allemagne..." Zur Migration deutscher Blasmusiker nach Paris in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Rüdiger Thomsen-Fürst, Schwetzingen Die Ziwnys. Eine böhmische Hornistenfamilie an südwestdeutschen Höfen Sarah-Denise Fabian, Schwetzingen "von Niemand angefochten oder turbirt"? - Katholische Musiker am württembergischen Hof in Stuttgart und Ludwigsburg Norbert Dubowy, Salzburg Italienische Instrumentalisten an deutschen Höfen Thomas Betzwieser, Frankfurt Franz (Francesco/Francois) Beck: Ein "Mannheimer" in Bordeaux - Transferprodukte im Musiktheater Michael Werner, Paris "Musiker im Spannungsfeld von Migration und lokaler Verankerung. Zum Wandel der Konzepte und Praktiken von Mobilität (18.-20. Jahrhundert)" URL zur Zitation dieses Beitrages <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=7246> |
Date: 2017/07/15 23:23:00
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>
Guten Abend,
ich hab grad einen Krimi gesehen und einen starken Spruch gehört. Hat wohl was mit ZEN zu tun und sicher nichts mit dem Thema dieses Forums. Sei’s drum.
Roland Geiger
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Wenn wir ausatmen, Das Licht, das mich erleuchtet, Also hängt alles miteinander zusammen … Dadurch bin ich mit meinem Freund genauso
verbunden Dadurch gibt es auch keinen Unterschied
zwischen mir Dadurch gibt es auch keinen Unterschied
zwischen mir Niemand von uns ist allein … (aus der VIII. Folge der amerikanischen Krimiserie „life“)
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Date: 2017/07/16 08:34:37
From: Werner Schmitt via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Guten Abend,
ich hab grad einen Krimi gesehen und einen starken Spruch gehört. Hat wohl was mit ZEN zu tun und sicher nichts mit dem Thema dieses Forums. Sei’s drum.
Roland Geiger
--------------------
Wenn wir ausatmen,
atmet ein anderer unseren Atem ein.
Das Licht, das mich erleuchtet,
erleuchtet auch meinen Nachbarn.
Also hängt alles miteinander zusammen …
Dadurch bin ich mit meinem Freund genauso verbunden
wie mit meinem Feind.
Dadurch gibt es auch keinen Unterschied zwischen mir
und meinem Freund.
Dadurch gibt es auch keinen Unterschied zwischen mir
und meinem Feind.
Niemand von uns ist allein …
(aus der VIII. Folge der amerikanischen Krimiserie „life“)
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Regionalforum-Saar mailing list
Regionalforum-Saar(a)genealogy.net
http://list.genealogy.net/mm/listinfo/regionalforum-saar
Date: 2017/07/19 23:58:34
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>
Über die verregnete Wendelskirmes von 1926 und die neuen Brückenheiligen
Selbst die ältesten Leute können sich nicht erinnern, ein derartig verregnetes Wendelsfest erlebt zu haben, wie wir es heuer hatten.
Schon die letzten Tage vor der Kirmes ließen Böses vermuten. Aber die Tatsachen haben alle Annahmen übertroffen. Regen und Schnee, Sturm und in der Nacht zum Dienstage ein heftiges Gewitter mit Donner und Blitz, das alles hat zusammengewirkt, den Kirmesbesuch und die Kirmesfreude nicht hochkommen zu lassen.
Auf die Wallfahrt hatte freilich selbst dies schlechte Wetter nicht allzu ungünstig eingewirkt. Denn am Sterbetage unseres Patrons und auch am Samstage vor dem Feste kamen große Scharen frommer Pilger namentlich aus der Saargegend und aus dem Hochwalde, um St. Wendalin ihre Verehrung darzubringen. Staunend betrachteten sie die neuen Standbilder des heiligen Wendalin und des heiligen Johannes von Nepomuk, die in den letzten Tagen auf der Bahnhofs= und Johannisbrücke aufgestellt worden sind. In der Kunstwerkstätte Mettler zu Morbach aus Muschelkalk gehauen, stellen sie einen prächtigen Schmuck unserer beiden Brücken dar. Leider kamen die beiden Figuren bei dem dunklen Regenwetter nicht voll zur Geltung. Auch sie hätten wie das ganze Fest, das sie inaugurieren sollten, des goldenen Sonnenschein bedurft. So lag der Regen nicht nur drückend auf ihnen, sondern auf der ganzen Stimmung.
Selbst auf dem Vergnügungsplatze wollte keine rechte Freude aufkommen. Die Stadt hatte zwar den ganzen Platz vor= und fürsorglich mit Splitt überdecken lassen, aber bei dem Wasserreichtum, der von oben und von unten quoll, half alles nichts. Bald hüpfte männiglich mit langen Stelzbeinen im Matsche, und mancher Spangenschuh zog Wasser. In den hübsch geheizten Wirtschaften und Konditoreien herrschte noch die beste Stimmung und mancher Schoppen wurde geleert. Auch die Bälle waren gut besucht.
Natürlich litt auch der Wendelsmarkt unter den Unbilden der Witterung. Dazu kam die Sperre gegen den Auftrieb an Klauenvieh [wegen der grassierenden Maul- und Klauenseuche]. Damit war eigentlich schon von vorneherein das Todesurteil gegen den Markt gesprochen. Denn der Bauer kann nur Geld ausgeben, wenn er es zuvor gelöst hat. So waren zum Markte zahlreiche Verkäufer, wenig Käufer gekommen. Umsonst schrie sich deshalb selbst der wahre Jakob die Kehle heißer, und um manche Hoffnung ärmer haben viele Budenbesitzer am Abende ihre verregneten Waren eingepackt. Auch den Kunstinstituten, die den Neumarkt Bude an Bude bevölkerten, ist es herzlich schlecht ergangen. Gar mancher Schausteller hat kaum die Platzmiete herausgebracht.
Aber wenn man Gesamtbild der diesjährigen Wendelskirmes zeichnen soll, so muß man ihr doch die Note geben, sie war gemütlich und ist ohne jeden Zwischenfall verlaufen. Und noch lange wird man von der zwar verregneten, aber doch hübschen Kirmes des Jahres 1926 sprechen.
Quelle: St. Wendeler Volksblatt, 27. Oktober 1926, eingesehen im Stadtarchiv St. Wendel.
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Über die Firma Mettler aus Morbach, dem "Oberammergau des Hunsrücks", fand ich diesen Artikel „http://www.roscheiderhof.de/kulturdb/client/einObjekt.php?id=14957“ |
Date: 2017/07/23 22:59:28
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>
Osterhammel, Jürgen: Die Flughöhe der Adler. Historische Essays zur globalen Gegenwart. München: C.H. Beck Verlag 2017. ISBN 978-3-406-70484-0; 300 S.; EUR 19,95. Rezensiert für Soziopolis und H-Soz-Kult von: Isabella Löhr, GWZO - Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Universität Leipzig E-Mail: <isabella.loehr(a)leibniz-gwzo.de> Eine große Ahnengalerie begleitet dieses jüngste Buch von Jürgen Osterhammel, das bislang unveröffentlichte Vorträge und Reden versammelt, ergänzt um wenige, bereits andernorts erschienene, vom Autor für diesen Band überarbeitete Aufsätze. Friedrich Hölderlin, Sigmund Freud, Georg Forster dienen als Namenspatronen für Preise oder Jahresvorlesungen, für die Osterhammel dankte oder die er bestritt. Das Genre des historischen Essays, wie es das Buchcover ankündigt und das im Klappentext als besondere, selten praktizierte Kunstform herausgehoben wird, als deren Meister sich der Autor erweise, zeichnet sich durch einen freien Tonfall aus, der kommentiert, wertet oder unterhaltsame Bögen schlägt. Es stehen große Themen zur Diskussion wie die Weltöffentlichkeit im 20. Jahrhundert, Grenzen und Möglichkeiten einer globalhistorischen Zeitgeschichte, der "Aufstieg Asiens" oder die Begriffsgeschichte "des Westens", die Osterhammel in einem Gestus des Grundsätzlichen bearbeitet, indem er große Linien skizziert oder Themen erkundet. Inhaltlich deckt der Band ein breites Spektrum ab, das in vier Teile gegliedert ist. "Konzepte von Globalität" versammelt zwei in einem orthodoxen Sinn 'wissenschaftliche' Texte, die sich konzeptionell mit Globalisierung und dem Globalen in der Geschichtswissenschaft beschäftigen. Die beiden anderen Texte, der Aufsatz zur Weltöffentlichkeit im 20. Jahrhundert und ein ursprünglich in der FAZ abgedruckter Artikel zur imperialen Prägung des europäischen Kosmopolitismus, behandeln dagegen eher thematische als konzeptionelle Fragen. Sie würden gut in den dritten Abschnitt passen, der sich unter der Überschrift "Historische Stichworte" mit so verschiedenen Themen wie der Trias von Bürgerkrieg, Revolution und Krieg, mit Schutz, Protektion und Intervention als historischer Kategorien, mit dem Verhältnis von Zeitlichkeit und Kausalitäten in der Geschichte sowie mit den Umrissen einer globalen Zeitgeschichte befasst. Der zweite Abschnitt "Orte und Räume" kreist um geografische Problemstellungen. Hier finden sich die bereits erwähnten Aufsätze zum Westen und zu historischen Aufstiegs-, Verfalls- oder Rückschrittsgeschichten für den asiatischen Raum sowie schließlich ein sehr lesenswerter Text über Brücken als Metapher und Praxis des Verbindens. Unter der Überschrift "Ausklänge" beschließen drei eher spielerische Texte das Buch, die den Eindruck von wohl gehüteten wissenschaftlichen Augäpfeln erwecken: eine kurze Rede über die Sprache und das Schreiben von Büchern, eine schön zu lesende, dem Buch seinen Titel gebende Reflexion über den globalen Wissenshorizont Friedrich Hölderlins sowie ein zoologisch inspirierter Aufsatz zum Tiger. Die Globalgeschichte, diesen Eindruck gewinnt man beim Lesen, ist für Osterhammel Fluch und Segen zugleich. Fluch, weil viele Publikationen, die mit Ausdrücken wie global, Welt, Globalgeschichte oder Globalisierung hantieren, begrifflich oftmals unpräzise bleiben und so den Blick auf das Empirische eher verstellen, als dass sie Verstehen fördern. Segen, weil sich Osterhammel angesichts der quantitativen Expansion des Feldes bei aller Kritik und mahnenden Hinweisen, wie schnell eine globalgeschichtliche Arbeit handwerklich missraten kann, eindeutig über die wachsende Zahl guter empirischer Studien sowie an den Möglichkeiten freut, die die genaue Kenntnis von Spezialstudien für das Schreiben von Synthesen eröffnet. Seine eigene Vorstellung von Weltgeschichtsschreibung reflektiert und expliziert Osterhammel immer wieder. Für ihn braucht Globalgeschichte die räumliche Distanz, die von den Dingen oder den historischen Akteuren überwunden wird, und es ist dieser Akt des Überwindens und Verbindens, der für ihn analytisch im Zentrum steht. Nirgendwo wird dies deutlicher als in dem brillanten Aufsatz "Grenzen und Brücken". Aber, auch das macht Osterhammel am Ende des Textes deutlich, verbunden werden kann nur, was vorher getrennt war mit der Folge, dass jedes "Brückendenken" nicht umhinkomme, Wert zu legen "auf die freundliche Diskretion des Unterschieds" (S. 100). Der historische Vergleich bleibt das methodische Kernstück seines Werkzeugkastens, auch wenn es an anderer Stelle lapidar heißt, man solle den Vergleich einfach bleiben lassen, wenn er nicht funktioniert. Auch wenn die meisten Texte durch ihre analytische Präzision und eine sorgfältige historische Kontextualisierung bestechen, stellt sich trotzdem die Frage, ob das Beharren auf dem Vergleich (jenseits aller Betonung von Zirkulation, Austausch und dem Grenzüberschreitendem) methodisch am Ende weiterführt. Diese Frage drängt sich etwa bei der Lektüre von "Der Aufstieg Asiens" auf. Osterhammel nähert sich dem Thema zwar ideengeschichtlich, doch bleiben die Erklärungen einer bilateralen Logik verhaftet. Diese orientiert sich an politischen Grenzen und räumt der langen Geschichte der Interaktionen zwischen Asien, Europa und Nordamerika zu wenig Platz ein, als dass der transformative Einfluss dieser globalen Vernetzungen auf die beteiligten Gesellschaften und die damit einhergehende Herausbildung regionaler übergreifender Muster oder Strukturen erkennbar würde. Man muss den Ansatz des border thinking eines Walter Mignolo, den Osterhammel exemplarisch für ein allzu sehr auf kategoriale Auflösung fixiertes Denken zitiert, nicht teilen, um an dieser Stelle zu bemerken, dass seine Emphase für die überzeugenden Einzelstudien einer jüngeren Generation zu wenig anerkennt, dass gerade diese Studien immer mehr Argumente dafür vorlegen, die eigenständige Qualität grenzüberschreitender Beziehungen zu betonen, anstatt globale Verbindungen nur räumlich und instrumentell zu denken. Als unbestrittener Doyen der Welt- oder Globalgeschichte nimmt Osterhammel sich die Freiheit, das Feld durch einen bisweilen launischen Zugriff und einen großzügigen Pinselstrich immer wieder infrage zu stellen, aber eben nicht ohne immer die Notwendigkeit globaler Perspektiven zu unterstreichen. Osterhammel übt hier eine produktive Verunsicherung. In diesem Sinne geht die im Vorwort geäußerte Hoffnung, der Band inspiriere die jüngere Generation, durchaus in Erfüllung. Das gilt zum Beispiel für seine Überlegungen zum Bürgerkrieg als einer neben Revolution und Krieg bisher wenig beachteten und untertheoretisierten Kategorie, oder für seine Vorschläge, welche Themen eine globalgeschichtlich inspirierte Zeitgeschichte abdecken müsste - auch wenn Migration und globaler Kalter Krieg keine frisch geschöpften Themen mehr sind. Was bringt die Lektüre den Lesern? Das Buch funktioniert auf mehreren Ebenen. Es ist ein unterhaltsames Buch, geeignet für alle, die einen gut geschriebenen, kenntnisreichen und trotzdem impressionistischen Eindruck von den Themen, Zugriffen und Möglichkeiten bekommen möchten, die die Globalgeschichte bietet. Fachleute finden lesenswerte Überlegungen zu aktuellen Entwicklungen und theoretischen Untiefen sowie historiografische Reflexionen, mit denen sich gut arbeiten lässt. Oder es bietet sich ein thematischer Zugang an über die Texte in den Rubriken "Orte und Räume" sowie "Historische Stichworte". Mit der thematischen Breite, dem selektiven Zugriff auf die Globalgeschichte und dem enormen Wissensfundus Osterhammels, der in allen Texten aufscheint, ist dies ein historischer Essayband im besten Sinne. Der Autor hat aber auch ein Buch vorgelegt, das zwischen konzeptionellen Überlegungen, Synthesen und guter Wissenschaftsprosa Blicke hinter die Kulissen gewährt und die Person Osterhammel in verschiedenen Facetten sichtbar werden lässt. Da trifft der Leser auf den Geschichtspolitiker Osterhammel, der Angela Merkel anlässlich ihres 60. Geburtstages zu vermitteln versucht, dass nationale Interessen heute nicht mehr ohne globales Wissen konzipiert werden können und dass dies Konsequenzen haben müsse für die Lehrpläne in den Schulen wie für die strukturellen Rahmenbedingungen, die den Ausbildungsweg des wissenschaftlichen Nachwuchses vorgeben. Gleichzeitig taucht der politische Mensch auf, der seine weltgeschichtliche Praxis als politisch beschreibt (S. 204) und der Bundeskanzlerin eine Unterrichtsstunde ersten Ranges über Zeithorizonte, die Verkettung von Ursachen und Geschichtsbilder erteilt - was man von dieser Art der politischen Interventionen auch halten mag. Es wird der Tierfreund Osterhammel sichtbar, den Zoobesuche zu einer sehr lesenswerten kultur-, politik- und kolonialgeschichtlichen Beschäftigung mit dem Tiger animierten. Wir begegnen einem Autor, den bestimmte Themen wie die Rede vom "Westen" oder die These, mit dem Aufstieg Asiens werde eine europäisch und westlich geprägte Moderne abgelöst, offenbar nerven, der sie aber aufgreift, um aktuellen wie historischen Verfalls- oder Aufstiegsklischees den Garaus zu machen. Wir entdecken den Bildungsbürger, der bei einen Vortrag vor der Friedrich Hölderlin-Gesellschaft unter Beweis stellt, dass er Hölderlin gelesen hat, dessen Lyrik und Prosa (global-)historisch präzise kontextualisieren kann und sich unter den Zeitgenossen und im Bildungskanon von Klassik und Romantik bestens auskennt. Der Leser lernt einen 'aufrichtigen' Autor kennen, der die ganz unterschiedlichen Anlässe für das Schreiben der Vorträge ernst nimmt, sich gut vorbereitet in die Themen begibt, sie sich einverleibt und sich nicht wiederholt. Der Leser lernt den kritisch kommentierenden Zeitgenossen kennen, der einen Teil seiner Aufsätze zu humanitären Interventionen, globalen Öffentlichkeiten oder zu Brücken mit genauen und lesenswerten Beobachtungen seiner Gegenwart versieht. Schließlich entdecken wir den interdisziplinär interessierten Wissenschaftler, der sich ab einem gewissen Punkt allerdings immer wieder auf seine historische Praxis zurückzieht und der alle Spielarten, die ihm nicht sinnvoll erscheinen, wie die big history, rigoros vom Tisch fegt. Osterhammel spart auch nicht mit verdeckten Selbstbeschreibungen, wenn er etwa den Historiker August Ludwig Schlözer als Alter Ego vorschickt, den "Neugier und Gelehrsamkeit, Furchtlosigkeit gegenüber seinen Fachgenossen und gegenwartsdiagnostischer Urteilswillen" ausgezeichnet hätten, Eigenschaften, mit denen er heute eine globale Zeitgeschichte schreiben könnte (S. 214). Vielleicht erklärt dieser vielseitige Einblick in eine geschäftige, weiträumige Werkstatt die Auswahl der Texte besser als alle Versuche der Leser, einen roten Faden zu legen. Osterhammel schlägt den Adler als Leitmotiv vor. In dem titelgebenden Aufsatz "Die Flughöhe der Adler" schlüpft auf den letzten Seiten Friedrich Hölderlin mit seiner "stratosphärischen Phantasie" in die Rolle des Alter Ego: "Vogelperspektive, Fernsicht, schnelle und freie Bewegungen im Flug: Von einem solchen hohen und mobilen Blickpunkt aus entwirft Hölderlin gern seine Räume, die dadurch kraftvoll dynamisiert werden." (S. 243). Was Osterhammel Hölderlin hier unterstellt, beschreibt seine eigene historische Praxis, die er an anderer Stelle auch den "Satellitenblick des Historikers" nennt (S. 99). Das Bild des Adlers ist perfekt gewählt, denn kein anderer Greifvogel vereint in sich diesen außerordentlich scharfen Blick aus großer Höhe, das Schweben über den Dingen und die Symbolkraft des Erhabenen und Königlichen. Und es ist Goethe, den Osterhammel eingangs sagen lässt, dass es den Adler nicht interessiere, "ob der Hase, auf den er hinabschießt, in Preußen oder Sachsen läuft" (S. 7). Aber vielleicht liegt genau hier, in der Flughöhe und der Distanz zwischen ihm und dem Beobachteten, das Problem des Adlers. Es mag den Adler nicht interessieren, ob der Hase in Preußen oder Sachsen läuft, aber es macht einen Unterschied, wo und wie der Hase läuft, und zwar für den Hasen wie für den Adler. Diese Rezension wurde redaktionell betreut von: Stefan Mörchen <Stefan.Moerchen(a)his-online.de> |
Date: 2017/07/26 09:58:52
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>
Guten Morgen,
vorgestern abend erzählte der St. Wendeler Autor Alfons Klein ein paar humorige Geschichte um St. Wendel und seinen Stadtpatron im Rahmen der sog. „Gartengespräche“, die heuer in der Ferienzeit die Pfarrgemeinde im Pfarrgarten bzw. - wie vorgestern - bei schlechtem Wetter im Cusanushaus veranstaltet.
Mittendrin machte der Vorleser eine Kunstpause und bat seine Zuhörer um eigene Geschichten zum Thema, und tatsächlich kamen auch ein paar Wortmeldungen.
Mir fiel da eine Geschichte ein, die ich vor vielen Jahren in der St. Wendeler Oberstadt gehört hatte. Als ich sie in knappen Worten wiedergab, fiel mir auf, daß ich sie nie aufgeschrieben habe. Das hab ich eben nachgeholt - nun, ich möchte sie Oich nicht vorenthalten.
Roland Geiger
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Als der hl. Wendelin seinen Kopf verlor.
Diese Geschichte hat mir Martha Sebald aus der Balduinstraße vor vielen Jahren erzählt. Sie handelt von ihrer Mutter Barbara Sebald geb. Gerber (1882-1959) oder sogar schon deren Mutter Margarethe geb. Marx (1852- ca. 1920) - das weiß ich nicht mehr so genau -, jedenfalls war die Frau schon sehr alt [hm, ich habe immer den Eindruck gehabt, sie sei allein im Haus, also Witwe gewesen, aber Barbara wurde von ihrem Mann überlebt, bei Margarethe weiß ich es nicht; andererseits könnte es Martha durchaus selbst gewesen sein, denn sie war meines Wissens nicht verheiratet, und ihre Tochter, die heute in Amerika lebt und mit der ich nach Marthas Tod sprach, kannte die Geschichte nicht]. Jedenfalls geht es um diese alte Frau Sebald und den hl. Wendelin, der gegenüber auf dem Brunnen steht - bzw. dessen Kopf.
Da kam ein großer Lkw die Balduinstraße heruntergefahren und mußte in Höhe des Brunnens rangieren. Beim Rückwärtsfahren stieß er gegen den Brunnen bzw. - weil er recht hoch war - so heftig gegen den Kopf des Heiligen, daß dieser abgerissen wurde und in hohem Bogen davonflog. Frau Sebald sah, wie er auf die Erde fiel und unbeachtet liegen blieb. Der Lkw-Fahrer hat davon nichts mitbekommen oder es war ihm egal. Er verschwindet damit aus unserer kurzen Geschichte.
Der alten Frau Sebald, die von ihrem Fenster aus den davongeflogenen Kopf gut im Blick hatte, tat der hl. Wendelin leid, wie er da zum Teil oben auf dem Sockel stand und zum Teil unten in der Gosse lag. Also ging sie hinaus, nahm den Kopf auf und trug ihn ins Haus. Sie räumte eine Ecke im Fenster leer und stellte den Kopf dort auf, links und rechts von einer Kerze flankiert. Dort stand er ein paar Tage oder mehr, und sie verrichtete abends ihre Gebete vor ihm.
Nach einiger Zeit kam ihre Tochter zu Besuch und sah den Kopf auf dem Fenstersims stehen. „Ach du liebe Zeit“, rief sie und schlug die Hände zusammen, „aber Mama, wo hast Du den Kopf denn her?“
Und ihre Mutter erzählte ihr die Geschichte, wie der Kopf davongeflogen sei und er ihr leid getan und sie ihn deshalb in Sicherheit gebracht hätte.
„Ja, aber weißt Du denn nicht, daß er vermißt wird? Die halbe Stadt sucht schon nach ihm!“
In der Tat hatte die alte Dame, die selten vor die Tür ging, davon nichts mitbekommen. Natürlich haben die beiden den Kopf dann wieder zurückgegeben, und deshalb sitzt er heute längst wieder an Ort und Stelle. Aber die rechte Hand des Heiligen, von der die Leute immer meinen, sie würde sich segnend über sie strecken, weist vage in Richtung der anderen Straßenseite, dort, wo heute noch das Haus Balduinstraße 19 steht, wenn auch dort schon lange niemand mehr wohnt.
Daß diese Hand nicht die ist, die damals gleich nach der Kopfreparatur auf das Haus zeigte, nun, das ist eine ganz andere Geschichte.
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Date: 2017/07/26 14:23:11
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>
Mitten in St. Wendel liegt der Wendelsdom. So wird die Kirche schon seit über 100 Jahren genannt. Dabei weiß hier jeder, daß es sich nicht um einen Dom handelt. So wie der Hunnenring nicht von Hunnen erbaut wurde. Und ein Cousin meiner Mutter nicht Jürgen hieß, sondern Georg, obwohl ihn alle Welt als Jürgen kannte.
Warum die Kirche so genannt wurde, liegt auf der Hand. Denn „Dom“ ist nicht im kirchlichen Sinne zu sehen. Dort ist ein „Dom“ die Eigenkirche des Bischofs - wie etwa in Trier oder in Speyer. Hier in St. Wendel wohnt kein Bischof - die Kirche heißt so wegen ihrer erfurchtgebietenden Größe. Auch wenn sie im Vergleich zu anderen Gebäuden nicht sooo groß ist, es sind aber keine anderen größeren Gebäude in der Nähe, an der sie gemessen werden könnte. Und deshalb wirkt sie so riesig. Auch andere Kirchen tragen diesen Namen - die Kirche in Bliesen ist der Bliestaldom und die in Nonnweiler der Hochwalddom. Selbst der Felsendom in Jerusalem ist kein Dom; er ist nicht einmal eine christliche Kirche. Oder nehmen Sie den Petersdom in Rom - der viel mit unserer Kirche gemeinsam hat, wenn er auch um ein vielfaches größer ist. Beide wurden über einem Grabmal erbaut, beide im ausgehenden Mittelalter auf einem Vorgängerbau. Beide sind keine Bischofskirchen, aber beide tragen den Ehrentitel „basilika“ - „klein“ (minor) bei uns, „groß“ (major) in Rom, was beide zu Papstkirchen macht - und das ist ne Ecke mehr als jeder Dom.
Man sagt, Schönheit läge im Auge des Betrachters, und wenn wir über unsere Kirche mitten in der Stadt sprechen, sind wir befangen, wenn wir sagen, sie ist schön. Aber das sagen alle Leute, die sich ihr nähern. Von der Bahnhofstraße her sieht man sie über den Dächern der Häuser aufragen, ihr wuchtiges, dreigeteiltes Westwerk mit der barocken Haube in der Mitte und den kleineren Kugeln darüber, flankiert links und rechts von den hohen Spitzen der Seitentürme, die sich an die Mittelkonstruktion anlehnen, ja geradezu anschmiegen.
„He, die sind ja ganz krumm“, sagt einer und lacht. „Die sind nicht krumm“, sagt ein Architekt, der die Situation vor Ort genau erkundet und festgestellt hat, daß Seiten- und Mitteltürme eine starre Einheit bilden, die sich selbst trägt und stützt. Da hat sich der Meister Andler vor fast 300 Jahren etwas dabei gedacht, als er diese Konstruktion errichtete.
Wie alt denn die Kirche sei, wollen die Leute wissen, und das gerade ist die Frage, die so leicht nicht zu beantworten ist. Aus der Zeit des Kirchenbaus selber, dem 14ten und 15ten Jahrhundert, haben wir keine schriftlichen Unterlagen, die sich darauf beziehen. Wir haben jede Menge Papier, in der Hauptsache Schenkungen an die Pfarrei, aber da steht nichts über den Bau drin. Erst 250 Jahre nach dem mutmaßlichen Beginn schreibt ein Trierer Mönch etwas auf, und seine Jahreszahlen passen überhaupt nicht zu den Zahlen, die wir über die Dendrochonologie, das Bestimmen der Fälljahre der Bäume, aus denen die Dachkonstruktion besteht, wissen [Quelle: Amt für Kirchliche Denkmalpflege, Trier, Ordner „St. Wendelin“, Schreiben v. 15.10.2009].
So soll die Kirche schon 1360 fertig geworden sein, denn in dem Jahr soll sie geweiht worden sein. Dabei wird eine Kirche gar nicht geweiht, sondern eingesegnet. Ein Altar wird geweiht, u.a. in dem man eine Reliquie darin einsetzt. Schriftliches gibt es zu der Weihe von 1360 nicht, aber interessant ist, daß wir zu diesem Jahr mehrere Ablaßbriefe haben. Irgendetwas war damals, aber was. Vielleicht hat sich Christian Brouwer - so hieß der Trierer Mönch - um 100 Jahre vertan [Quelle: Christoph Brouwer, Antiquitatum Et Annalivm Trevirensivm, Hovius, 1670, Seite 232 u li]. Denn 1460 war die Kirche fertig. Das paßt aber nicht zu den Dokumenten. Brouwer gibt nicht an, woher er seine Weis- oder Wahrheiten hat. Vielleicht kannte er die - heute verschwundenen - Dokumente; vielleicht gab es dazu eine Legende, und er hat daraus auf das Jahr geschlossen. Das bleibt alles Spekulation.
Die Kirche hatte einen Vorgängerbau, das ist sicher, denn schon im 12ten Jahrhundert werden Geistliche aus St. Wendelin genannt [Quelle: Reichsarchiv München, Bipontina I, 127, Goerz, MRR KK, 127]. Das kann nicht die Magdalenenkapelle gewesen sein, die immer wieder einmal als erste Wendelskirche in St. Wendel ins Spiel gebracht wird. Denn schon 1318 - lange vor dem Bau der heutigen Kirche - wird in einer Ablaßurkunde zwischen der katholischen Kirche und der Magdalenenkapelle deutlich unterschieden [Quelle: Landeshauptarchiv Koblenz, 1 A 3586].
Zwischen 1326 und 1328 kaufte Erzbischof Balduin in seiner Funktion als Kurfürst zahlreiche Häuser und Ländereien rund um diese Vorgängerkirche; die Kirche selber kaufte er nicht. [Quelle: Landeshauptarchiv Koblenz, 1 A 4648, 1 A 4665, 1 A 4664, 1 C 11314, 1 C 1]
Die Kirche gehörte ebenso wie die Pfarrei, der sie diente, weiterhin zum Bistum Metz. Brower schreibt nun, daß der Bischof Boemund, Balduins Nachfolger, mit den St. Wendeler Bürgern die Kirche baute. Aber Boemund war der Chef des Bistums Trier, wieso soll er im Bistum Metz eine Kirche gebaut haben, auch wenn Metz ein Unterbistum von Trier war? Das geht dann, wenn die Metzer auf die Pfarrei St. Wendel keinen Wert mehr legten und es ihnen quasi egal war, was die Trierer damit anstellten. Das mag für spätere Ereignisse durchaus eine Rolle spielen.
Andererseits wollten die Trierer St. Wendel fördern, was man daran sieht, daß sie der Stadt im 14ten Jahrhundert ein Marktrecht gaben und den Bürgern erlaubten, sie mit einer großen Stadtmauer zu umgeben (die angebliche Verleihung der Stadtrechte 1332 ist eine Fehlinterpretation eines örtlichen Heimatforschers) [Quelle: Landeshauptarchiv Koblenz, 1 A 4747].
Was liegt also näher, als vorhandenes Wirtschaftspotential zu fördern?
Die Wallfahrt zum hl. Wendelin war in den vergangenen Jahrhunderten so stark gewachsen, daß der Name des Heiligen mit der Zeit den alten Namen des Ortes übertönt hatte - aus Bosenweiler war St. Wendel geworden. Nun heißt die Devise für alle, die auf sich aufmerksam machen wollen: „nicht kleckern, sondern klotzen“. D.h. daß die Kirche, die bisher die Reliquie berherbergt hatte, durch eine viel größere, viel imposantere ersetzt werden mußte.
Wir wissen weder, wer den Umbau, der im Laufe der Zeit fast einem Neubau gleichkam, plante, wer ihn durchführte, und schon gar nicht, wer ihn bezahlte. Romane wie Ken Follets „Säulen der Erde“ mögen uns Anregungen dazu geben, dokumentiert ist nichts. Allenfalls könnten uns die Steinmetzzeichen in den Steinblöcken Auskunft geben, aber bisher konnte die Identität der Handwerker noch nicht wirklich festgestellt werden.
Vielleicht hat Trier ja wirklich den ganzen Spaß bezahlt, und Brouwer bezieht sich darauf. Es bleibt unbekannt.
Begonnen wurde jedenfalls in der ersten Hälfte des 14ten Jahrhunderts. Das Turmwerk im Westen bestand im wesentlichen aus den heute dort noch existierenden Mauern und Kammern. Der Eingang in die Vorgängerkirche wird in der sog. Taufkapelle in der Nordwestecke der Kirche vermutet, und jüngst hat sich herausgestellt, daß ein dort über der Tür verlaufendes Spruchband auf das Jahr 1300 zu datieren ist. Im Treppenturm gegenüber (Südwestecke) finden sich Fenster nach Osten, die heute entweder in den Kircheninnenraum führen oder als Türen verwendet werden. Sie deuten auf eine Zeit hin, als der Raum östlich des Turms noch unbebaut war. Der heutige große Haupteingang existierte damals noch nicht; das Tor stammt aus dem frühen 16ten Jahrhundert.
Zunächst blieb das romanische Mittelschiff unangetastet, was sinnvoll ist, denn schließlich sollte die Wallfahrt während der Bauzeit, die sich erfahrungsgemäß über mehrere Generationen erstreckte, nicht unterbrochen werden. Am östlichen Ende des heutigen Schiffs wird der romanische Chor abgerissen und im Laufe der nächsten Jahrzehnte durch den neuen gotischen Chor ersetzt.
Vielleicht wurde deshalb die Reliquie während dieser Bauphase, als die Kirche nach Osten offen war, aus aus der Kirche in die Magdalenenkapelle übertragen. Im Jahr 1318 befand sie sich jedenfalls in der Kirche, was aus der schon genannten Ablaßurkunde von 1318 zu erkennen ist. Brouwer nennt 1360 als das Jahr, in dem die Reliquie aus besagter Kapelle in die Kirche übertragen wurde und zwar nicht lange nach der Weihe. Das widerspricht sich nicht.
Lassen Sie uns mutmaßen: Um 1340 beginnt die Baumaßnahme. Der alte Chor wird abgerissen; die Reliquie wird in die Magdalenenkapelle gebracht; dort steht sie unten in der Krypta. Über dem Sarg oder Grab wird die Tumba aufgestellt, die nach vorsichtiger Schätzung ins 14te Jahrhundert datiert. Gut 20 Jahre - eben 1360 - später ist der alte romanische Chor verschwunden, die Fundamente für den neuen Chor sitzen, und zwischen neuem Chor und altem Schiff hat man eine Mauer errichtet, die das Schiff nach Osten abriegelt. Der Altar im alten Schiff wird eingeweiht und die Reliquie wieder in die Kirche übertragen.
Gut 40 Jahre später wird der Chor fertiggestellt - das zeigen die Dendrochronologieproben. Die Reliquie wird vom Schiff in den Chor übertragen, der von der bisherigen Baustelle im Chor immer noch durch die Mauer geschützt wird. Nur wechselt jetzt die Baustelle auf die andere Seite. Ein wiederholter Transfer der Reliquie in die Krypta der Magdalenenkapelle ist nicht sinnvoll, denn im neuen Chor ist mehr Platz für Pilger als unten in der Krypta.
Der romanische Chor wird niedergelegt und der gotische aufgebaut - im oberen Teil erst der nördliche, 20 Jahre später der südliche Teil. Die Fertigstellung erfolgt um das Jahr 1460. Die Mauer zwischen neuem Chor und neuem Schiff wird nicht abgerissen, sondern bleibt noch einige Jahre als Lettner stehen. Natürlich wird eine Verbindung zwischen Chor und Schiff gebrochen. Die Reliquie befindet sich im Chor und bleibt auch dort.
Zwischen Baubeginn und -ende liegen gut 120 Jahre. Das schreibt sich so, wir jonglieren mit den Jahren vergangener Jahrhunderte, als wären es nur Zahlen, aber es sind Jahre, die so lange waren wie die unseren heute. Auf heute umgelegt hat der Bau von der Erhebung der Reliquie im Jahr 1896 bis ungefähr heute gedauert. Das ist eine lange Zeit, in der vier Generationen geboren wurden, von denen zwei schon nicht mehr leben.
Der Umstand, daß die Reliquie sich einmal in der Magdalenenkapelle befand und von dort in die Pfarrkirche überführt wurde, hat zu mancherlei Legenden in unserer Stadtgeschichte geführt. So wird die Magdalenenkapelle bis zum Umbau zu einer Schule im Jahre 1800 als „Wendelskapelle“ bezeichnet, was immer wieder zu allerlei Verwirrungen gesorgt hat.
Dann hat irgendein Spaßvogel das genaue Datum der Übertragung der Reliquie von der Kapelle in die Kirche auf den Pfingstmontag 1360 gesetzt. Nun ist das Pfingstfest neben dem Hochfest des Heiligen am 20. Oktober (ursprünglich am 21ten Oktober) einer der beiden Höhepunkte der Wallfahrt im Jahr, weshalb dieser Tag wohl gewählt wurde, obwohl er eigentlich kein Feiertag war [was u.a. dazu geführt hat, daß an den Tagen nach den Festen jeweils die Opferstöcke in der Stadt geleert wurden, weil an diesen Tagen dort das meiste Geld hereingeworfen wurde. Das hat eine systematische Durchsicht der Kirchenrechnungen im hiesigen Pfarrarchiv ergeben, die ich 2016 vorgenommen habe.]. Daraus resultiert das sog. „Wendelskuchenfest“, das am 5ten Juli gefeiert wird, weil am 5ten Juli 1360 angeblich Pfingstmontag war. War er aber nicht - Pfingstmontag war 1360 am 23ten Mai.
Um 1460 ist Nikolaus von Cues noch Pfarrer der Kirche bzw. Eigentümer dieser Pfründe, und er bezieht schon seit bestimmt 20 Jahren sein Salär daraus.
Und es fragt sich, welches Interesse das Bistum Metz noch an und welchen Nutzen es noch aus dieser Pfarrei hat. Der Kirchensatz liegt schon seit über 100 Jahren beim Bistum Trier, eigentlich schon seit Balduins Zeiten. Und wie oft und wie lange „herrschte“ in der Pfarrei ein sog. Kommendatarpfarrer, d.h. ein Geistlicher, der sich nicht hier aufhalten, sondern nur für die Betreuung der Gläubigen sorgen muß und während dessen als Pfründeninhaber alle Einkünfte kassiert.
In dieser Zeit geht das Bistum Metz finanzmäßig leer aus: Otto von Ziegenhain, der spätere Trierer Kurfürst, ist 1427 an dieser Stelle [Quelle: Landeshauptarchiv Koblenz, 1 A 3614, 27.03.1427], nach seinem Tod 1430 gefolgt vom Trierer Weihbischof Johannes de Monte, der 1442 stirbt. Und dessen Nachfolger bis 1464 ist Nikolaus von Cues, vermutlich direkt nach de Montes Tod. D.h. seit kurz nach 1400 hat das Bistum Metz aus der Pfarrei St. Wendelin keinen roten Heller mehr gesehen. Es ist zwar noch „Eigentümerin“ der Pfarrei und kann notfalls durchsetzen, daß nach seinen Gesetzen dort verfahren wird, aber es hat keinerlei Nutzen mehr davon. Und wird auch keinen mehr davon haben, denn der Nachfolger von Cusanus per Dekret ist der Trierer Erzbischof und Kurfürst Johann II von Baden, und mit ihm wird der Übergang von Metz an Trier als vollzogen betrachtet (interessanterweise ist der Metzer Bischof ein Bruder des Trierer Erzbischofs).
In den Jahren zwischen 1461 und 1464, als man per Dekret dabei ist, Cusanus als Pfründner abzusägen, hat er wohl die Wappen an der Decke anbringen lassen. Mit ihrer Hilfe zeigt er nicht nur, wie die damalige Welt im Heiligen Römischen Reich funktionierte - auf der einen Seite die Kleriker, also Papst, Bischof und Priester, auf der anderen die „Politiker“, also Kaiser, Kurfürsten und Amtmann -, sondern wies auch - z.B. durch die nicht standesgemäße Positionierung verschiedener Kurfürsten - auch bestehende Mißstände im Reich hin. Es ist nicht sicher, ob die Wappen wirklich auf Initiative des Cusanus enstanden, aber wer außer ihm hätte die Idee gehabt, so etwas der breiten Öffentlichkeit zu präsentieren - ein Politiker wie der amtierende Kurfürst sicher nicht. Aber Nikolaus von Cues in seiner Rolle auf Aufklärer schon.
In diesem Zusammenhang ist wohl auch die Steinkanzel zu sehen, die einer Inschrift zufolge im Jahre 1462 im nördlichen Teil des Schiffs an der zweiten Säule von Osten her aufgehängt wurde. Ignoriert man den Himmel, der keine 200 Jahre alt ist, hat man von der Kanzel aus einen ausgezeichneten Blick auf die Wappen an der Decke darüber. Und tatsächlich entsteht durch die Gestaltung der der Kanzel gegenüberliegenden Ränder der Wappen, die breiter und dunkler gemalt sind als die anderen, der Eindruck, als wendeten sie sich der Kanzel unten zu. Auf der Kanzel sind die Wappen des Cusaners, des Erzbistums bzw. Kurfürstentums Trier und des amtierenden Kurfürsten resp. Erzbischofs Johann II von Baden zu sehen. Auch hier muß die Urheberschaft für Cusanus vermutet werden, sie liegt m.E. nahe.
Was damals genau gelaufen ist, weiß heute niemand mehr … hm „wirklich“. Im Mai 1461 behauptet der Trierer de-Jure-Erzbischof („de-jure“ bedeutet, daß er zwar schon seit 5 Jahren offiziell - vom Papst ernannt - Erzbischof ist, de facto aber für das Amt noch zu jung ist; erst in 4 Jahren kann er es offiziell antreten; Kurfürst ist er schon, da gibt’s kein Mindestalter) … er behauptet also, daß er schon Eigentümer der Pfarrei St. Wendel ist (was vermutlich nicht stimmt, weil sie vermutlich noch zu Metz gehört), und so gibt ihm der Papst u.a. die Pfarrei St. Wendel in sein Tafelgut (das ist die Geldquelle, aus der er seinen Lebensunterhalt finanziert - im Gegensatz zu dem Geld, womit er seine Geschäfte führt) unter der Bedingung u.a., daß der jetzige Inhaber stirbt oder es abgibt. Cusanus ist auch grad sehr krank, und mit seinem absehbaren Ableben wird gerechnet. Aber der alte Kardinal ist zäh und überlebt u n d gibt nichts ab. Am 29. Januar 1464 macht man dann Nägel mit Köpfen: Cusanus verliert die Pfarrei, und der Trierer Erzbischof wird neuer Pfründeninhaber. Was in den zwei einhalb Jahren dazwischen gelaufen ist - weiß niemand. Cusanus muß damit gerechnet haben, daß er über kurz oder lang die Pfarrei verlieren wird. In diese zwei einhalb Jahre fallen die beiden schon genannten Projekte, von denen eins unsere Kirche einzigartig auf der Welt macht - letztgenanntes sind die Wappen, denn nirgendwo sonst auf der Welt gibt es ein politisches Programm aufgemalt unter einer Kirchendecke. Das andere ist die Kanzel, die ja augenscheinlich zu den Wappen dazugehört. Vielleicht hat Cusanus noch schnell - „jetzt gilt’s“ - Wappen und Kanzel anbringen lassen (dann hätte der Gesichtsausdruck der Engel, die die Wappen an der Kanzel halten, vielleicht wirklich eine Bedeutung.
Stellt sich die Frage, warum sein Nachfolger, dem die Wappen da an der Decke sicher nicht gefallen haben, weil sie politisch äußerst - wie sagt man heute - „unkorrekt“ waren, sie nicht entfernen ließ - nun gut, vielleicht sind sie unter ihm schon übermalt worden; bis heute weiß man nicht, wann und warum das geschehen ist.
Vielleicht hat sich der Erzbischof gedacht, er kann sie ruhig dort „hängen“ lassen, weil St. Wendel als Wallfahrtsstadt eh so unbedeutend war, daß es weder in einer der Pilgerkarten (z.B. die sog. Romwegkarte von 1500 von Erhard Etzlaub, auf der von Norddeutschland kommend alle wichtigen Wege nach Rom mit allen wichtigen Pilgerstädten eingetragen sind und auf der zwischen Trier und Saarbrücken, Kaiserslautern, Bernkastel und Creuznach nur ein großes weißes Loch prangt) noch in einem der zahlreichen Itinerare (Wegbeschreibungen, Fahrtberichte) auftaucht, so daß die Chance, daß jemand die Wappen zu sehen bekommt, ziemlich gering war (obgleich der deutsche Kaiser Maximilian den hl. Wendelin zu seinen „amici“ zählte und gleichzweimal innerhalb von vier Jahren - 1508 und 1512 - hier zu Besuch hier war und - wenn die Wappen damals noch dran waren - u.a. seinem Vater dort oben „Guten Tag“ sagen konnte).
Vielleicht aber - und das ist wie so vieles in diesem Artikel nur ein Gedankenspiel, sprich: völlig spekulatorisch - gab es hier auch einen Deal zwischen Amtsinhaber und Amtsinhaber-in-spe. Vielleicht hat Cusanus - alt, krank und müde - nicht mehr die Kraft gehabt, sich mit dem Erzbischof auf einen langen Prozess einzulassen und deshalb mit ihm vereinbart, daß er auf die Pfründe verzichtet, wenn er Kanzel und Wappen anbringen durfte. Eine solche Verpflichtung hätte Johann von Baden dann sicher davon abgehalten, Hand an die Wappen zu legen.
Über den Umstand, ob St. Wendel dabei oder dadurch von Metz an Trier kam, will ich hier nichts sagen, darüber schreibt mein Freund Matthias Gard aus Marpingen in Bamberg gerade an einer tiefergehenden Arbeit, auf deren Schlüsse und Ergebnis ich sehr gespannt bin.
Um Schulden zu begleichen, die Johanns Vorgänger Jakob von Sierck bei Nikolaus von Cues hatte, verpfändet Johann die Pfarrei am 7. Juni 1499 an den das sog. „Hospital von Kues“, das von Cusanus selbst gegründet worden ist und als dessen Rechtsnachfolger fungiert [Quelle: Nikolausstift Cues, Archiv, Regest 93]. Diese Verpfändung erlischt erst 300 Jahre später im Zuge der Säkularisierung.
Die Pfarrkirche von St. Wendel betreut die die Orte St. Wendel, Alsfassen, Breiten, Niederweiler, Baltersweiler, Hofeld, Mauschbach, Pinsweiler, Furschweiler, Roschberg, Gehweiler und Reitscheid, bis kurz vor der französischen Revolution. Dann werden die weiter entfernt gelegenen Orte Pinsweiler, Furschweiler, Roschberg, Gehweiler und Reitscheid abgetrennt und in einer eigenen Pfarrei in Furschweiler organisiert; ihre Pfarrpatronin ist die hl. Anna, die Mutter Mariens.
Aber das ist eine andere Geschichte.
Roland Geiger Alsfassen in der letzten Juliwoche des Jahres 2017 |
Date: 2017/07/27 18:51:49
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>
reienbaum, Jonas: "Ein trauriges Fiasko". Koloniale Konzentrationslager im südlichen Afrika 1900-1908 (= Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts). Hamburg: Hamburger Edition, HIS Verlag 2015. ISBN 978-3-86854-290-5; 352 S.; EUR 28,00. Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von: Jan Severin, Graduiertenkolleg "Geschlecht als Wissenskategorie", Humboldt-Universität zu Berlin E-Mail: <jan(a)reflect-online.org> In den Debatten um den Genozid an Herero und Nama in der deutschen Kolonie Deutsch-Südwestafrika (DSWA) liegt der Fokus häufig auf dem sogenannten "Schießbefehl" von Lothar von Trotha vom Oktober 1904, während die Geschichte der Konzentrationslager, die Lebensumstände in ihnen und die mit ihnen verbundene Zwangsarbeit in den Debatten oft in den Hintergrund tritt. Dabei gibt es bereits einige Forschungsbeiträge aus den letzten 15 Jahren, die sich einem der Konzentrationslager widmen oder diese zumindest intensiv in ihre Betrachtung des Völkermords an Herero und Nama einbeziehen.[1] Eine umfassende Monographie, welche die kolonialen Konzentrationslager in DSWA in den Fokus nimmt, fehlte jedoch bislang. Diese Lücke möchte Jonas Kreienbaum mit seiner 2015 in der Hamburger Edition veröffentlichten Dissertation "'Ein trauriges Fiasko.' Koloniale Konzentrationslager im südlichen Afrika 1900-1908" schließen. Dabei belässt er es nicht bei einer Analyse der Lager in DSWA, sondern bezieht - aus einer explizit transnational orientierten Perspektive heraus - die während des sogenannten "zweiten Burenkriegs" (1899-1902) errichteten britischen Konzentrationslager in Südafrika in seine Untersuchung mit ein. Sein Kernanliegen ist die Frage nach spezifischen Kennzeichen der kolonialen Lager in DSWA und Südafrika vor dem Hintergrund einer allgemeinen Typologie von Konzentrationslagern (S. 9). Um diese zentrale Thematik gruppieren sich für ihn mehrere weitere Forschungsfragen, so unter anderem nach dem Zweck der Lager aus Perspektive der Kolonialmächte, wie diese im Alltag funktionierten und wie sich das massenhafte Sterben der Internierten in den Lagern erklären lässt (S. 13). Wichtig ist ihm hierbei, nicht einen vermeintlichen Prototyp herauszuarbeiten, sondern den Blick auf Lager und Lagersysteme die Spezifik und die Veränderungen der Lager und Lagersysteme zu richten, wie auch die Diskrepanzen zwischen den Motiven und der konkreten Praxis der Kolonialmächte einzubeziehen (S. 15). Zunächst widmet sich Kreienbaum in seiner Arbeit den Kolonialkriegen in Südafrika und Deutsch-Südwestafrika. Es gelingt ihm, in den beiden Kapiteln den jeweiligen Kontext, in dem die beiden Konzentrationslagersysteme eingeführt wurden, klar zu umreißen und dabei gleichzeitig konzise wie auch gut strukturierte und lesbare Überblicksdarstellungen über beide Kriege zu liefern. Im Abschnitt zum Krieg zwischen dem deutschen Kaiserreich und den Herero widmet sich Kreienbaum intensiv den Debatten um den Schießbefehl Trothas und die Frage der dahinterliegenden Vernichtungsabsicht, wobei er dahingehend argumentiert, dass sich die Vernichtungspolitik vor dem Hintergrund des Kriegs sukzessive entwickelt habe und nicht von vorneherein klar festgestanden habe (ab S. 65). Im Anschluss analysiert der Autor in zwei Kapiteln den Zweck der jeweiligen Lager, d.h. vor allem, wofür sie geplant waren. Er thematisiert hier zum einen die extrem hohen Sterbezahlen in den Lagern in DSWA und versucht zum anderen nachzuzeichnen, dass diese nicht auf eine vorhergehende Vernichtungsintention zurückzuführen seien. Die mitunter im Konflikt stehenden Positionen der verschiedenen deutschen Akteure arbeitet er detailliert heraus und macht dabei deutlich, dass zumindest keine einhellige Vernichtungsabsicht vorlag. Für ihn stellten vor dem Hintergrund des Krieges gegen Herero und Nama eher Sicherheitsaspekte die zentrale Intention der Lager dar (S. 136f.), die zumindest bezüglich der internierten Herero nach und nach von der Ausbeutung indigener Arbeitskraft und der vermeintlichen "Erziehung zur Arbeit" als zentrale Motive abgelöst wurden (S. 141f.). Dazu trat für ihn vielfach ein Bestrafungsdenken, das in den Lagern in DSWA eine deutlich größere Rolle spielte als in den sogenannten "Burenlagern" in Südafrika (S. 144). Die folgenden zwei Kapitel, die jeweils die umfangreichsten sind, beschäftigen sich mit der konkreten Funktionsweise der jeweiligen Lager in Südafrika und in DSWA. Intensiver werden hier unter anderem der Weg in die Lager, der Alltag, die sozialen Beziehungen und die Handlungsmöglichkeiten der Insassen erörtert. Diese beiden Kapitel sind die stärksten Kapitel der Arbeit, da es Kreienbaum hier wirklich ausgesprochen gut gelingt, eine sehr dichte Darstellung und Analyse der Lager vorzulegen und dabei - zumindest was die Lager in DSWA angeht - einige bislang weniger beleuchtete Aspekten der Lager aufzugreifen. Der Autor versucht an dieser Stelle auch die Frage zu beantworten, wie es zu den extrem hohen Sterbezahlen kam. Er analysiert hierfür die Lebenssituation der Internierten in den Lagern und die Handlungen und mitunter auch das explizite Nicht-Handeln verschiedener, an den Lagern beteiligter Akteure, wie des Militärs, des Lagerpersonals, der Missionare und von Unternehmen und privaten Arbeitgebern. Zentrale Faktoren für die hohe Sterblichkeit in den Lagern in DSWA stellen für Kreienbaum die Lebens- und Versorgungsumstände in der Frühzeit der Lager, das massive Desinteresse vieler Militärs an der Versorgung der Internierten, Krankheiten wie Skorbut bei einer sich gleichzeitig nur sehr langsam verbessernden medizinischen Versorgung, und die Zwangsverpflichtung beinahe aller Internierter, auch Kinder und Kranker, zu häufig körperlich extrem anstrengender Arbeit (S. 247). Bestimmte Ursachen für die hohe Sterblichkeit sind Kreienbaum zufolge von einigen deutschen Akteuren erkannt und teilweise auch angegangen worden. Dem Willen, hier etwas grundlegend zu ändern, seien jedoch engen Grenzen gesteckt gewesen (S. 271). Bei Interessenskonflikten zwischen Interniertenversorgung und Interessen des Militärs hätten die Letzteren klare Priorität gehabt (S. 224), das Sterben sei teilweise als "gerechte Strafe" wahrgenommen worden und dem rassistischen Zeitgeist entsprechend sei dem Tod von schwarzen Personen von deutscher Seite wenig Beachtung geschenkt worden. Letztendlich sieht Kreienbaum die hohe Mortalität jedoch nicht als Resultat einer planmäßigen Vernichtung an, sondern als "unbeabsichtigte[s] Nebenprodukt des Plans, die Arbeitskraft der Gefangenen auszubeuten und die Sicherheitsbedürfnisse der Kolonisierer zu befriedigen" (S. 273). Seine grundlegende Argumentation ist dabei nachvollziehbar, dem Begriff "unbeabsichtigtes Nebenprodukt" liegt jedoch eine deutliche Gefahr der Trivialisierung inne, er wird den teils expliziten Weigerungen bestimmter Akteure, Schritte zu Verbesserung der Situation einzuleiten, wie auch den mitunter mörderischen Arbeitsbedingungen nicht gerecht. Vor den Schlussbetrachtungen widmet sich der Autor zwei der zentralen Fragestellungen der Arbeit: erstens der Frage des Wissenstransfers im kolonialen Kontext. Ausgehend vom Befund das "Konzentrationslager" als Bezeichnung für koloniale Lager in der Tat vom britischen Militär eingeführt wurde, betont Kreienbaum anhand der nun einsetzen Karriere des Begriffs seine Wandelbarkeit. Gleichwohl zeichneten sich die britischen und die deutschen kolonialen Konzentrationslager neben Unterschieden vor allem durch ihre Gemeinsamkeiten aus, als im Kontext eines von schaffenen Orte, die die Grundlage für die Beendigung derselben schaffen sollen. Kreienbaum zeigt, dass die deutschen Kolonialakteure die Gelegenheit hatten, ihr Wissen über die britischen concentration camps des Burenkrieges drei Jahre später selbst in die Tat umzusetzen, um eigene Konzentrationslager in DSWA einzurichten. Kreienbaum nennt dies einen "interimperialen Lernprozess", für den die Konzentrationslager nur ein Beispiel unter vielen seien. Eine zweite zentrale Frage des Buches richtet sich nach dem Verhältnis kolonialer Lager zu den Nazi-Konzentrationslagern. Hier äußert sich der Autor deutlich kritisch zu einer Parallelisierung. Dabei weist er am eindeutigsten den Vergleich mit nationalsozialistischen Vernichtungslagern zurück, da in den kolonialen Lagern keine planmäßige Ermordung intendiert gewesen sei (S. 294). Auch zu sogenannten "Sterbelagern" verweist er auf eine Differenz von kolonialen Lagern, da im letzteren Fall die Tötung durch Unterversorgung nicht Teil eines systematischen, geplantes Vorgehens war, sondern "Resultat von logistischen Problemen, Ressourcenmangel, rassistischer Gleichgültigkeit und anderer Prioritätensetzung" (S. 295). Schließlich sieht Kreienbaum auch hinsichtlich der "Vernichtung durch Arbeit" in anderen NS-Konzentrationslagern bei kolonialen Lagern eine Differenz dahingehend, dass es zwar aufgrund der Arbeitsbedingungen faktisch zu einer Vernichtung von Herero und Nama durch Zwangsarbeit gekommen sei, diese aber kein gezieltes Mittel gewesen sei und die Internierten des Nachkriegsgesellschaft als Arbeitskräfte hätten zur Verfügung stehen sollen, während für jüdische Lagerinsassen kein Überleben vorgesehen gewesen sei (S. 295). Kreienbaum betont insgesamt stark die Differenzen zwischen kolonialen und nationalsozialistischen Konzentrationslagern[2], weist aber auch darauf hin, dass sie zumindest darin eine gewissen Gemeinsamkeit hätten, dass sich die Ausbeutung der Arbeitskraft der Internierten nach und nach zu einer zentralen Funktion dieser Lager entwickelt hätte und ein vergleichbares System der Vermietung von Lagerinsassen und von betriebsnahen Außenlagern geschaffen worden sei (S. 300). Hinsichtlich der Ausbeutung der Arbeitskraft sieht er eine gewisse Gemeinsamkeit zu den Lagern in Südafrika, in denen schwarze Personen interniert waren. Explizit skeptisch zeigt sich Kreienbaum auch gegenüber der These von einer Kontinuitätslinie "von Windhuk nach Auschwitz-Monowitz", auch wenn er hier den derzeitigen Stand der Forschung nicht für ausreichend hält, um eine abschließende Antwort zu geben (S. 306). Die hierbei häufig genannten personellen Kontinuitäten, insbesondere hinsichtlich der Person von Franz Ritter von Epp, stellen für ihn wenig belastbare Begründungen dar und er weist darauf hin, dass in Deutschland in den 1930er- und 1940er-Jahren der Krieg gegen Herero und Nama und die Konzentrationslagerpolitik in DSWA insgesamt kaum mehr im Bewusstsein gewesen seien (S. 306). Zentralere Bezugspunkte für das nationalsozialistische Konzentrationslagersystem stellen für ihn die preußische Tradition der Schutzhaft und Institutionen der Selbstdisziplinierung durch Arbeit, wie Arbeitshäuser, dar. Auch verweist er auf Lagersysteme zwischen 1908 und 1933, wie die Internierungslager im Ersten Weltkrieg oder Konzentrationslager für unerwünschte Ausländer, insbesondere sogenannte "Ostjuden", die nicht vernachlässigt werden dürften. Diese Lager der Jahre 1914 bis 1923 sieht er den späteren NS-Konzentrationslagern als typologisch näher als die kolonialen Lager, es wäre ihm zufolge wenig wahrscheinlich, dass der NS die kolonialen Lager kopiert hätte (S. 308f.). Kreienbaums Darlegungen und Analysen erscheinen durch das Buch hindurch größtenteils nachvollziehbar und schlüssig. Bei einer Lektüre ergeben sich dennoch einige Kritikpunkte. An einigen Stellen erscheint seine Argument, dass bei den kolonialen Konzentrationslagern keine explizite, vorhergehende Vernichtungsintention vorlag, zu einseitig und sein Fokus auf den (mangelnden) Nachweis eben dieser Intention als zu beengt. So ist beispielsweise nicht überzeugend, wenn er eine Vernichtungsintention des Kommandeurs der Schutztruppe Berthold Deimlings gegenüber den auf der Haifischinsel internierten Nama dahingehend verwirft, dass dieser sich nach Beschwerden nur der Verlagerung der männlichen Nama von der Insel verweigerte und einer Verlegung von Frauen und Kindern ohne männlichen Anhang aufs Festland zugestimmt hätte (S. 130). Dass die Bereitschaft, das Sterben eines signifikanten Teils der männlichen Nama unter Sicherheitsaspekten zu befürworten oder zumindest zuzulassen, die weitgehende Auslöschung zumindest der dort internierten Nama-Gruppen als Bevölkerungsgruppe beinhaltete, wird hier ausgeklammert. Kreienbaum ist zwar dahingehend zu folgen, dass Akteure wie Deimling selten eine klare, von vornherein bestehende Vernichtungsintention hatten, im Detail irritiert er jedoch einige Male dabei, dass er den konkreten, absichtsvollen Beitrag einiger Akteure zum Genozid an Herero und Nama etwas zu energisch verwirft. Dieses spiegelt sich an einigen Stellen in nicht ganz treffenden, tendenziell trivialisierenden Begriffsverwendungen. Hier ist die schon erwähnte Kategorisierung der Vernichtung großer Teile der Herero und Nama als "unbeabsichtigtes Nebenprodukt" zu nennen, aber auch der Titel der Arbeit "Ein trauriges Fiasko". Indem er dieses Zitat des britischen Hochkommissars in Südafrika Sir Alfred Milner als Titel der Arbeit verwendet, setzt Kreienbaum die Betonung deutlich darauf, dass die Kolonisatoren selbst ihre Politik, die in der Ermordung und Vernichtung großer Teile indigener Bevölkerungsgruppen resultierte, als ein Fiasko angesehen hätten, was gerade in DSWA jedoch keineswegs bei allen wichtigen deutschen Akteuren der Fall war. Hier wäre eine vorsichtigere Begriffsverwendung und weniger Gewicht bei der Betonung des Mangels einer gezielten Vernichtungsintention möglicherweise dem Gegenstand angemessener gewesen. Zumindest implizit wirft Kreienbaum zudem den Unterstützer/innen von Genozid- und Kontinuitätsthesen vor, sich durch eine aktualitätsbezogene politische Perspektive den Blick auf die historischen Ereignisse selbst zu verstellen (S. 21). Dabei entgehen ihm an einigen Stellen möglicherweise produktive Fragestellungen und er droht gelegentlich, einen selbst geschaffenen Gegensatz von politischer Positionierung und (geschichts-)wissenschaftlicher, erkenntnisfixierter Objektivität aufzusitzen. Dieses zeigt seine nicht ganz überzeugende Verwerfung des "Genozid"-Begriffs. Er konstatiert hier, zu Recht, mit Verweis auf Kundrus und Strotbek[3] eine Vielzahl von politischen und rechtlichen Debatten, die den Begriff durchziehen und eine einheitliche Definition merklich erschweren. Seine Folgerung daraus ist, dass er den Begriff analytisch für seine Arbeit verwirft: "Resultat dieser Debatten ist eine Flut an Begriffsdefinitionen und Vorschlägen, die das Problem nicht wirklich gelöst haben. Deshalb bleibt die heuristische Kraft des Begriffs für die historischen Wissenschaften umstritten." (S. 25) Hier beschwört er letztendlich einen politikfreien, vermeintlich objektiven Wissenschaftsraum, den es so, gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten in Deutschland und Namibia um den Genozid an Herero und Nama und mögliche Entschädigungen ihrer Nachkommen, nicht gibt. Im Rahmen der aktuellen Debatte wird Kreienbaums Studie als Beitrag zu dieser Debatte und zur politischen Auseinandersetzung um diese Themen gelesen und gewertet werden, unabhängig davon, ob er eine "rein" wissenschaftliche Arbeit für sich reklamiert oder nicht. Er positioniert sich schließlich auch mehrfach in seinem Buch hinsichtlich zentraler Debattenstränge, wie den Fragen nach der Intentionalität oder den Kontinuitäten, die deutlich über das wissenschaftliche Debattenfeld hinausgehen. Ein beträchtlicher Teil wissenschaftlichen Vokabulars, Themen und Fragestellungen ist von gesellschaftspolitischen Fragen und Debatten durchzogen oder wird, siehe die Debatte um den Genozid an Herero und Nama, durch sie in dieser Form erst erzeugt. Ein engagiertes, kritisches Eingehen auf diese Debatten würde diesem Punkt deutlich mehr Rechnung tragen als ein Verwerfen des analytischen Gehalts von Begriffen, die zu sehr von gesellschaftspolitischen Debatten durchzogen und daher umstritten seien. Diese Anmerkungen sollen nicht überdecken, dass Kreienbaums Arbeit ausgesprochen lesenswert ist und einen deutlichen Zugewinn zur Gewaltgeschichte des deutschen Kolonialismus in Deutsch-Südwestafrika und zu den in den letzten Jahren entstandenen Forschungsfragen um den Genozid an Herero und Nama und Vergleichbarkeiten wie auch Kontinuitätslinien hinsichtlich der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik liefern kann. Ebenfalls überzeugt seine komparative Kontextualisierung deutscher Kolonialpraktiken in Deutsch-Südwestafrika mit denen im Nachbarland Südafrika und fügt hier der insbesondere von Ulrike Linder herausgearbeiteten, engen Verflechtung beider Kolonialsysteme einen weiteren Baustein zu.[4] Anmerkungen: [1] So zum Beispiel der Artikel von Joachim Zeller zum Konzentrationslager Swakopmund: Joachim Zeller, "Ombepera i koza - Die Kälte tötet mich". Zur Geschichte des Konzentrationslagers in Swakopmund (1904-1908), in: ders. / Jürgen Zimmerer (Hrsg.), Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-1908) in Namibia und seine Folgen, Berlin 2004, S. 64-79. [2] Er grenzt sich hier insbesondere von den Arbeiten von David Olusoga / Caspar Erichsen und Jürgen Zimmerer ab: David Olusoga / Casper W. Erichsen, The Kaiser's Holocaust. Germany's Forgotten Genocide and the Colonial Roots of Nazism, London 2010; Jürgen Zimmerer, Von Windhoek nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, Berlin 2011. [3] Birthe Kundrus / Henning Strotbek, "Genozid". Grenzen und Möglichkeiten eines Forschungsbegriffs - ein Literaturbericht, in: Neue Politische Literatur 51 Heft 2/3 (2006), S. 397-423. [4] Ulrike Lindner, Koloniale Begegnungen. Deutschland und Großbritannien als Imperialmächte in Afrika 1880-1914, Frankfurt am Main 2011. Diese Rezension wurde redaktionell betreut von: Alexander Korb <ak368(a)le.ac.uk> |