Monatsdigest

[Regionalforum-Saar] Einwohner von Hornbach 1798-1875

Date: 2017/07/02 19:27:30
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Neuerscheinung: Einwohner von Hornbach 1798-1875 

 

Thomas Besse [Thomas(a)Besse.de] hat mich gebeten, über dieses neue Buch zu informieren:

 

Der Amerikaner John Georg Blum aus Wausaukee in Wisconsin/USA hat  ein Einwohnerbuch von Hornbach bei Zweibrücken von 1798 bis 1875 zusammengestellt. Er hat auf die Mikrofilme der Mormonen in Salt Lake City zurückgerufen und die Geburts-, Heirats- und Sterbedaten der Standesämter der Gemeinde Hornbach verwendet. Das Buch hat 445 Seiten und kann in Hardcover für 25 € und in Softcover für 19 Euro im Historama beim Historischen Verein Hornbach [http://historischer-verein-hornbach.de/] oder bei der Zweibrücker Arbeitsgemeinschaft für Familienforschung erworben werden.


Es wurde lediglich eine kleine Auflage von 50 Exemplaren bei der Fa. Pirrot in Sbr-Dudweiler gedruckt.

[Regionalforum-Saar] Warum ist der Wendelskuchentag in St. Wendel am 5. Juli?

Date: 2017/07/05 18:33:05
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Warum ist der Wendelskuchentag in St. Wendel am 5. Juli?

 

Heute feiert die katholische Kirche in St. Wendel ein Fest, das auf einer alten Tradition beruht, das Wendelskuchenfest. Hergeleitet wird es von einer Geschichte aus der Geschichte:

 

„Am 5. Juli ist der Wendelskuchentag. Für diesen Tag backen manche St. Wendeler Hausfrauen kleine Brote, die sie mit zur Kirche nehmen, wo sie neben dem Hochaltar hingestellt werdden. Nach dem Hochamt segnet der Priester die Brote, und die Leute nehmen sie wieder mit nach Hause. Dieser fromme Brauch erinnert an die Übertragung der Gebeine des hl. Wendelinus im Jahre 1360 aus der Magdalenenkapelle in das damals fertiggestellte Chor der Pfarrkirche. Von der Zeit an ließ der Kirchenvorstand alljährlich viele hunderte Brötchen backen und segnen und dann unter die Meßdiener und das Volk als „St. Wendels Kuchen“ verteilen. Als in der Franzosenzeit 1793 der Kirche viele Einkünfte verlorengingen, konnten keine Brötchen mehr ausgeteilt werden. Aber die Leute brachten nun selbst Brote und Kuchen und ließen sie segnen, und so ist es geblieben bis auf den heutigen Tag.“

 

So beschreibt es Nikolaus Obertreis in seinem Buch „Stadt und Land des hl. Wendelin“ im Jahre 1927.

 

Heute werden diese Brote von der hiesigen Pfarrgemeinde in Auftrag gegeben. Es gibt ein genaues Rezept dafür, das u.a. auch Rosinen enthält.

 

Ein ähnlicher Artikel im derzeitigen Pfarrbrief spricht von einer 657-jährigen Tradition. Das wollte ich genauer wissen und habe mir im Pfarrarchiv die alten Kirchenrechnungen angeschaut.

 

Die sog. „Kirchenrechnungen“ sind Jahresberichte über alle Einnahmen und Ausgaben, die der Kirchenrechner (nicht der Pfarrer) verwaltete. Die Abrechnung erfolgte für ein Geschäftsjahr, das von Johannis des einen bis Johannis des nächsten Jahres reichte. Johannis, das ist das Hochfest der Geburt Johannes’ des Täufers am 24. Juni.

 

Es ist in jedem Jahr ein umfangreicher Bericht mit zahlreichen Unterpositionen. Zunächst kommt eine Übersicht, in welchen Währungen gerechnet wird, dann erfolgen die Einnahmen - aus den Opferstöcken zunächst in der Pfarrkirche und bei St. Anna (eine Kapelle auf dem heutigen Golfplatz), später auch am Wendelsbrunnen; aus ausgeliehenem Geld; jede Menge Positionen aus verpachteten Grundstücken und Häusern; diPe „Priesterpräsenz“, das sind Einnahmen aus Selbstverpflichtungen, etwa fiktiven Zinsen, die entstünden, würde man Grundstücke oder Häuser verpachten. Ihr Zweck ist die Finanzierung der Geistlichen - quasi das frühere Pendant einer Kirchensteuer, die ja auch eine freiwillige Abgabe ist. Auf der Ausgabenseite stehen die Saläre für die Geistlichen in Form von Geld und Naturalien unddie Aufwendungen für Reparaturen und Neubauten an der Kirche und anderen, der Pfarrei gehörigen Gebäuden. Darunter befindet sich auch die Aufstellung von „Ausgaben an Korn“, das etliche Seiten vorher bei den „Einnahmen aus Korn“ eingegangen war.

 

„Korn“ oder „Getreide“ - so erzählt Frau wikipedia - sind die meist einjährigen Pflanzen der Familie der Süßgräser, die wegen ihrer Körnerfrüchte kultiviert werden, andererseits die geernteten Körnerfrüchte. Die Früchte dienen als Grundnahrungsmittel zur menschlichen Ernährung oder als Viehfutter, daneben auch als Rohstoff zur Herstellung von Genussmitteln und technischen Produkten.

 

Zum Korn zählen u.a. Weizen, Roggen, Gerste und Hafer. In unseren Breiten wurde bevorzugt Roggen und Hafer angebaut. Da der Hafer eine eigene Position in der Kirchenrechnung hat, bleibt der Roggen, vielleicht auch Weizen, für die Position „Korn“ übrig. Die Kirchenrechnung bleibt da unspezifisch - vermutlich wußte damals sofort jeder, was mit „Korn“ gemeint war - warum es also noch stärker differenzieren?

 

In unseren Kirchenrechnungen findet sich tatsächlich unter den Ausgaben für Korn ein jährlich ein Posten über die Menge an Korn, das für den Wendelskuchen ausgeben wurde.

 

Schauen wir zum Beispiel in die Rechnung von 1589-1590:

 

Quelle: Pfarrarchiv St. Wendel, Kirchenrechnung 1:

 

Seite 146

Außgab korn

„Item uff Trantzlationis St Wandalini verbacken in brodt                                        v mtr“

 

„v mtr“ ist die Mengen- und Maßangabe: „v“ ist die römische Zahl „5“, „mtr“ steht für „Malter“.

 

Ich habe die Getreidemaße zu St. Wendel nachgeschaut:

 

Ein Malter (222,4 Liter) = 8 Faß, 1 Faß = 4 Sester, 1 Sester = 4 Mäßchen.

1 Malter wog: Hafer 106,752 kg; Roggen 151,232 kg.

 

(Quelle: Erich Mertes Kolverath, „Alte Fruchtmaße in den ehemaligen Regierungsbezirken Koblenz-Trier und ihre Umrechnung in kg/Liter“, wgff.net/trier/download/Verzeichnisse/Fruchtmasse.pdf)

 

Die genannten 5 Malter Roggen waren demnach 750 kg. Das hört sich nach „viel“ an, aber wieviel Mehl und Teig und Brot gibt das tatsächlich? Dazu kommen wir später.

 

Es gibt eine weitere Position, die sich mit dem Thema „Wendelskuchen“ befaßt. Sie steht bei den allgemeinen Ausgaben:

 

Seite 138

„item von fünff maltr wendelsbrott zu backen geben                                                Cv alb“

 

Das bedeutet, man hat den Bäckern außer dem Material, sprich: Korn, noch Geld gegeben und zwar 105 Albus. Wofür erfahren wir in der Kirchenrechnung 1754-1755:

 

Seite 601:

„Ausgaab geldt

Itz denen beckeren 4 Malter Korn zum Wendels brodt zu backen

anjetzo wegen dem holtz                                                                                          7 Gulden 12 alb“

 

Hier ist die Menge an Korn um einen Malter herabgesetzt worden. Dafür erhalten sie eine stattliche Menge Geld für das Holz, das sie zum Backen brauchen.

 

 

In dieser Rechnung 1754-1755 wird auch zum ersten Mal ein Datum für den Wendelskuchentag genannt:

 

Seite 606:

„Restiert also 4 Mltr Vor künfftige Rechnung vor das Wendels brodt zu backen, weillen selbiges jedes jahr d 5ten Juli in nachfolgender Rechnung stehet“

 

Der hier genannte Rest kommt wohl daher, daß der Kirchenrechner die vier Malter Korn erst in der nächsten Rechnung verbuchen will oder wird oder kann. Die Abrechnung für die Rechnung ist der 24. Juni 1755, aber die Kornausgabe erfolgt erst am 5. Juli. Warum das so ist, wissen wir nicht; vielleicht wurde das Korn, das er für diese Ausgabe vorgesehen hatte, zu spät angeliefert.

 

Und da haben wir das Datum, um das es hier geht: den 5ten Juli. Dem Tag, an dem die Reliquie von der Magdalenenkapelle in die Pfarrkirche übertragen wurde. Nach heutiger Lesart am Pfingstmontag 1360.

 

Bleiben wir bei dem Datum.

 

Pfingsten wird am 50ten Tag der Osterzeit gerechnet, also am 49. Tag nach dem Ostersonntag. Das sind genau sieben Wochen. Da der Pfingstmontag 1360 am 5ten Juli war, muß Ostern demnach um den 17ten Mai gewesen sein. Etwas spät im Jahr für mein Dafürhalten, denn wir sind Ostern im März bzw. April gewöhnt.

 

Wann ist denn Ostern?

 

Das 1. Kirchenkonzil im Jahre 325 hat festgelegt, daß Ostern stets am ersten Sonntag nach dem ersten Vollmond des Frühlings stattfindet. Stichtag ist damit der 21. März, die "Frühlings-Tagundnachtgleiche". Damit ist der früheste mögliche Ostertermin der 22. März (wenn der Vollmond auf den 21. März fällt und der 22. März ein Sonntag ist.), der späteste ist der 25. April.

 

Und wie war das 1360?

 

Für solche Berechnungen verwende ich gern ein Computerprogramm, mit dem ich seit Jahren gute Erfahrungen beim Umsetzen von Datumsangaben aus und in den französischen Revolutionskalender gemacht habe: es heißt GenTool6.0, wurde 2008 von Heinz Georg Schlöder aus Troisdorf entwickelt und wird von ihm kostenlos als download zur Verfügung gestellt (http://www.gentools6.de).

 

Dieses Programm gibt das Osterfest, d.h. den Ostersonntag, mit dem 5ten April 1360 an, natürlich nach dem julianischen Kalender (der gregorianische wurde erst gut 200 Jahre später entwickelt un kam erst 1582 zur Anwendung).

 

Aber - Moment - wenn der Ostersonntag der 5. April war, dann war Pfingstsonntag der 23. Mai.

Wo kommt denn dann der 5. Juli her?

 

Es wird Zeit, sich das zugrundeliegende Ereignis genauer anzuschauen.

 

Trantzlationis St Wandalini“ heißt es 1589-1590.

 

In der ältesten, im Pfarrarchiv St. Wendel vorhandenen Rechnung aus dem Jahr 1519-1520 wird auf Seite 57 der Begriff nur in einer anderen Variante genannt: „tranßlationis Wandalen

 

Gemeint ist stets die Übertragung der Gebeine von der Magdalenenkapelle in die Pfarrkirche.

 

Welche Belege haben wir dafür? Max Müller verweist in Bezug auf das Datum „5. Juli 1360“ in seiner „Geschichte der Stadt St. Wendel“ auf das Wendelsbüchlein von Pfarrer Keller aus dem Jahre 1704.

 

Aber der Text dort nennt gar kein Jahr und ist an sich recht chaotisch:

 

„Diese Kirch war endlich von dem weltberühmten Cardinal Nicolao Causano Consecrirt und mit einer sillbernen Ampel und ewigen licht geziert und beschenckt. Am H. Pfingstfest erhöbte er den h. leichnam aus seinem Grab, darin er über 650 Jahre gelegen und verehrt worden, und übersetzte ihn in Jetzt gemeltete Kirch. Dieses Fest wirt noch Jehrlich den 5ten Heumonat gehalten und gesegnetes Bord ausgetheilt.“

 

Keller wirft hier wirklich alles durcheinander. Er - bei dem Jahr 617 als Todesjahr des hl. Wendelin zum ersten Mal auftaucht - legt die Translation auf das Jahr 1267 bzw. danach fest (617 plus „über 650“). Die silberne Ampel ist allerdings eine Stiftung des Trierer Erzbischofs Boemund an die Pfarrkirche, aber erst am 31. Mai 1361 (PfA St. Wendel, US 14), und Nikolaus von Cues hat mit St. Wendel gar erst im 15ten Jahrhundert zu tun, also nochmal 100 Jahre später.

 

Das Datum „1360“ als Fertigstellungsjahr des Kirchenneubaus und Übertragsjahrs der Reliquie wird zum ersten Mal in Christoph Brouwers „Antiquitatum et annalium Trevirensium libri“ auf, zunächst als kurzer Hinweis im chronologischen Index (Seite 70:

 

„Anno demum MCCCLX, crescente S. Wendalini oppido, templum eidem Divo excitatum consecratumque, corpore illius ex aede B. Magdalenae, eodem  translato.”

 

Frau Dr. Stitz hat den Text ins Deutsche übersetzt:

 

„Schließlich wurde im Jahre 1360, als die Stadt des heiligen Wendalinus wuchs, dort ebendiesem Heiligen eine Kirche gebaut und geweiht, nachdem sein Leichnam aus dem Haus [= Kapelle] der heiligen [eig. „seligen“] Magdalena dorthin überführt worden war.“

 

Der Haupttext auf Seite 232 weicht ein wenig von vorgenanntem Text ab:

 

„CLXXXI. S. Wendalini translatio. Annus Chr. 1360

Hoc etiam tempore, cum S. Wendalini oppidum jure Treverico probe communitum tectis aedificiisque jam frequens staret, visum incolis est Boëmundi ac decessorum ope, novam aptare patrono sedem; quare sat amplum Confessoris honori positum templum, anno recuperatae salutis 1360. Innocentii Pontificis VIII. consecratum est; hucque Sancti corpus, eximiâ mox venerationis pompâ illatum.“

 

Übersetzung (ebenfalls Frau Dr. Stitz)

 

„181. Übertragung des hl. Wendalin. Christi Jahr 1360

Zu dieser Zeit auch, als die Stadt des hl. Wendalin, mit trierischem Recht gehörig ausgestattet, bereits mit zahlreichen Häusern und Gebäuden dastand, schien es den Einwohnern richtig, mit Boemunds und seiner Nachfolger Hilfe, ihrem Schutzpatron einen neuen Sitz anzupassen [eine neue Kirche zu errichten]; daher wurde zur Ehre des [hl.] Bekenners eine ziemlich geräumige Kirche gebaut [und] im Jahre des wiedererlangten Heils 1360, im achten Jahre des Papstes Innozenz eingeweiht; hierher wurde der Leichnam des Heiligen bald in einer ganz besonderen Prozession, die seiner Verehrung diente, übertragen.“

 

Haben Sie den kleinen Unterschied gemerkt?

In der Einleitung wird der Leichnam zuerst übertragen, dann erfolgt die Weihe. Im Hauptteil ist es anders herum: hier erfolgt erst die Weihe, dann die Übertragung.

 

Aber immer und auf jeden Fall soll das im Jahre 1360 geschehen sein.

 

Auf die Unmöglichkeit, daß die Kirche um diese Zeit fertiggestellt und deshalb eingeweiht wurde, will ich an dieser Stelle nicht eingehen, sonst ufert dieser Text völlig aus.

 

 

Irgendwas war los in dieser Zeit um 1360:

 

=> 11.07.1358

Arnold, genannt Kickuz, Priester und Frühmesser der Maria Magdalena Kapelle in St. Wendel, wird durch EB Boemund von Trier Rektor der Magdalenenkapelle in St. Wendel

 

=> Christi Himmelfahrt 1359

Der Generalvikar der Diözese Metz beurkundet die Consecration der Magdalenenkapelle zu St. Wendel und eines Altares zu Ehren S. Mariae Magdalenae und erteilt ihr einen 30-tägigen Ablaßprivilig

 

=> 04.04.1360

Ablaßbrief auf 40 Tage für die Pfarrkirche und die Magdalenenkapelle zu St. Wendel durch 18 Bischöfe aus Avignon

 

=> 08.06.1830

Ablaßbrief auf 40 Tage für die Pfarrkirche zu St. Wendel durch Erzbischof Boemund von Trier

(wird von Metz bestätigt)

 

=> 25.07.1360

Die Brüder Arnold und Jakob von Odenbach übertragen ihre Rechte an der Mühle zu Stegen auf die Frühmesse in der Kapelle St. Maria Magdalena zu St. Wendel

 

=> 31.05.1361

Erzbischof Boemund von Trier stiftet eine Messe in der Pfarrkirche St. Wendel. Die Priester versprechen, ein ewiges Licht in der Kirche zu unterhalten, wozu der Erzbischof eine silberne Ampel stiftet.

 

Aber das sind nur Einzelstücke, und niemand kennt ihren Zusammenhang.

 

Auch wenn man niemals weiß, wie zuverlässig selbst eine zeitgenössische Quelle ist, bleibt hier die Frage, ob Brouwer, der zwischen 1559 und 1617 lebte, als Quelle angesehen werden kann, obwohl er ja eigentlich wie wir nur Zweitverwender ist.

 

Tatsächlich gibt es noch einen älteren Beleg, in dem von einer Translation die Rede ist.

 

Dabei handelt es sich um eine Ablaßurkunde aus dem Jahre 1318, in der die Magdalenenkapelle zum ersten Mal schriftliche Erwähnung findet. Das Original wird im Landeshauptarchiv Koblenz unter der Signatur 1 A 3596 geführt. Ich folge hier einer Abschrift und Übersetzung, die Dr. Margarete Stitz vorgenommen hat. Das Original wurde am 23. September 1318 in Metz ausgestellt.

 

Bruder Daniel, durch Gottes Gnade Bischof von Arka und Vikar des Metzer Kapitels während der Sedisvakanz, erteilt einen 40-tägigen Ablaß allen, die die Kirche des heiligen Wandelinus aufsuchen und zwar an folgenden Tagen:

 

„an seinem Fest und [am Fest] seiner Übertragung und am Weihefest dieser Kirche,

ebenso an den Festen der seligen Maria, der seligen Katharina, Maria Magdalena, des seligen Nikolaus und [am Fest] der Weihe der Magdalenenkapelle,

und am Karfreitag und an den einzelnen Festen der Vorgenannten und in den Oktaven ihrer Weihen,

wenn sie ihre Sünden gebeichtet haben und bereuen (…)“

 

Das Problem ist jetzt nur, daß wir nicht wissen, um welche Übertragung es sich handelt. Ich denke, es ist unstrittig, daß seine Gebeine übertragen worden.

 

Fragt sich, wohin.

Aus einem Erdgrab in die Magdalenenkapelle.

Aus dem Vorgänger der Pfarrkirche in die Magdalenenkapelle.

Aus der Magdelenenkapelle in die Pfarrkirche.

 

Daß die Leute in St. Wendel immer angenommen haben, daß er in der Magdalenenkapelle geruht und in die Pfarrkirche übertragen wurde, ist unstrittig … aber Vorsicht: die Annahme ist unstrittig. Wie oft wurde die Magdalenenkapelle bis zu ihrer Säkularisierung um 1800 „Wendelskapelle“ genannt, wie oft allein in den Kirchenrechnungen.

 

Aber daß die Gebeine 1360 [noch?] in der Magdalenenkapelle aufbewahrt wurden, dagegen spricht eine Aussage aus der obengenannten Ablaßurkunde von 1318:

 

„Weil wir überdies den heiligen Wandelinus festlicher verehren wollen, wohin er auch aus der Kirche, in der er ruht, getragen wird, wie es gewöhnlich geschieht [bei Bittgängen], um heiteres oder ruhiges Wetter oder an den Bitttagen, wenn alle sich fromm bei ihm [zur Prozession] versammeln und mit ihm wieder zur Kirche zurückziehen, gewähren wir für immer barmherzig im Herrn zehn Tage Nachlass, im Vertrauen auf unsere vorgenannte Autorität, auf Gnade und Verdienste, von den ihnen auferlegten Bußen.“

 

Hier ist explizit von der Kirche die Rede, in der er ruht, aus der er getragen wird und zu er von den Gläubigen zurückbegleitet wird. Also liegt er 1318 schon oder noch oder schon wieder in der Pfarrkirche.

 

Und jetzt gehen die Fragen erst richtig los:

Worin hat das Fest der Übertragung von 1318 seinen Ursprung?

Wenn er 1318 schon in der Kirche war, welchem Zweck diente die Tumba, die 1802 aus der Magdalenenkapelle in die Pfarrkirche gebracht wurde und vermutlich aus dem 14ten Jahrhundert stammt?

Und vielleicht bezieht sich ja das unmögliche Datum „5. Juli“ wirklich auf eine Übertragung der Gebeine - aber schon lange vor 1360, die nichts mit Pfingsten zu tun hat.

 

Weder auf die Fragen noch die Spekulation werden wir wohl je eine Antwort bekommen.

Aber fragen kann man ja mal.

 

St. Wendel, 5. Juli 2017

 

Roland Geiger

 

 

 

 

[Regionalforum-Saar] Das Buch als Medium - Mittelalterliche Handschriften und ihre Funktionen

Date: 2017/07/07 22:03:58
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Das Buch als Medium - Mittelalterliche Handschriften und ihre Funktionen
Interdisziplinäre Graduiertentagung
Universität Wien

Institut für Kunstgeschichte
Altes AKH
Spitalgasse 2, Hof 9
1090 Wien


Die Teilnahme ist kostenlos. Aus organisatorischen Gründen bitten wir um
formlose Anmeldung bis 15. August 2017 via
tagung.buchfunktion.kunstgeschichte(a)univie.ac.at


Freitag, 01. September 2017

08:30 - 09:00 Uhr: Registrierung, Kennenlernen, Kaffee
09:00 - 09:15 Uhr: Grußworte

09:15 - 10:15 Uhr: Keynote
09:15 - 10:15 Uhr
Kathryn Rudy (St. Andrews)


10:15 - 10:30 Uhr: Pause

10:30 - 12:00 Uhr: Vorträge (Moderation: Gerd Micheluzzi)
10:30 Uhr
Kristina Kogler (Wien):
Vidal Mayor - Die Bebilderung einer aragonesischen Rechtshandschrift
10:50 Uhr
Diskussion
11:00 Uhr
Eszter Nagy (Budapest):
The Function of Mythological Images in Books of Hours from Rouen
11:20 Uhr
Diskussion
11:30 Uhr
Philippa Sissis (Berlin):
Zwischen Lesen und Schreiben - Humanistische Inszenierung in Relation
zum Text
11:50 Uhr
Diskussion

12:00 - 14:00 Uhr: Mittagspause

14:00 - 18:30 Uhr: Ausflug zum Augustiner-Chorherrenstift Klosterneuburg
(für Mitwirkende)

19:00 Uhr: 	        Abendessen

Samstag, 02. September

08:45 - 09:00 Uhr: Kaffee

09:00 - 10:30 Uhr: Vorträge (Moderation: Christina Jackel)
09:00 Uhr
Sophie Zimmermann (Wien):
Büchergenealogien. Über imaginierten und tatsächlichen Verlust
deutschsprachiger Texte und Handschriften 
09:20 Uhr
Diskussion
09:30 Uhr
Timo Bülters (Rostock/Bonn):
Auf Spurensuche im Kloster - Ein niederdeutsches Kräuterbuch in
Nonnenhand
09:50 Uhr
Diskussion
10:00 Uhr
Giulia Rossetto (Wien):
Using and Re-Using Parchment Manuscripts: The Case of the Byzantine
Prayer-Books 
10:20 Uhr
Diskussion

10:30 - 10:50 Uhr: Pause

10:50 - 12:20 Uhr: Vorträge (Moderation: Lena Sommer)
10:50 Uhr
Alexander Hödlmoser (Wien):
Die Österreichische Chronik der Jahre 1454 bis 1467. Editorische
Anmerkungen zur Arbeit am Text - damals und heute
11:10 Uhr
Diskussion
11:20 Uhr
Irina von Morzé (Wien):
Eine Weltgeschichte für den Kaiser: Rom, BAV, Vat. lat. 5697 (vor 1437)

11:40 Uhr
Diskussion

11:50 - 13: 15 Uhr: Mittagspause	

13:15 - 14:25 Uhr: Vorträge (Moderation: Sophie Dieberger)
13:15 Uhr
Lisa Horstmann (Heidelberg):
Der »Welsche Gast« von Thomasin von Zerclaere. Veränderung der
Bild-Text-Relation in 300 Jahren Überlieferungsgeschichte
13:35 Uhr
Diskussion
13:55 Uhr
Maximilian Wick (München):
Die Leidener Wigalois-Handschrift - Ausdruck einer subversiven
Theologie? 
14:15
Diskussion

14:25 - 14:45 Uhr: Pause


14:45 - 15:45 Uhr: Vorträge (Moderation: Silvia Hufnagel)
14:45 Uhr
Stefanie Krinninger (Göttingen):
"Het ich nu kunsten spyse / in mir, daz ich [...] / in ditz buch [...] /
Ein rede kunde getichten ...". Zum Kunstbegriff des späten Mittelalters
und der Frühen Neuzeit 
15:05 Uhr
Diskussion
15:15 Uhr
Dennis Wegener (Wien):
Das handschriftlich nachgetragene 117. Kapitel des Theuerdank-Drucks
Rar. 325a der Bayerischen Staatsbibliothek München
15:35 Uhr
Diskussion

15:45 - 16:00 Uhr: Pause

16:00 - 17:00 Uhr: Vorträge (Moderation: Andrea Riedl)
16:00 Uhr
Justyna Luczynska (Krakau):
The Franciscan Breviary (Ms. Czart. 1211) in the Library of Princes
Czartoryski in Kraków as a Masterpiece of the Neapolitan Illumination
Art under the Aragonese Dynasty
16:20 Uhr
Diskussion
16:30 Uhr
Christina Weiler (Wien):
Die Meditationes vitae Christi - Franziskanische Devotionshandschriften
des Trecento
16:50 Uhr
Diskussion

17:00 - 17:30 Uhr: Abschlussdiskussion


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Christina  Weiler

Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte
Spitalgasse 2, 1090 Wien, Österreich

tagung.buchfunktion.kunstgeschichte(a)univie.ac.at

Tagungsinformationen <https://buchalsmedium.univie.ac.at/>

[Regionalforum-Saar] Vortrag am Montagabend im Pfarrgarten St. Wendelin in St. Wendel

Date: 2017/07/08 22:15:30
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Guten Abend,

 

ich lade Sie ein, sich am Montagabend oben am Dom in St. Wendel einen Vortrag anzuhören.

 

Im Winter war einFilmteam, das den Film über die Verehrung des hl. Wendelin in aller Welt dreht, in den USA unterwegs. Sie besuchten u.a. den Flecken Perkinsville im amerikanischen Bundesstaat New York, in dessen Pfarrkirche seit 1897 eine Reliquie unseres Heiligen ruht.

 

Im Rahmen der „Gartengespräche“ (dem „Montagsferienprogramm“ der Pfarrgemeinde St. Wendel) werde ich am kommenden Montagabend über diesen Ort berichten und über die Auswanderer aus St. Wendel und Umgebung (Alsfassen, Urweiler, Remmesweiler, Urexweiler, Tholey etc.), die sich dort niederließen.

 

Der Vortrag heißt „Der hl. Wendelin reist nach Amerika“.

 

Auf der Wiese vor dem kath. Pfarrhaus

(bei schlechtem Wetter im Cusanushaus)

Beginn: 19 Uhr

 

Der Eintritt ist frei.

 

Mit freundlichen Grüßen

 

Roland Geiger

[Regionalforum-Saar] Tagber: Tag der Zeitzeugen

Date: 2017/07/14 20:23:28
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

From:    Gregor Spuhler <spuhler(a)history.gess.ethz.ch>
Date:    15.07.2017
Subject: Tagber: Tag der Zeitzeugen
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Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung, Universität Tübingen
18.05.2017-19.05.2017, Tübingen

Bericht von:
Gregor Spuhler, Archiv für Zeitgeschichte, ETH Zürich
E-Mail: <spuhler(a)history.gess.ethz.ch>

Ziel der Tagung war es, sich am ersten Tag über die bisherigen
Erfahrungen bei der Arbeit mit Zeitzeugen in der (ausser-)schulischen
Bildungsarbeit zu verständigen. Dabei standen die Keynotes von Martin
Sabrow (Potsdam) und Christiane Bertram (Konstanz) sowie eine
Podiumsdiskussion im Zentrum. Abends präsentierte Aleida Assmann
(Konstanz) das letzte Drittel ihres Dokumentarfilms über die
Flakhelfergeneration (1926-1929), und Peter Wensierski (Berlin)
berichtete vom Making of seines Buches über die Revolution in der DDR
1989. Am zweiten Tag wurden mit Blick darauf, dass über den
Nationalsozialismus bald niemand mehr aus eigenem Erleben berichten
kann, vier Projekte zur zukünftigen Arbeit mit Zeitzeugen vorgestellt.
Deren Chancen und Risiken für das historische Lernen stellte Juliane
Brauer (Berlin) in einem zusammenfassenden Referat zur Diskussion.

Die Tagung zeigte, dass es nützlich ist, drei verschiedene Begriffe von
"Zeitzeuge" zu unterscheiden. Martin Sabrow analysierte den Aufstieg der
Figur des Zeitzeugen nach 1945 und seine Funktion in Öffentlichkeit. Für
Christiane Bertram sowie für die Fachleute von Schulen,
Bildungsforschung und Gedenkstätten standen der Zeitzeuge als Medium
bzw. als "Darstellung" oder "Quelle" und die Chancen und Risiken seines
Einsatzes in der historisch-politischen Bildung im Zentrum. Davon zu
unterscheiden sind schliesslich Zeitzeugeninterviews, die im Rahmen von
Oral History-Projekten durchgeführt werden. So standen für ALEIDA
ASSMANN (Konstanz) und ALEXANDER VON PLATO (Hagen) das wissenschaftliche
Erkenntnisinteresse am Anfang, während die mediale Verwertung des
(bearbeiteten) Zeitzeugnisses nachgeordnet ist. Dieses
Erkenntnisinteresse rückt - abgesehen von der Rekonstruktion schriftlich
nicht dokumentierter Fakten - entweder Erinnerungs- und
Gedächtnisprozesse oder aber das Zusammenwirken von Individuum und
Gesellschaft in konkreten historischen Kontexten in den Fokus, ohne dass
diese beiden stets miteinander verflochtenen Aspekte völlig getrennt
werden könnten.

MARTIN SABROW (Potsdam) hob aus seiner Analyse der Figur des
Zeitzeugen[1] vier Punkte hervor. 1) Die Inszenierung seiner Erscheinung
- die Kamera fokussiert auf zitternde Hände, auf die Falten im Gesicht
etc. - verleiht dem Zeitzeugen die Aura der Authentizität. Sie
verwandelt ihn in ein sprechendes Relikt aus vergangener Zeit, einen
Wanderer zwischen den Welten der Vergangenheit und der Gegenwart. Dank
seiner Aura ist die Überzeugungskraft des Zeitzeugen dem Argument des
Historikers im medialen Geschichtsdiskurs überlegen. 2) Als Produkt
unserer Zeit unterscheidet sich der Zeitzeuge vom Augen- oder Tatzeugen,
der über historische Fakten Auskunft geben soll. Für die Genese des
modernen Zeitzeugen ist der Eichmannprozess prägend, als über Hundert
Überlebende in den Zeugenstand gerufen wurden - nicht um Eichmanns
persönliche Verantwortung und Schuld zu beweisen, was die meisten nicht
konnten, sondern um die Schrecken des Holocaust und das millionenfache
Leiden mit ihren individuellen Aussagen zu bezeugen. 3) Die
Geltungskraft des Zeitzeugen beruht auf der zeitlichen Distanz und auf
seiner Viktimisierung: Er zeugt von einer schlimmen Zeit, die - zur
Erleichterung des Publikums - tatsächlich vergangen ist, und er war
damals Opfer. Der Täter, sofern er sich nicht geläutert hat, gilt als
"schlechter" bzw. "unzuverlässiger" Zeitzeuge. 4) Schliesslich hat der
Zeitzeuge seine Funktion gewandelt: von der kritischen, angebliche
Gewissheiten in Frage stellenden Instanz ist er zum Instrument der
gesellschaftlichen Selbstvergewisserung geworden.

CHRISTIANE BERTRAM (Konstanz) stellte ihre Interventionsstudie[2] vor,
mit der sie den Effekt des Einsatzes von Zeitzeugen im Schulunterricht
auf die historischen Kompetenzen der Lernenden mit einer
sozialwissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Methodologie gemessen
hat. Auf besonderes Interesse stieß ihr Ergebnis, dass jene
Schulklassen, in denen ein Zeitzeuge real anwesend war, den Unterricht
deutlich interessanter und lebendiger fanden und die Schülerinnen und
Schüler auch überzeugt waren, mehr gelernt zu haben, als wenn kein
Zeitzeuge vor Ort gewesen wäre. Nachweisen ließ sich ein solcher Effekt
aber nicht, im Gegenteil: Die historische Sachkompetenz war in jenen
Klassen, in denen ein Zeitzeugnis nur in Form eines Textes oder Videos
vorgelegt wurde, dieselbe wie in jenen Klassen, in denen ein Zeitzeuge
persönlich erschienen war. Und bei letzteren war die quellenkritische
Kompetenz am Ende sogar deutlich geringer. Der Grund dafür dürfte darin
liegen, dass ein Videointerview oder eine Transkription quellenkritisch
analysiert werden können, was sich in der direkten Begegnung mit dem
Zeitzeugen sozusagen verbietet. Der Schluss aus dieser Erkenntnis kann,
so Bertram, angesichts der positiven Auswirkungen solch persönlicher
Begegnungen auf Motivation und Engagement der Lernenden jedoch nicht
sein, keine Zeitzeugen in den Unterricht einzuladen. Vielmehr ist
vertieft darüber nachzudenken, zu welchem Zweck sie eingeladen werden
und vor allem ist für die (quellen-)kritische Nachbereitung mit der
Klasse mehr Zeit einzuräumen.

In den Diskussionen auf dem Podium wie auch am folgenden Tag standen die
Aura des Zeitzeugen, die Bedeutung von Emotionen für historisches Lernen
und das Verschwinden des Zeitzeugen bzw. der Übergang vom realen
Zeitzeugen zur "medialen Zeitzeugenschaft" (J. Brauer) im Zentrum. Der
Begriff der Aura blieb zwar nicht unwidersprochen, namentlich von jenen,
die selbst mit Zeitzeugen arbeiten. Dennoch bestand Einigkeit darin,
dass man "den Pelz nicht waschen kann, ohne ihn nass zu machen" (M.
Sabrow), das heisst: Will man in der historischen Bildung mit Zeitzeugen
auch quellenkritische Kompetenz vermitteln, so findet zwangsläufig eine
"Entzauberung" des Zeitzeugen statt und der vermeintlich direkte und
authentische Zugang zur Vergangenheit wird relativiert. Wie dies (bzw.
ob dies überhaupt) in Anwesenheit des Zeitzeugen geschehen soll, wurde
nicht diskutiert. Vielleicht zielte JÖRG SKRIEBELEIT (Flossenbürg) in
seiner podiumsgerechten Zuspitzung auf diese Schwierigkeit ab, als er
meinte, das von vielen, von ihm selbst aber nicht so sehr beklagte
Verschwinden der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen mache die Bildungsarbeit
in der einen oder anderen Hinsicht auch leichter. Dass die
"Entzauberung" des Zeitzeugen weniger durch Berichtigungen des
Historikers, sondern vielmehr durch historische Kontextualisierung und
den Vergleich mit anderen Zeitzeugenberichten geschehen soll, wurde
wiederholt festgestellt.

Wie hängen Emotionen und historisch-politische Bildung zusammen? JULIANE
BRAUER (Berlin) zeigte sich gegenüber dem "Gefühlsoptimismus" skeptisch;
das Einfühlen in die Menschen der Vergangenheit sei kaum möglich und
historisches Lernen erfolge nicht über Empathie und Identifikation,
sondern über die Erfahrung von Alterität. Dem wurde von Seiten der
Lehrerschaft widersprochen: Emotionen seien zwar nicht alles, aber ohne
Emotion sei alles nichts. Die "emotionale Überwältigung" der
Schülerinnen und Schüler, vor der die anwesenden Bildungsforscher/innen
und Historiker/innen mit Bezug auf den mehrfach zitierten Beutelsbacher
Konsens warnten, komme im Schulalltag so gut wie nicht vor, und wenn es
emotional schwierig werde, seien die Lehrkräfte dazu da, dies
aufzufangen. Konsens herrschte schließlich darüber, dass auf zusätzliche
Emotionalisierung zu verzichten ist, dass aber - auch starke - Emotionen
bei den hier verhandelten Themen selbstverständlich auftauchen. Sie
sollten zugelassen, in den Unterricht miteinbezogen und wiederum zum
Gegenstand der Reflexion gemacht werden. Wie das auf sinnvolle und
produktive Weise in der Praxis geschehen kann, wurde allerdings nicht
vertieft diskutiert.

Die am zweiten Tag vorgestellten Projekte zeugten von Engagement, hohem
Reflexionsniveau und Mut zur Innovation, und sie boten Anlass zu
lebhaften Diskussionen. DOROTHE WEIN (Berlin) stellte die didaktisch
aufbereiteten und online zugänglichen Interviews mit ehemaligen
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern vor.[3] SARAH HÜTTENBEREND
(Düsseldorf) und RUTH-ANNE DAMM (Düsseldorf) berichteten von ihren
Erfahrungen, wenn sie in Schulklassen als "Zweitzeugen" das Leben von
Holocaustüberlebenden, die sie persönlich kennen, den Schülerinnen und
Schülern näher bringen.[4] Der von BERND KÖRTE-BRAUN (Berlin)
vorgestellte Holocaustüberlebende als 3D-Hologramm kann mit dem Publikum
in einen virtuellen Dialog treten und um die 2000 Fragen zu seinem
Schicksal und seiner Biografie beantworten.[5] Ob der Zeitzeuge damit
zum "Homunculus" (A. von Plato) mutiert, der auf eine nicht
vorhergesehene Frage dereinst sagen wird, sein Algorithmus könne diese
Frage nicht beantworten, sei dahingestellt. KATRIN UNGER (Bergen-Belsen)
präsentierte eine App, die auf dem Rundgang durchs heute naturnahe und
dadurch fast idyllisch wirkende Gelände des ehemaligen KZ verschiedenste
Informationen über Gebäude und Plätze, Personen und Ereignisse
darbietet.[6] Als verbindendes Element zwischen den unterschiedlichen
Projekten hielt Juliane Brauer fest, dass die direkte und persönliche
Begegnung mit dem Zeitzeugen durch die "mediale Zeitzeugenschaft"
abgelöst wird.

Was aber unterscheidet mediale Zeitzeugenschaft vom ganz gewöhnlichen,
in der historischen Bildungsarbeit schon lange verbreiteten
biografischen Zugang zum Thema, wie ihn die Selbstzeugnisse von Anne
Frank oder Victor Klemperer, von Ruth Klüger oder Primo Levi bieten?
Zeitzeugenberichte jüngeren Datums - in der Regel Videozeitzeugnisse -
vermitteln als bewegte Bilder einen weit stärkeren Eindruck von der
Persönlichkeit als bloße Texte. Didaktisch aufbereitet und technisch
raffiniert können sie unsere Informationen dort ergänzen, wo es bislang
keine schriftlichen Zeugnisse gibt. Vor allem aber geben sie als
retrospektiv angelegte Dokumente Aufschluss darüber, wie die Menschen
trotz der in jungen Jahren erlittenen Verfolgung ihr Leben gemeistert
haben. Sie stellen also andere Fragen und bieten andere
Erkenntnismöglichkeiten als zeitgenössische Selbstzeugnisse. Für die
Epoche des Nationalsozialismus ist dennoch fraglich, ob diesen
Zehntausenden von Zeitzeugnissen, in den letzten drei Jahrzehnten
entstanden sind, auch im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts noch
dieselbe Bedeutung zukommen wird. Wenn diese "letzten Zeitzeugen", die
1945 Kinder, Jugendliche oder allerhöchstens junge Erwachsene waren, wie
ihre Eltern und Grosseltern längst verstorben sind, könnte das Interesse
an Berichten, die mehr als 50 nach den geschilderten Ereignissen
entstanden, auch wieder schwinden - zugunsten jener Augenzeugenberichte
und Selbstzeugnisse, die in der Zeit der Verfolgung selbst und
unmittelbar danach entstanden und inzwischen vielerorts in Vergessenheit
geraten sind.[7]

Nur kurz zur Sprache kamen an der Tagung die Bildungsarbeit für
Erwachsene und die Frage, ob statt der Opfer nicht auch verstärkt die
Täter als Zeitzeugen untersucht werden sollten. Mit der Fokussierung auf
die Diktaturen des Nationalsozialismus und der DDR bewegte sich die
Veranstaltung im nationalgeschichtlichen Rahmen; am Rande wurde erwähnt,
dass der Zeitzeuge in der medialen Öffentlichkeit Frankreichs oder
Grossbritanniens keineswegs immer Opfer, sondern oft auch Held ist. Und
ob man angesichts des durch Flucht und Migration bedingten
gesellschaftlichen Wandels in 20 Jahren noch sagen können wird, dass es
bei Nationalsozialismus, Holocaust und DDR um "unsere Geschichte" (A.
Assmann) geht, wird die Zukunft zeigen.

Konferenzübersicht:

Martin Sabrow (Potsdam), Wovon zeugt der Zeitzeuge?

Christiane Bertram (Konstanz), Wirksamkeit von Zeitzeugenbefragungen in
der Schule

Aleida Assmann (Konstanz), Alexander von Plato (Hagen), Jörg Skriebeleit
(Flossenbürg), Christiane Bertram (Konstanz): Welche Funktionen können /
sollen / dürfen Zeitzeugen in der wissenschaftlichen Arbeit und in der
(ausser-)schulischen Bildung einnehmen? (Podiumsdiskussion)

Aleida Assmann (Konstanz), Anfang aus dem Ende. Die Flakhelfergeneration
(Dokumentarfilm)

Peter Wensierski (Berlin), Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution
(Lesung)

Dorothee Wein (Berlin), (Schulische) Bildung mit der Online-Anwendung
"Lernen mit Interviews: Zwangsarbeit 1939-1945"

Sarah Hüttenberend / Ruth-Anne Damm (Düsseldorf), "Zweitzeugen"-Projekt
in der deutschen Erinnerungskultur und Bildungslandschaft

Bernd Körte-Braun (Berlin), Zeitzeugen als 3D-Hologramm in der
Bildungsarbeit

Katrin Unger (Bergen-Belsen), Tablet-Application und Präsenz von
Zeitzeugen in der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen

Juliane Brauer (Berlin), Zeitzeugen und Emotionen - Chancen und Risiken
für das historische Lernen im 21. Jahrhundert

Anmerkungen:
[1] Martin Sabrow, Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen zwei Welten, in:
Martin Sabrow / Norbert Frei (Hrsg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach
1945, Göttingen 2012, S. 13-32.
[2] Christiane Bertram, Zeitzeugen im Geschichtsunterricht. Chance oder
Risiko für historisches Lernen. Eine randomisierte Interventionsstudie,
Schwalbach/Ts. 2017.
[3] <http://www.lernen-mit-interviews.de> (07.07.2017).
[4] <http://heimatsucher.de> (07.07.2017).
[5] <https://sfi.usc.edu/collections/holocaust/ndt> (07.07.2017).
[6] <http://www.belsen-project.specs-lab.com/> (07.07.2017).
[7] Vgl. Laura Jockusch, "Jeder überlebende Jude ist ein Stück
Geschichte". Zur Entwicklung jüdischer Zeugenschaft vor und nach dem
Holocaust, in: Sabrow / Frei, Geburt des Zeitzeugen, S. 113-144.

URL zur Zitation dieses Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=7243>

[Regionalforum-Saar] Tagber: Die Familie Stamitz und die europäische Musikermigration im 18. Jahrhundert

Date: 2017/07/14 20:25:32
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

So einen ausgewanderten Musiker haben wir ja hier in St. Wendel auch: Philipp Jakob Riotte. 


From:    Christian Bartle <christian.bartle(a)icloud.com>
Date:    15.07.2017
Subject: Tagber: Die Familie Stamitz und die europäische
         Musikermigration im 18. Jahrhundert. Johann Stamitz
         zum 300. Geburtstag
------------------------------------------------------------------------

Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim?/
Forschungsstelle Südwestdeutsche Hofmusik der Heidelberger Akademie der
Wissenschaften / Kurpfälzisches Kammerorchester e. V.
Ludwigshafen-Mannheim
17.06.2017-18.06.2017, Schwetzingen / Mannheim

Bericht von:
Christian Bartle, Musikwissenschaftliches Seminar,
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
E-Mail: <christian.bartle(a)icloud.com>

Migration - ein Thema, das in gegenwärtigen Medienberichten an
Aktualität und Brisanz kaum zu übertreffen ist und sich zugleich als
anthropologische Grundkonstante in der Menschheitsgeschichte
manifestiert. Auch Musiker und Komponisten wurden von Migration immer
wieder beeinflusst, so etwa der Böhme Johann Stamitz, der die
musikalische Entwicklung am kurpfälzischen Hof im 18. Jahrhundert
maßgeblich prägte. Das Symposium "Die Familie Stamitz und die
europäische Musikermigration im 18. Jahrhundert" und der Festvortrag
wurden anlässlich seines 300. Geburtstages von der Forschungsstelle
Südwestdeutsche Hofmusik der Heidelberger Akademie der Wissenschaften
und der Fachgruppe Musikwissenschaft/Musikpädagogik der Staatlichen
Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim veranstaltet.
Forschungstheoretische Ziele waren die genauere Untersuchung von
Migration als biographisches Element diverser Musiker, das Überschreiten
von geographischen und konfessionellen Grenzen sowie die reziproke
Beziehung zwischen entopischen und migrierten Komponisten.

SILKE LEOPOLD (Heidelberg) verwies im Begrüßungsvortrag zunächst auf die
übergeordnete Wichtigkeit der Migration innerhalb der Musikgeschichte
und stellte pointiert heraus, dass migrantische Mechanismen und der
damit einhergehende Austausch zwischen Komponisten die Entwicklung der
Musik stets förderten. Als Fallbeispiel führte sie die Mannheimer Schule
unter der kurfürstlichen Regierungszeit Karl Theodors an, die
prototypisch für die Synthese aus lokalen und fremden Traditionen steht.
PANJA MÜCKE (Mannheim) skizzierte im direkten Anschluss mithilfe von
Charles Burneys Reiseberichten den jährlichen Wandel der kurfürstlichen
Sommerresidenz Schwetzingen, wenn Karl Theodor mit seinem Hofstaat
anreiste und zahlreiche Musiker die Klanglandschaft des Dorfes
veränderten. Es folgten Erläuterungen zum aktuellen Forschungsstand und
zum Konzept der Tagung, bei der insbesondere Nachwuchswissenschaftlern
ein Forum gegeben werden sollte.

Die Familie Stamitz ist ein Paradebeispiel für eine gelungene Migration
und Integration. GWENDOLYN DÖRING (Mainz) beschäftigte sich vor diesem
Hintergrund mit der Frage, inwiefern Johann Stamitz' Ausbildung am
Iglauer Jesuitengymnasium als Katalysator für seine erfolgreiche
Migration und die resultierende Anstellung am kurpfälzischen Hof unter
Karl Theodor gedeutet werden kann. Als weichenstellende Grundlage
hierfür ist erstens seine fundierte Ausbildung durch die Jesuiten
anzuführen - die feste Verankerung von Musikausübung und -vermittlung im
Lehrplan stellte Stamitz das Handwerkszeug für seine spätere
musikalische Laufbahn zur Verfügung. Für einen geglückten
Migrationsprozess kam dem Jesuitenorden mit seinen europaweiten
Anlaufstellen zweitens eine wesentliche Vermittlerfunktion als
länderübergreifendes Netzwerk zu, das internationale Strukturen zur
gesellschaftlichen Integration bereitstellte.

Wie sich der länderübergreifende Austausch zwischen Musikern auch durch
längere Auslandsaufenthalte kompositionstechnisch konkret äußerte,
führte ANDREAS TROBITIUS (Marburg) im folgenden Vortrag am Beispiel von
Johann Stamitz' "Missa Solemnis" aus. Vermutlich entstand das
kirchenmusikalische Werk um 1754 für die Pariser "Concerts spirituels" -
doch ist intendiert der sinfonische Klang der Mannheimer Schule
eingearbeitet, der mit Stamitz in die französische Metropole "migrierte"
und dort eine innovative Messkonzeption proklamierte: Sätze mit
sinfonischem Duktus stehen im Kontrast zu Sätzen in strenger
kirchenmusikalischer Manier. Eine detaillierte Analyse des "Gloria"
konkretisierte das Sinfonische: Neben der recht üppigen Besetzung und
sinfonisch-instrumentalen Klangtechniken ist der Satz gezeichnet von
systematisch verarbeiteten Themen.

DAVID VONDRÁCEK (München) problematisierte im folgenden Vortrag die
Forschungssituation der tschechischen Musikwissenschaft im ersten
Drittel des 20. Jahrhunderts hinsichtlich der nationalen Zugehörigkeit
des migrierten Johann Stamitz. An ausgewählten Primärquellen wurden die
unterschiedlichen Strategien und Argumentationsmodelle tschechischer
Wissenschaftler wie etwa Vladimír Helfert oder Bohumil Stedron deutlich,
die auf eine Vereinnahmung Stamitz' als tschechischen Komponisten
abzielten und in seiner Musik eine böhmisch-mährische Musiksprache zu
sehen glaubten. In der Diskussionsrunde wurde in diesem Kontext
eindringlich auf die fundamentale Problematik der nationalen
Kategorisierung von Musik und Musikpraxis und die anachronistische
Verwendung des Nationenbegriffs hingewiesen.

Inwiefern Migration im 18. Jahrhundert die Entwicklung musikalischer
Gattungen beeinflusste, legte YEVGINE DILANYAN (Schwetzingen) am
Fallbeispiel der Flötenquartette dar. Diese Form des Quartetts mit
Blasinstrument erfreute sich zu dieser Zeit großer Beliebtheit. Eine
vergleichende Analyse zwischen verschiedenen Flötenquartetten von Karl
Joseph Toeschi, Ernst Eichner und Carl Stamitz zeigte die Parallelen in
Instrumentation, harmonischer Gestaltung und im Umgang mit motivischem
Material. Diese Analogien lassen im weiteren Sinne auf eine speziell im
kurpfälzischen Raum verbreitete Kompositionsweise für Flötenquartette
schließen.

Die französische Kultur des 18. Jahrhunderts war für weite Teile Europas
normativen Charakters und beeinflusste die lokalen Traditionen auch in
Mannheim, wie MECHTHILD FISCHER (Mannheim) eingangs in ihrem Referat
betonte. Sie ging der Frage nach, auf welchen Wegen und mithilfe welcher
Personen und Institutionen die musikalische Kultur des Nachbarlandes den
Weg in die Kurpfalz fand. Die Musiker der stilprägenden Mannheimer
Hofkapelle identifizierte sie als einen gewichtigen Faktor und
essenziellen Träger dieses Austauschprozesses. Durch Konzertreisen
einzelner Mitglieder nach Paris festigten sich dort nach und nach die
innovativen Praktiken der Mannheimer Schule und trugen zum Aufbrechen
der musikalischen Isolation Frankreichs bei. Umgekehrt verlief der
Kulturtransfer aber auch von Paris nach Mannheim - so "migrierte" etwa
das Prinzip der "Sinfonia Concertante" durch die Mannheimer Hofmusiker
aus Frankreich an den kurpfälzischen Hof, wo es sich schließlich als
eine gewichtige Kompositionsform etablierte.

Betrachtet man die Rechnungsbücher der Pariser Orchester aus der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts, so sind zahlreiche Hornisten,
Klarinettisten und Trompeter deutscher sowie böhmischer Provenienz
äußerst präsent. SARAH SCHULMEISTER (Wien) ging der Frage nach, weshalb
die Bläserbesetzung in Paris - in den 1760er-Jahren meist ganz
vernachlässigt - ab 1770 zunehmend obligat wurde und welche Rolle der
Migrationsprozess hierbei spielte. So ist die sukzessive Etablierung von
Bläserstimmen an das neue deutsche Konzertrepertoire gekoppelt, das über
die Konzertreisen der Mannheimer Hofmusiker nach Paris gelangte.
Besonders Johann Stamitz, der Anfang der 1750er-Jahre einige Zeit lang
ein Pariser Orchester leitete, besetzte die Hornstimmen mit deutschen
Spezialisten und legte damit den Grundstein für die steigende
Popularität von Holz- und Blechbläsern.

RÜDIGER THOMSEN-FÜRST (Schwetzingen) veranschaulichte am Fallbeispiel
der böhmischen Hornistenfamilie Ziwny, wie Musiker den Weg an die
verschiedensten südwestdeutschen Hofkapellen fanden und die steigende
Nachfrage nach spezialisierten Bläsern in den 1740er-Jahren für eine
erfolgreiche Migration nutzten. Um einer gegenseitigen Konkurrenz
präventiv entgegenzuwirken, verschafften sich Johann Ziwny und seine
vier Söhne ausgehend von Prag Anstellungen in Rastatt, Schwetzingen,
Mannheim und wahrscheinlich auch Stuttgart. Als auf Hörner
spezialisierte Musiker waren sie nicht polyinstrumental ausgebildet und
erwarben aufgrund ihres Könnens hohes Ansehen - Joseph Ziwny etwa wurde
Stimmführer in Mannheim und beeinflusste als Pädagoge zudem die
Vermittlung und Praxis des Hornspiels.

Den zweiten Tag des Symposiums eröffnete SARAH-DENISE FABIAN
(Schwetzingen) und untersuchte die konfessionsüberschreitende
Integration migrierter katholischer Musiker am württembergischen Hof.
Die Personalakten des 18. Jahrhunderts offenbaren zwar deutlich eine
katholische Dominanz. Wie aber aus diversen Einstellungsdekreten
hervorgeht, zeichnete einerseits die recht liberale, zeitweise geradezu
protektive Haltung der Herzöge für das überkonfessionelle Orchester
verantwortlich - die Religionszugehörigkeit war demnach zumindest für
eine Anstellung als Hofmusiker kein K.-o.-Kriterium. Andererseits war es
weniger die Kirchenmusik, die am württembergischen Hof im Vordergrund
stand. Vielmehr wurde die Musiklandschaft von der italienischen Oper
bestimmt, weshalb der Glaubensunterschied nur eine untergeordnete Rolle
spielte.

Ähnlich wie mit den nach Paris migrierten deutschen und böhmischen
Blasmusikern verhielt es sich mit Italienern an deutschen Höfen. NORBERT
DUBOWY (Salzburg) erläuterte, weshalb italienische Musiker in deutschen
Hofmusikkapellen des 18. Jahrhunderts derart hoch im Ansehen standen. So
war man etwa der Auffassung, dass zur stilgerechten Aufführung von
italienischer Musik auch italienische Musiker vonnöten seien. Als sich
die Satzkonzeption vom generalbasszentrierten Ensemble hin zum
streicherbasierten Orchester vollzog und sich eine Vorliebe für alles
Italienische manifestierte, wurde zunehmend die obligate
Mehrfachbesetzung der Streicherstimmen Usus. Hier erfolgte zumeist der
Rückgriff auf die exzellent ausgebildeten Italiener - andere Positionen,
etwa die der Holz- und Blechbläser, blieben ihnen verwehrt und wurden
vorrangig mit Deutschen besetzt.

THOMAS BETZWIESER (Frankfurt am Main) lenkte den Blick zum Schluss des
wissenschaftlichen Tagungspanels auf die Biographie des migrierten
Mannheimer Musikers Franz Beck, der vermutlich Schüler von Johann
Stamitz war. Schon in jungen Jahren verließ Beck den deutschsprachigen
Raum in Richtung Frankreich, wo er in Marseille zunächst eine Anstellung
als Kapellmeister antrat. Eine gewichtige Bedeutung kommt ihm in der
Stadtgeschichte von Bordeaux zu - hier ließ er sich in den 1760er-Jahren
nieder und war bis zu seinem Tod hier wohnhaft. An einigen Beispielen
aus diversen kurzen Opern wurde illustriert, wie er die lokale
musikalische Tradition mit den Attributen der Mannheimer Schule versah
und für das örtliche Musikleben nachhaltig prägend wirkte.

Mit dem im Rittersaal des Mannheimer Schlosses stattfindenden
Festvortrag von MICHAEL WERNER (Paris) wurden schließlich zentrale
Konzepte und Praktiken von Migration resümierend betrachtet und deren
Wandel ausgehend vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart skizziert. Das
reziproke Verhältnis zwischen Migrationsprozessen und ökonomischen
Innovationen, neuen technischen Errungenschaften, sozialen Umwälzungen
und politischen Ereignissen wurde als Spannungsfeld begriffen, dessen
Impulse die semantischen Dimensionen von Migration formte.

Einen feierlichen Ausklang fand das Symposium anlässlich des 300.
Geburtstags von Johann Stamitz durch das ebenfalls im Rittersaal
stattfindende Festkonzert. Unter dem Dirigat von Johannes Schlaefli
präsentierte das Kurpfälzische Kammerorchester gemeinsam mit Bläsern der
Musikhochschule Mannheim unter solistischer Mitwirkung von Marco Rizzi
(Violine) sowie Wolfhard Pencz (Klarinette) zwei Sinfonien (Wolf D-3 und
Wolf Es-4) sowie ein Violin- und Klarinettenkonzert.

Das Konzept der Tagung und die Beiträge insgesamt tangierten die
Migration als Terminus technicus ausgehend vom Mannheimer Hof unter Karl
Theodor einerseits aus einer allgemeineren Perspektive, wobei besonders
die Rolle von vernetzten Institutionen als eminenter Faktor für eine
erfolgreiche Migration hervorgehoben wurde. Die detaillierte Betrachtung
verschiedener Fallbeispiele und vergleichender musikalischer Analysen
führte andererseits zu einer Spezialisierung, in deren Mittelpunkt die
Musikermigration stand. So ergab sich ein differenziertes Bild der
mannigfaltigen kulturellen Implikationen von Migration im damaligen
Musikleben: Als Komponente von Musikerbiographien bedingte sie
konfessionsübergreifend einen regen Austausch zwischen migrierten und
ortsansässigen Musikern, dessen fruchtbare Synthese von Tradition und
Innovation sich etwa durch die Analyse gattungsspezifischer Werke und
Kompositionstechniken ausgezeichnet nachvollziehen lässt. Implizit
deutlich wurde, dass Migration nur gelingen kann, wenn dem
Spannungsverhältnis zwischen kultureller Isolation und kultureller
Offenheit eine gewisse Ausgeglichenheit zugrunde liegt. In einer Zeit,
in der zunehmend Initiativen an Kraft gewinnen, die sich durch
kulturelle Abschottung den Auswirkungen der Migration erwehren wollen,
hätte die hochaktuelle Thematik des Symposiums nicht passender sein
können.

Konferenzübersicht:

Johann Stamitz zum 300. Geburtstag - Die Familie Stamitz und die
europäische Musikermigration im 18. Jahrhundert

Silke Leopold, Heidelberg
Panja Mücke, Mannheim
Begrüßung und Einführung

Gwendolyn Döring, Mainz
Johann Stamitz und seine Ausbildung bei den Jesuiten. Zur Bedeutung
länderübergreifender Netzwerke für Migrationsprozesse im 18.
Jahrhundert

Andreas Trobitius, Marburg
Johann Stamitz' Missa Solemnis in D - Provenienz, Stil, Rezeption

David Vondrácek, München
Johann Stamitz aus der Perspektive der tschechischen Musikwissenschaft

Yevgine Dilanyan, Schwetzingen
Die Flötenquartette von C. J. Toeschi, C. Stamitz und E. Eichner aus der
Perspektive der Musikermigration am Mannheimer Hof

Mechthild Fischer, Mannheim
Drehscheibe des Kulturtransfers: Musiker der "Mannheimer Schule" im
Austausch mit Paris

Sarah Schulmeister, Wien
"Cors et clarinettes nouvellement arrivés de l'Allemagne..." Zur
Migration deutscher Blasmusiker nach Paris in der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts

Rüdiger Thomsen-Fürst, Schwetzingen
Die Ziwnys. Eine böhmische Hornistenfamilie an südwestdeutschen Höfen

Sarah-Denise Fabian, Schwetzingen
"von Niemand angefochten oder turbirt"? - Katholische Musiker am
württembergischen Hof in Stuttgart und Ludwigsburg

Norbert Dubowy, Salzburg
Italienische Instrumentalisten an deutschen Höfen

Thomas Betzwieser, Frankfurt
Franz (Francesco/Francois) Beck: Ein "Mannheimer" in Bordeaux -
Transferprodukte im Musiktheater

Michael Werner, Paris
"Musiker im Spannungsfeld von Migration und lokaler Verankerung. Zum
Wandel der Konzepte und Praktiken von Mobilität (18.-20. Jahrhundert)"


URL zur Zitation dieses Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=7246>

[Regionalforum-Saar] Niemand von uns ist allein

Date: 2017/07/15 23:23:00
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Guten Abend,

 

ich hab grad einen Krimi gesehen und einen starken Spruch gehört. Hat wohl was mit ZEN zu tun und sicher nichts mit dem Thema dieses Forums. Sei’s drum.

 

Roland Geiger

 

--------------------

 

Niemand von uns ist allein

 

Wenn wir ausatmen,
atmet ein anderer unseren Atem ein.

Das Licht, das mich erleuchtet,
erleuchtet auch meinen Nachbarn.

Also hängt alles miteinander zusammen …

Dadurch bin ich mit meinem Freund genauso verbunden
wie mit meinem Feind.

Dadurch gibt es auch keinen Unterschied zwischen mir
und meinem Freund.

Dadurch gibt es auch keinen Unterschied zwischen mir
und meinem Feind.

Niemand von uns ist allein …

(aus der VIII. Folge der amerikanischen Krimiserie „life“)

 

Re: [Regionalforum-Saar] Niemand von uns ist allein

Date: 2017/07/16 08:34:37
From: Werner Schmitt via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Ist eine sehr tiefgründige Aussage.
!!
Euch allen einen gesegneten Sonntag.  
LG aus z.Z. Bergneustadt ...Wermer

Am 15.07.2017 23:23 schrieb "Roland Geiger" <alsfassen(a)web.de>:

Guten Abend,

 

ich hab grad einen Krimi gesehen und einen starken Spruch gehört. Hat wohl was mit ZEN zu tun und sicher nichts mit dem Thema dieses Forums. Sei’s drum.

 

Roland Geiger

 

--------------------

 

Niemand von uns ist allein

 

Wenn wir ausatmen,
atmet ein anderer unseren Atem ein.

Das Licht, das mich erleuchtet,
erleuchtet auch meinen Nachbarn.

Also hängt alles miteinander zusammen …

Dadurch bin ich mit meinem Freund genauso verbunden
wie mit meinem Feind.

Dadurch gibt es auch keinen Unterschied zwischen mir
und meinem Freund.

Dadurch gibt es auch keinen Unterschied zwischen mir
und meinem Feind.

Niemand von uns ist allein …

(aus der VIII. Folge der amerikanischen Krimiserie „life“)

 


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Regionalforum-Saar mailing list
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[Regionalforum-Saar] Über die verregnete Wendelski rmes von 1926 und die neuen Brückenheiligen

Date: 2017/07/19 23:58:34
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Über die verregnete Wendelskirmes von 1926 und die neuen Brückenheiligen

 

Selbst die ältesten Leute können sich nicht erinnern, ein derartig verregnetes Wendelsfest erlebt zu haben, wie wir es heuer hatten.

 

Schon die letzten Tage vor der Kirmes ließen Böses vermuten. Aber die Tatsachen haben alle Annahmen übertroffen. Regen und Schnee, Sturm und in der Nacht zum Dienstage ein heftiges Gewitter mit Donner und Blitz, das alles hat zusammengewirkt, den Kirmesbesuch und die Kirmesfreude nicht hochkommen zu lassen.

 

Auf die Wallfahrt hatte freilich selbst dies schlechte Wetter nicht allzu ungünstig eingewirkt. Denn am Sterbetage unseres Patrons und auch am Samstage vor dem Feste kamen große Scharen frommer Pilger namentlich aus der Saargegend und aus dem Hochwalde, um St. Wendalin ihre Verehrung darzubringen. Staunend betrachteten sie die neuen Standbilder des heiligen Wendalin und des heiligen Johannes von Nepomuk, die in den letzten Tagen auf der Bahnhofs= und Johannisbrücke aufgestellt worden sind. In der Kunstwerkstätte Mettler zu Morbach aus Muschelkalk gehauen, stellen sie einen prächtigen Schmuck unserer beiden Brücken dar. Leider kamen die beiden Figuren bei dem dunklen Regenwetter nicht voll zur Geltung. Auch sie hätten wie das ganze Fest, das sie inaugurieren sollten, des goldenen Sonnenschein bedurft. So lag der Regen nicht nur drückend auf ihnen, sondern auf der ganzen Stimmung.

 

Selbst auf dem Vergnügungsplatze wollte keine rechte Freude aufkommen. Die Stadt hatte zwar den ganzen Platz vor= und fürsorglich mit Splitt überdecken lassen, aber bei dem Wasserreichtum, der von oben und von unten quoll, half alles nichts. Bald hüpfte männiglich mit langen Stelzbeinen im Matsche, und mancher Spangenschuh zog Wasser. In den hübsch geheizten Wirtschaften und Konditoreien herrschte noch die beste Stimmung und mancher Schoppen wurde geleert. Auch die Bälle waren gut besucht.

 

Natürlich litt auch der Wendelsmarkt unter den Unbilden der Witterung. Dazu kam die Sperre gegen den Auftrieb an Klauenvieh [wegen der grassierenden Maul- und Klauenseuche]. Damit war eigentlich schon von vorneherein das Todesurteil gegen den Markt gesprochen. Denn der Bauer kann nur Geld ausgeben, wenn er es zuvor gelöst hat. So waren zum Markte zahlreiche Verkäufer, wenig Käufer gekommen. Umsonst schrie sich deshalb selbst der wahre Jakob die Kehle heißer, und um manche Hoffnung ärmer haben viele Budenbesitzer am Abende ihre verregneten Waren eingepackt. Auch den Kunstinstituten, die den Neumarkt Bude an Bude bevölkerten, ist es herzlich schlecht ergangen. Gar mancher Schausteller hat kaum die Platzmiete herausgebracht.

 

Aber wenn man Gesamtbild der diesjährigen Wendelskirmes zeichnen soll, so muß man ihr doch die Note geben, sie war gemütlich und ist ohne jeden Zwischenfall verlaufen. Und noch lange wird man von der zwar verregneten, aber doch hübschen Kirmes des Jahres 1926 sprechen.

 

Quelle: St. Wendeler Volksblatt, 27. Oktober 1926, eingesehen im Stadtarchiv St. Wendel.

 

-------------------------------

 

Über die Firma Mettler aus Morbach, dem "Oberammergau des Hunsrücks",  fand ich diesen Artikel „http://www.roscheiderhof.de/kulturdb/client/einObjekt.php?id=14957“

[Regionalforum-Saar] Die Flughöhe der Adler. His torische Essays zu globalen Gegenwart.

Date: 2017/07/23 22:59:28
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Osterhammel, Jürgen: Die Flughöhe der Adler. Historische Essays zur
globalen Gegenwart. München: C.H. Beck Verlag 2017. ISBN
978-3-406-70484-0; 300 S.; EUR 19,95.

Rezensiert für Soziopolis und H-Soz-Kult von:
Isabella Löhr, GWZO - Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und
Kultur Ostmitteleuropas, Universität Leipzig
E-Mail: <isabella.loehr(a)leibniz-gwzo.de>

Eine große Ahnengalerie begleitet dieses jüngste Buch von Jürgen
Osterhammel, das bislang unveröffentlichte Vorträge und Reden
versammelt, ergänzt um wenige, bereits andernorts erschienene, vom Autor
für diesen Band überarbeitete Aufsätze. Friedrich Hölderlin, Sigmund
Freud, Georg Forster dienen als Namenspatronen für Preise oder
Jahresvorlesungen, für die Osterhammel dankte oder die er bestritt. Das
Genre des historischen Essays, wie es das Buchcover ankündigt und das im
Klappentext als besondere, selten praktizierte Kunstform herausgehoben
wird, als deren Meister sich der Autor erweise, zeichnet sich durch
einen freien Tonfall aus, der kommentiert, wertet oder unterhaltsame
Bögen schlägt. Es stehen große Themen zur Diskussion wie die
Weltöffentlichkeit im 20. Jahrhundert, Grenzen und Möglichkeiten einer
globalhistorischen Zeitgeschichte, der "Aufstieg Asiens" oder die
Begriffsgeschichte "des Westens", die Osterhammel in einem Gestus des
Grundsätzlichen bearbeitet, indem er große Linien skizziert oder Themen
erkundet. Inhaltlich deckt der Band ein breites Spektrum ab, das in vier
Teile gegliedert ist. "Konzepte von Globalität" versammelt zwei in einem
orthodoxen Sinn 'wissenschaftliche' Texte, die sich konzeptionell mit
Globalisierung und dem Globalen in der Geschichtswissenschaft
beschäftigen. Die beiden anderen Texte, der Aufsatz zur
Weltöffentlichkeit im 20. Jahrhundert und ein ursprünglich in der FAZ
abgedruckter Artikel zur imperialen Prägung des europäischen
Kosmopolitismus, behandeln dagegen eher thematische als konzeptionelle
Fragen. Sie würden gut in den dritten Abschnitt passen, der sich unter
der Überschrift "Historische Stichworte" mit so verschiedenen Themen wie
der Trias von Bürgerkrieg, Revolution und Krieg, mit Schutz, Protektion
und Intervention als historischer Kategorien, mit dem Verhältnis von
Zeitlichkeit und Kausalitäten in der Geschichte sowie mit den Umrissen
einer globalen Zeitgeschichte befasst. Der zweite Abschnitt "Orte und
Räume" kreist um geografische Problemstellungen. Hier finden sich die
bereits erwähnten Aufsätze zum Westen und zu historischen Aufstiegs-,
Verfalls- oder Rückschrittsgeschichten für den asiatischen Raum sowie
schließlich ein sehr lesenswerter Text über Brücken als Metapher und
Praxis des Verbindens. Unter der Überschrift "Ausklänge" beschließen
drei eher spielerische Texte das Buch, die den Eindruck von wohl
gehüteten wissenschaftlichen Augäpfeln erwecken: eine kurze Rede über
die Sprache und das Schreiben von Büchern, eine schön zu lesende, dem
Buch seinen Titel gebende Reflexion über den globalen Wissenshorizont
Friedrich Hölderlins sowie ein zoologisch inspirierter Aufsatz zum
Tiger.

Die Globalgeschichte, diesen Eindruck gewinnt man beim Lesen, ist für
Osterhammel Fluch und Segen zugleich. Fluch, weil viele Publikationen,
die mit Ausdrücken wie global, Welt, Globalgeschichte oder
Globalisierung hantieren, begrifflich oftmals unpräzise bleiben und so
den Blick auf das Empirische eher verstellen, als dass sie Verstehen
fördern. Segen, weil sich Osterhammel angesichts der quantitativen
Expansion des Feldes bei aller Kritik und mahnenden Hinweisen, wie
schnell eine globalgeschichtliche Arbeit handwerklich missraten kann,
eindeutig über die wachsende Zahl guter empirischer Studien sowie an den
Möglichkeiten freut, die die genaue Kenntnis von Spezialstudien für das
Schreiben von Synthesen eröffnet. Seine eigene Vorstellung von
Weltgeschichtsschreibung reflektiert und expliziert Osterhammel immer
wieder. Für ihn braucht Globalgeschichte die räumliche Distanz, die von
den Dingen oder den historischen Akteuren überwunden wird, und es ist
dieser Akt des Überwindens und Verbindens, der für ihn analytisch im
Zentrum steht. Nirgendwo wird dies deutlicher als in dem brillanten
Aufsatz "Grenzen und Brücken". Aber, auch das macht Osterhammel am Ende
des Textes deutlich, verbunden werden kann nur, was vorher getrennt war
mit der Folge, dass jedes "Brückendenken" nicht umhinkomme, Wert zu
legen "auf die freundliche Diskretion des Unterschieds" (S. 100). Der
historische Vergleich bleibt das methodische Kernstück seines
Werkzeugkastens, auch wenn es an anderer Stelle lapidar heißt, man solle
den Vergleich einfach bleiben lassen, wenn er nicht funktioniert.

Auch wenn die meisten Texte durch ihre analytische Präzision und eine
sorgfältige historische Kontextualisierung bestechen, stellt sich
trotzdem die Frage, ob das Beharren auf dem Vergleich (jenseits aller
Betonung von Zirkulation, Austausch und dem Grenzüberschreitendem)
methodisch am Ende weiterführt. Diese Frage drängt sich etwa bei der
Lektüre von "Der Aufstieg Asiens" auf. Osterhammel nähert sich dem Thema
zwar ideengeschichtlich, doch bleiben die Erklärungen einer bilateralen
Logik verhaftet. Diese orientiert sich an politischen Grenzen und räumt
der langen Geschichte der Interaktionen zwischen Asien, Europa und
Nordamerika zu wenig Platz ein, als dass der transformative Einfluss
dieser globalen Vernetzungen auf die beteiligten Gesellschaften und die
damit einhergehende Herausbildung regionaler übergreifender Muster oder
Strukturen erkennbar würde. Man muss den Ansatz des border thinking
eines Walter Mignolo, den Osterhammel exemplarisch für ein allzu sehr
auf kategoriale Auflösung fixiertes Denken zitiert, nicht teilen, um an
dieser Stelle zu bemerken, dass seine Emphase für die überzeugenden
Einzelstudien einer jüngeren Generation zu wenig anerkennt, dass gerade
diese Studien immer mehr Argumente dafür vorlegen, die eigenständige
Qualität grenzüberschreitender Beziehungen zu betonen, anstatt globale
Verbindungen nur räumlich und instrumentell zu denken.

Als unbestrittener Doyen der Welt- oder Globalgeschichte nimmt
Osterhammel sich die Freiheit, das Feld durch einen bisweilen launischen
Zugriff und einen großzügigen Pinselstrich immer wieder infrage zu
stellen, aber eben nicht ohne immer die Notwendigkeit globaler
Perspektiven zu unterstreichen. Osterhammel übt hier eine produktive
Verunsicherung. In diesem Sinne geht die im Vorwort geäußerte Hoffnung,
der Band inspiriere die jüngere Generation, durchaus in Erfüllung. Das
gilt zum Beispiel für seine Überlegungen zum Bürgerkrieg als einer neben
Revolution und Krieg bisher wenig beachteten und untertheoretisierten
Kategorie, oder für seine Vorschläge, welche Themen eine
globalgeschichtlich inspirierte Zeitgeschichte abdecken müsste - auch
wenn Migration und globaler Kalter Krieg keine frisch geschöpften Themen
mehr sind.

Was bringt die Lektüre den Lesern? Das Buch funktioniert auf mehreren
Ebenen. Es ist ein unterhaltsames Buch, geeignet für alle, die einen gut
geschriebenen, kenntnisreichen und trotzdem impressionistischen Eindruck
von den Themen, Zugriffen und Möglichkeiten bekommen möchten, die die
Globalgeschichte bietet. Fachleute finden lesenswerte Überlegungen zu
aktuellen Entwicklungen und theoretischen Untiefen sowie
historiografische Reflexionen, mit denen sich gut arbeiten lässt. Oder
es bietet sich ein thematischer Zugang an über die Texte in den Rubriken
"Orte und Räume" sowie "Historische Stichworte". Mit der thematischen
Breite, dem selektiven Zugriff auf die Globalgeschichte und dem enormen
Wissensfundus Osterhammels, der in allen Texten aufscheint, ist dies ein
historischer Essayband im besten Sinne. Der Autor hat aber auch ein Buch
vorgelegt, das zwischen konzeptionellen Überlegungen, Synthesen und
guter Wissenschaftsprosa Blicke hinter die Kulissen gewährt und die
Person Osterhammel in verschiedenen Facetten sichtbar werden lässt. Da
trifft der Leser auf den Geschichtspolitiker Osterhammel, der Angela
Merkel anlässlich ihres 60. Geburtstages zu vermitteln versucht, dass
nationale Interessen heute nicht mehr ohne globales Wissen konzipiert
werden können und dass dies Konsequenzen haben müsse für die Lehrpläne
in den Schulen wie für die strukturellen Rahmenbedingungen, die den
Ausbildungsweg des wissenschaftlichen Nachwuchses vorgeben. Gleichzeitig
taucht der politische Mensch auf, der seine weltgeschichtliche Praxis
als politisch beschreibt (S. 204) und der Bundeskanzlerin eine
Unterrichtsstunde ersten Ranges über Zeithorizonte, die Verkettung von
Ursachen und Geschichtsbilder erteilt - was man von dieser Art der
politischen Interventionen auch halten mag. Es wird der Tierfreund
Osterhammel sichtbar, den Zoobesuche zu einer sehr lesenswerten kultur-,
politik- und kolonialgeschichtlichen Beschäftigung mit dem Tiger
animierten. Wir begegnen einem Autor, den bestimmte Themen wie die Rede
vom "Westen" oder die These, mit dem Aufstieg Asiens werde eine
europäisch und westlich geprägte Moderne abgelöst, offenbar nerven, der
sie aber aufgreift, um aktuellen wie historischen Verfalls- oder
Aufstiegsklischees den Garaus zu machen. Wir entdecken den
Bildungsbürger, der bei einen Vortrag vor der Friedrich
Hölderlin-Gesellschaft unter Beweis stellt, dass er Hölderlin gelesen
hat, dessen Lyrik und Prosa (global-)historisch präzise
kontextualisieren kann und sich unter den Zeitgenossen und im
Bildungskanon von Klassik und Romantik bestens auskennt. Der Leser lernt
einen 'aufrichtigen' Autor kennen, der die ganz unterschiedlichen
Anlässe für das Schreiben der Vorträge ernst nimmt, sich gut vorbereitet
in die Themen begibt, sie sich einverleibt und sich nicht wiederholt.
Der Leser lernt den kritisch kommentierenden Zeitgenossen kennen, der
einen Teil seiner Aufsätze zu humanitären Interventionen, globalen
Öffentlichkeiten oder zu Brücken mit genauen und lesenswerten
Beobachtungen seiner Gegenwart versieht. Schließlich entdecken wir den
interdisziplinär interessierten Wissenschaftler, der sich ab einem
gewissen Punkt allerdings immer wieder auf seine historische Praxis
zurückzieht und der alle Spielarten, die ihm nicht sinnvoll erscheinen,
wie die big history, rigoros vom Tisch fegt. Osterhammel spart auch
nicht mit verdeckten Selbstbeschreibungen, wenn er etwa den Historiker
August Ludwig Schlözer als Alter Ego vorschickt, den "Neugier und
Gelehrsamkeit, Furchtlosigkeit gegenüber seinen Fachgenossen und
gegenwartsdiagnostischer Urteilswillen" ausgezeichnet hätten,
Eigenschaften, mit denen er heute eine globale Zeitgeschichte schreiben
könnte (S. 214).

Vielleicht erklärt dieser vielseitige Einblick in eine geschäftige,
weiträumige Werkstatt die Auswahl der Texte besser als alle Versuche der
Leser, einen roten Faden zu legen. Osterhammel schlägt den Adler als
Leitmotiv vor. In dem titelgebenden Aufsatz "Die Flughöhe der Adler"
schlüpft auf den letzten Seiten Friedrich Hölderlin mit seiner
"stratosphärischen Phantasie" in die Rolle des Alter Ego:
"Vogelperspektive, Fernsicht, schnelle und freie Bewegungen im Flug: Von
einem solchen hohen und mobilen Blickpunkt aus entwirft Hölderlin gern
seine Räume, die dadurch kraftvoll dynamisiert werden." (S. 243). Was
Osterhammel Hölderlin hier unterstellt, beschreibt seine eigene
historische Praxis, die er an anderer Stelle auch den "Satellitenblick
des Historikers" nennt (S. 99). Das Bild des Adlers ist perfekt gewählt,
denn kein anderer Greifvogel vereint in sich diesen außerordentlich
scharfen Blick aus großer Höhe, das Schweben über den Dingen und die
Symbolkraft des Erhabenen und Königlichen. Und es ist Goethe, den
Osterhammel eingangs sagen lässt, dass es den Adler nicht interessiere,
"ob der Hase, auf den er hinabschießt, in Preußen oder Sachsen läuft"
(S. 7). Aber vielleicht liegt genau hier, in der Flughöhe und der
Distanz zwischen ihm und dem Beobachteten, das Problem des Adlers. Es
mag den Adler nicht interessieren, ob der Hase in Preußen oder Sachsen
läuft, aber es macht einen Unterschied, wo und wie der Hase läuft, und
zwar für den Hasen wie für den Adler.


Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Stefan Mörchen <Stefan.Moerchen(a)his-online.de>

[Regionalforum-Saar] Als der hl. Wendelin seinen Kopf verlor.

Date: 2017/07/26 09:58:52
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Guten Morgen,

 

vorgestern abend erzählte der St. Wendeler Autor Alfons Klein ein paar humorige Geschichte um St. Wendel und seinen Stadtpatron im Rahmen der sog. „Gartengespräche“, die heuer in der Ferienzeit die Pfarrgemeinde im Pfarrgarten bzw. - wie vorgestern - bei schlechtem Wetter im Cusanushaus veranstaltet.

 

Mittendrin machte der Vorleser eine Kunstpause und bat seine Zuhörer um eigene Geschichten zum Thema, und tatsächlich kamen auch ein paar Wortmeldungen.

 

Mir fiel da eine Geschichte ein, die ich vor vielen Jahren in der St. Wendeler Oberstadt gehört hatte. Als ich sie in knappen Worten wiedergab, fiel mir auf, daß ich sie nie aufgeschrieben habe. Das hab ich eben nachgeholt - nun, ich möchte sie Oich nicht vorenthalten.

 

Roland Geiger

 

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Als der hl. Wendelin seinen Kopf verlor.

 

Diese Geschichte hat mir Martha Sebald aus der Balduinstraße vor vielen Jahren erzählt. Sie handelt von ihrer Mutter Barbara Sebald geb. Gerber (1882-1959) oder sogar schon deren Mutter Margarethe geb. Marx (1852- ca. 1920) - das weiß ich nicht mehr so genau -, jedenfalls war die Frau schon sehr alt [hm, ich habe immer den Eindruck gehabt, sie sei allein im Haus, also Witwe gewesen, aber Barbara wurde von ihrem Mann überlebt, bei Margarethe weiß ich es nicht; andererseits könnte es Martha durchaus selbst gewesen sein, denn sie war meines Wissens nicht verheiratet, und ihre Tochter, die heute in Amerika lebt und mit der ich nach Marthas Tod sprach, kannte die Geschichte nicht]. Jedenfalls geht es um diese alte Frau Sebald und den hl. Wendelin, der gegenüber auf dem Brunnen steht - bzw. dessen Kopf.

 

Da kam ein großer Lkw die Balduinstraße heruntergefahren und mußte in Höhe des Brunnens rangieren. Beim Rückwärtsfahren stieß er gegen den Brunnen bzw. - weil er recht hoch war - so heftig gegen den Kopf des Heiligen, daß dieser abgerissen wurde und in hohem Bogen davonflog. Frau Sebald sah, wie er auf die Erde fiel und unbeachtet liegen blieb. Der Lkw-Fahrer hat davon nichts mitbekommen oder es war ihm egal. Er verschwindet damit aus unserer kurzen Geschichte.

 

Der alten Frau Sebald, die von ihrem Fenster aus den davongeflogenen Kopf gut im Blick hatte, tat der hl. Wendelin leid, wie er da zum Teil oben auf dem Sockel stand und zum Teil unten in der Gosse lag. Also ging sie hinaus, nahm den Kopf auf und trug ihn ins Haus. Sie räumte eine Ecke im Fenster leer und stellte den Kopf dort auf, links und rechts von einer Kerze flankiert. Dort stand er ein paar Tage oder mehr, und sie verrichtete abends ihre Gebete vor ihm.

 

Nach einiger Zeit kam ihre Tochter zu Besuch und sah den Kopf auf dem Fenstersims stehen. „Ach du liebe Zeit“, rief sie und schlug die Hände zusammen, „aber Mama, wo hast Du den Kopf denn her?“

 

Und ihre Mutter erzählte ihr die Geschichte, wie der Kopf davongeflogen sei und er ihr leid getan und sie ihn deshalb in Sicherheit gebracht hätte.

 

„Ja, aber weißt Du denn nicht, daß er vermißt wird? Die halbe Stadt sucht schon nach ihm!“

 

In der Tat hatte die alte Dame, die selten vor die Tür ging, davon nichts mitbekommen. Natürlich haben die beiden den Kopf dann wieder zurückgegeben, und deshalb sitzt er heute längst wieder an Ort und Stelle. Aber die rechte Hand des Heiligen, von der die Leute immer meinen, sie würde sich segnend über sie strecken, weist vage in Richtung der anderen Straßenseite, dort, wo heute noch das Haus Balduinstraße 19 steht, wenn auch dort schon lange niemand mehr wohnt.

 

Daß diese Hand nicht die ist, die damals gleich nach der Kopfreparatur auf das Haus zeigte, nun, das ist eine ganz andere Geschichte.

 

 

[Regionalforum-Saar] Über die katholische Pfarrkir che von St. Wendel.

Date: 2017/07/26 14:23:11
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Mitten in St. Wendel liegt der Wendelsdom. So wird die Kirche schon seit über 100 Jahren genannt. Dabei weiß hier jeder, daß es sich nicht um einen Dom handelt. So wie der Hunnenring nicht von Hunnen erbaut wurde. Und ein Cousin meiner Mutter nicht Jürgen hieß, sondern Georg, obwohl ihn alle Welt als Jürgen kannte.

 

Warum die Kirche so genannt wurde, liegt auf der Hand. Denn „Dom“ ist nicht im kirchlichen Sinne zu sehen. Dort ist ein „Dom“ die Eigenkirche des Bischofs - wie etwa in Trier oder in Speyer. Hier in St. Wendel wohnt kein Bischof - die Kirche heißt so wegen ihrer erfurchtgebietenden Größe. Auch wenn sie im Vergleich zu anderen Gebäuden nicht sooo groß ist, es sind aber keine anderen größeren Gebäude in der Nähe, an der sie gemessen werden könnte. Und deshalb wirkt sie so riesig. Auch andere Kirchen tragen diesen Namen - die Kirche in Bliesen ist der Bliestaldom und die in Nonnweiler der Hochwalddom. Selbst der Felsendom in Jerusalem ist kein Dom; er ist nicht einmal eine christliche Kirche. Oder nehmen Sie den Petersdom in Rom - der viel mit unserer Kirche gemeinsam hat, wenn er auch um ein vielfaches größer ist. Beide wurden über einem Grabmal erbaut, beide im ausgehenden Mittelalter auf einem Vorgängerbau. Beide sind keine Bischofskirchen, aber beide tragen den Ehrentitel „basilika“ - „klein“ (minor) bei uns, „groß“ (major) in Rom, was beide zu Papstkirchen macht - und das ist ne Ecke mehr als jeder Dom.

 

Man sagt, Schönheit läge im Auge des Betrachters, und wenn wir über unsere Kirche mitten in der Stadt sprechen, sind wir befangen, wenn wir sagen, sie ist schön. Aber das sagen alle Leute, die sich ihr nähern. Von der Bahnhofstraße her sieht man sie über den Dächern der Häuser aufragen, ihr wuchtiges, dreigeteiltes Westwerk mit der barocken Haube in der Mitte und den kleineren Kugeln darüber, flankiert links und rechts von den hohen Spitzen der Seitentürme, die sich an die Mittelkonstruktion anlehnen, ja geradezu anschmiegen.

 

„He, die sind ja ganz krumm“, sagt einer und lacht. „Die sind nicht krumm“, sagt ein Architekt, der die Situation vor Ort genau erkundet und festgestellt hat, daß Seiten- und Mitteltürme eine starre Einheit bilden, die sich selbst trägt und stützt. Da hat sich der Meister Andler vor fast 300 Jahren etwas dabei gedacht, als er diese Konstruktion errichtete.

 

Wie alt denn die Kirche sei, wollen die Leute wissen, und das gerade ist die Frage, die so leicht nicht zu beantworten ist. Aus der Zeit des Kirchenbaus selber, dem 14ten und 15ten Jahrhundert, haben wir keine schriftlichen Unterlagen, die sich darauf beziehen. Wir haben jede Menge Papier, in der Hauptsache Schenkungen an die Pfarrei, aber da steht nichts über den Bau drin. Erst 250 Jahre nach dem mutmaßlichen Beginn schreibt ein Trierer Mönch etwas auf, und seine Jahreszahlen passen überhaupt nicht zu den Zahlen, die wir über die Dendrochonologie, das Bestimmen der Fälljahre der Bäume, aus denen die Dachkonstruktion besteht, wissen [Quelle: Amt für Kirchliche Denkmalpflege, Trier, Ordner „St. Wendelin“, Schreiben v. 15.10.2009].

 

So soll die Kirche schon 1360 fertig geworden sein, denn in dem Jahr soll sie geweiht worden sein. Dabei wird eine Kirche gar nicht geweiht, sondern eingesegnet. Ein Altar wird geweiht, u.a. in dem man eine Reliquie darin einsetzt. Schriftliches gibt es zu der Weihe von 1360 nicht, aber interessant ist, daß wir zu diesem Jahr mehrere Ablaßbriefe haben. Irgendetwas war damals, aber was. Vielleicht hat sich Christian Brouwer - so hieß der Trierer Mönch - um 100 Jahre vertan [Quelle: Christoph Brouwer, Antiquitatum Et Annalivm Trevirensivm, Hovius, 1670, Seite 232 u li]. Denn 1460 war die Kirche fertig. Das paßt aber nicht zu den Dokumenten. Brouwer gibt nicht an, woher er seine Weis- oder Wahrheiten hat. Vielleicht kannte er die - heute verschwundenen - Dokumente; vielleicht gab es dazu eine Legende, und er hat daraus auf das Jahr geschlossen. Das bleibt alles Spekulation.

 

Die Kirche hatte einen Vorgängerbau, das ist sicher, denn schon im 12ten Jahrhundert werden Geistliche aus St. Wendelin genannt [Quelle: Reichsarchiv München, Bipontina I, 127, Goerz, MRR KK, 127]. Das kann nicht die Magdalenenkapelle gewesen sein, die immer wieder einmal als erste Wendelskirche in St. Wendel ins Spiel gebracht wird. Denn schon 1318 - lange vor dem Bau der heutigen Kirche - wird in einer Ablaßurkunde zwischen der katholischen Kirche und der Magdalenenkapelle deutlich unterschieden [Quelle: Landeshauptarchiv Koblenz, 1 A 3586].

 

Zwischen 1326 und 1328 kaufte Erzbischof Balduin in seiner Funktion als Kurfürst zahlreiche Häuser und Ländereien rund um diese Vorgängerkirche; die Kirche selber kaufte er nicht. [Quelle: Landeshauptarchiv Koblenz, 1 A 4648, 1 A 4665, 1 A 4664, 1 C 11314, 1 C 1]

 

Die Kirche gehörte ebenso wie die  Pfarrei, der sie diente, weiterhin zum Bistum Metz. Brower schreibt nun, daß der Bischof Boemund, Balduins Nachfolger, mit den St. Wendeler Bürgern die Kirche baute. Aber Boemund war der Chef des Bistums Trier, wieso soll er im Bistum Metz eine Kirche gebaut haben, auch wenn Metz ein Unterbistum von Trier war? Das geht dann, wenn die Metzer auf die Pfarrei St. Wendel keinen Wert mehr legten und es ihnen quasi egal war, was die Trierer damit anstellten. Das mag für spätere Ereignisse durchaus eine Rolle spielen.

 

Andererseits wollten die Trierer St. Wendel fördern, was man daran sieht, daß sie der Stadt im 14ten Jahrhundert ein Marktrecht gaben und den Bürgern erlaubten, sie mit einer großen Stadtmauer zu umgeben (die angebliche Verleihung der Stadtrechte 1332 ist eine Fehlinterpretation eines örtlichen Heimatforschers) [Quelle: Landeshauptarchiv Koblenz, 1 A 4747].

 

Was liegt also näher, als vorhandenes Wirtschaftspotential zu fördern?

 

Die Wallfahrt zum hl. Wendelin war in den vergangenen Jahrhunderten so stark gewachsen, daß der Name des Heiligen mit der Zeit den alten Namen des Ortes übertönt hatte - aus Bosenweiler war St. Wendel geworden. Nun heißt die Devise für alle, die auf sich aufmerksam machen wollen: „nicht kleckern, sondern klotzen“. D.h. daß die Kirche, die bisher die Reliquie berherbergt hatte, durch eine viel größere, viel imposantere ersetzt werden mußte.

 

Wir wissen weder, wer den Umbau, der im Laufe der Zeit fast einem Neubau gleichkam, plante, wer ihn durchführte, und schon gar nicht, wer ihn bezahlte. Romane wie Ken Follets „Säulen der Erde“ mögen uns Anregungen dazu geben, dokumentiert ist nichts. Allenfalls könnten uns die Steinmetzzeichen in den Steinblöcken Auskunft geben, aber bisher konnte die Identität der Handwerker noch nicht wirklich festgestellt werden.

 

Vielleicht hat Trier ja wirklich den ganzen Spaß bezahlt, und Brouwer bezieht sich darauf. Es bleibt unbekannt.

 

Begonnen wurde jedenfalls in der ersten Hälfte des 14ten Jahrhunderts. Das Turmwerk im Westen bestand im wesentlichen aus den heute dort noch existierenden Mauern und Kammern. Der Eingang in die Vorgängerkirche wird in der sog. Taufkapelle in der Nordwestecke der Kirche vermutet, und jüngst hat sich herausgestellt, daß ein dort über der Tür verlaufendes Spruchband auf das Jahr 1300 zu datieren ist. Im Treppenturm gegenüber (Südwestecke) finden sich Fenster nach Osten, die heute entweder in den Kircheninnenraum führen oder als Türen verwendet werden. Sie deuten auf eine Zeit hin, als der Raum östlich des Turms noch unbebaut war. Der heutige große Haupteingang existierte damals noch nicht; das Tor stammt aus dem frühen 16ten Jahrhundert.

 

Zunächst blieb das romanische Mittelschiff unangetastet, was sinnvoll ist, denn schließlich sollte die Wallfahrt während der Bauzeit, die sich erfahrungsgemäß über mehrere Generationen erstreckte, nicht unterbrochen werden. Am östlichen Ende des heutigen Schiffs wird der romanische Chor abgerissen und im Laufe der nächsten Jahrzehnte durch den neuen gotischen Chor ersetzt.

 

Vielleicht wurde deshalb die Reliquie während dieser Bauphase, als die Kirche nach Osten offen war, aus aus der Kirche in die Magdalenenkapelle übertragen. Im Jahr 1318 befand sie sich jedenfalls in der Kirche, was aus der schon genannten Ablaßurkunde von 1318 zu erkennen ist. Brouwer nennt 1360 als das Jahr, in dem die Reliquie aus besagter Kapelle in die Kirche übertragen wurde und zwar nicht lange nach der Weihe. Das widerspricht sich nicht.

 

Lassen Sie uns mutmaßen:

Um 1340 beginnt die Baumaßnahme. Der alte Chor wird abgerissen; die Reliquie wird in die Magdalenenkapelle gebracht; dort steht sie unten in der Krypta. Über dem Sarg oder Grab wird die Tumba aufgestellt, die nach vorsichtiger Schätzung ins 14te Jahrhundert datiert. Gut 20 Jahre - eben 1360 - später ist der alte romanische Chor verschwunden, die Fundamente für den neuen Chor sitzen, und zwischen neuem Chor und altem Schiff hat man eine Mauer errichtet, die das Schiff nach Osten abriegelt. Der Altar im alten Schiff wird eingeweiht und die Reliquie wieder in die Kirche übertragen.

 

Gut 40 Jahre später wird der Chor fertiggestellt - das zeigen die Dendrochronologieproben. Die Reliquie wird vom Schiff in den Chor übertragen, der von der bisherigen Baustelle im Chor immer noch durch die Mauer geschützt wird. Nur wechselt jetzt die Baustelle auf die andere Seite. Ein wiederholter Transfer der Reliquie in die Krypta der Magdalenenkapelle ist nicht sinnvoll, denn im neuen Chor ist mehr Platz für Pilger als unten in der Krypta.

 

Der romanische Chor wird niedergelegt und der gotische aufgebaut - im oberen Teil erst der nördliche, 20 Jahre später der südliche Teil. Die Fertigstellung erfolgt um das Jahr 1460. Die Mauer zwischen neuem Chor und neuem Schiff wird nicht abgerissen, sondern bleibt noch einige Jahre als Lettner stehen. Natürlich wird eine Verbindung zwischen Chor und Schiff gebrochen. Die Reliquie befindet sich im Chor und bleibt auch dort.

 

Zwischen Baubeginn und -ende liegen gut 120 Jahre. Das schreibt sich so, wir jonglieren mit den Jahren vergangener Jahrhunderte, als wären es nur Zahlen, aber es sind Jahre, die so lange waren wie die unseren heute. Auf heute umgelegt hat der Bau von der Erhebung der Reliquie im Jahr 1896 bis ungefähr heute gedauert. Das ist eine lange Zeit, in der vier Generationen geboren wurden, von denen zwei schon nicht mehr leben.

 

Der Umstand, daß die Reliquie sich einmal in der Magdalenenkapelle befand und von dort in die Pfarrkirche überführt wurde, hat zu mancherlei Legenden in unserer Stadtgeschichte geführt. So wird die Magdalenenkapelle bis zum Umbau zu einer Schule im Jahre 1800 als „Wendelskapelle“ bezeichnet, was immer wieder zu allerlei Verwirrungen gesorgt hat.

 

Dann hat irgendein Spaßvogel das genaue Datum der Übertragung der Reliquie von der Kapelle in die Kirche auf den Pfingstmontag 1360 gesetzt. Nun ist das Pfingstfest neben dem Hochfest des Heiligen am 20. Oktober (ursprünglich am 21ten Oktober) einer der beiden Höhepunkte der Wallfahrt im Jahr, weshalb dieser Tag wohl gewählt wurde, obwohl er eigentlich kein Feiertag war [was u.a. dazu geführt hat, daß an den Tagen nach den Festen jeweils die Opferstöcke in der Stadt geleert wurden, weil an diesen Tagen dort das meiste Geld hereingeworfen wurde. Das hat eine systematische Durchsicht der Kirchenrechnungen im hiesigen Pfarrarchiv ergeben, die ich 2016 vorgenommen habe.]. Daraus resultiert das sog. „Wendelskuchenfest“, das am 5ten Juli gefeiert wird, weil am 5ten Juli 1360 angeblich Pfingstmontag war. War er aber nicht - Pfingstmontag war 1360 am 23ten Mai.

 

 

Um 1460 ist Nikolaus von Cues noch Pfarrer der Kirche bzw. Eigentümer dieser Pfründe, und er bezieht schon seit bestimmt 20 Jahren sein Salär daraus.

 

Und es fragt sich, welches Interesse das Bistum Metz noch an und welchen Nutzen es noch aus dieser Pfarrei hat. Der Kirchensatz liegt schon seit über 100 Jahren beim Bistum Trier, eigentlich schon seit Balduins Zeiten. Und wie oft und wie lange „herrschte“ in der Pfarrei ein sog. Kommendatarpfarrer, d.h. ein Geistlicher, der sich nicht hier aufhalten, sondern nur für die Betreuung der Gläubigen sorgen muß und während dessen als Pfründeninhaber alle Einkünfte kassiert.

 

In dieser Zeit geht das Bistum Metz finanzmäßig leer aus: Otto von Ziegenhain, der spätere Trierer Kurfürst, ist 1427 an dieser Stelle [Quelle: Landeshauptarchiv Koblenz, 1 A 3614, 27.03.1427], nach seinem Tod 1430 gefolgt vom Trierer Weihbischof Johannes de Monte, der 1442 stirbt. Und dessen Nachfolger bis 1464 ist Nikolaus von Cues, vermutlich direkt nach de Montes Tod. D.h. seit kurz nach 1400 hat das Bistum Metz aus der Pfarrei St. Wendelin keinen roten Heller mehr gesehen. Es ist zwar noch „Eigentümerin“ der Pfarrei und kann notfalls durchsetzen, daß nach seinen Gesetzen dort verfahren wird, aber es hat keinerlei Nutzen mehr davon. Und wird auch keinen mehr davon haben, denn der Nachfolger von Cusanus per Dekret ist der Trierer Erzbischof und Kurfürst Johann II von Baden, und mit ihm wird der Übergang von Metz an Trier als vollzogen betrachtet (interessanterweise ist der Metzer Bischof ein Bruder des Trierer Erzbischofs).

 

In den Jahren zwischen 1461 und 1464, als man per Dekret dabei ist, Cusanus als Pfründner abzusägen, hat er wohl die Wappen an der Decke anbringen lassen. Mit ihrer Hilfe zeigt er nicht nur, wie die damalige Welt im Heiligen Römischen Reich funktionierte - auf der einen Seite die Kleriker, also Papst, Bischof und Priester, auf der anderen die „Politiker“, also Kaiser, Kurfürsten und Amtmann -, sondern wies auch - z.B. durch die nicht standesgemäße Positionierung verschiedener Kurfürsten - auch bestehende Mißstände im Reich hin. Es ist nicht sicher, ob die Wappen wirklich auf Initiative des Cusanus enstanden, aber wer außer ihm hätte die Idee gehabt, so etwas der breiten Öffentlichkeit zu präsentieren - ein Politiker wie der amtierende Kurfürst sicher nicht. Aber Nikolaus von Cues in seiner Rolle auf Aufklärer schon.

 

In diesem Zusammenhang ist wohl auch die Steinkanzel zu sehen, die einer Inschrift zufolge im Jahre 1462 im nördlichen Teil des Schiffs an der zweiten Säule von Osten her aufgehängt wurde. Ignoriert man den Himmel, der keine 200 Jahre alt ist, hat man von der Kanzel aus einen ausgezeichneten Blick auf die Wappen an der Decke darüber. Und tatsächlich entsteht durch die Gestaltung der der Kanzel gegenüberliegenden Ränder der Wappen, die breiter und dunkler gemalt sind als die anderen, der Eindruck, als wendeten sie sich der Kanzel unten zu. Auf der Kanzel sind die Wappen des Cusaners, des Erzbistums bzw. Kurfürstentums Trier und des amtierenden Kurfürsten resp. Erzbischofs Johann II von Baden zu sehen. Auch hier muß die Urheberschaft für Cusanus vermutet werden, sie liegt m.E. nahe.

 

Was damals genau gelaufen ist, weiß heute niemand mehr … hm „wirklich“. Im Mai 1461 behauptet der Trierer de-Jure-Erzbischof („de-jure“ bedeutet, daß er zwar schon seit 5 Jahren offiziell - vom Papst ernannt - Erzbischof ist, de facto aber für das Amt noch zu jung ist; erst in 4 Jahren kann er es offiziell antreten; Kurfürst ist er schon, da gibt’s kein Mindestalter) … er behauptet also, daß er schon Eigentümer der Pfarrei St. Wendel ist (was vermutlich nicht stimmt, weil sie vermutlich noch zu Metz gehört), und so gibt ihm der Papst u.a. die Pfarrei St. Wendel in sein Tafelgut (das ist die Geldquelle, aus der er seinen Lebensunterhalt finanziert - im Gegensatz zu dem Geld, womit er seine Geschäfte führt) unter der Bedingung u.a., daß der jetzige Inhaber stirbt oder es abgibt. Cusanus ist auch grad sehr krank, und mit seinem absehbaren Ableben wird gerechnet. Aber der alte Kardinal ist zäh und überlebt  u n d  gibt nichts ab. Am 29. Januar 1464 macht man dann Nägel mit Köpfen: Cusanus verliert die Pfarrei, und der Trierer Erzbischof wird neuer Pfründeninhaber. Was in den zwei einhalb Jahren dazwischen gelaufen ist - weiß niemand. Cusanus muß damit gerechnet haben, daß er über kurz oder lang die Pfarrei verlieren wird. In diese zwei einhalb Jahre fallen die beiden schon genannten Projekte, von denen eins unsere Kirche einzigartig auf der Welt macht - letztgenanntes sind die Wappen, denn nirgendwo sonst auf der Welt gibt es ein politisches Programm aufgemalt unter einer Kirchendecke. Das andere ist die Kanzel, die ja augenscheinlich zu den Wappen dazugehört. Vielleicht hat Cusanus noch schnell - „jetzt gilt’s“ - Wappen und Kanzel anbringen lassen (dann hätte der Gesichtsausdruck der Engel, die die Wappen an der Kanzel halten, vielleicht wirklich eine Bedeutung.

 

Stellt sich die Frage, warum sein Nachfolger, dem die Wappen da an der Decke sicher nicht gefallen haben, weil sie politisch äußerst - wie sagt man heute - „unkorrekt“ waren, sie nicht entfernen ließ - nun gut, vielleicht sind sie unter ihm schon übermalt worden; bis heute weiß man nicht, wann und warum das geschehen ist.

 

Vielleicht hat sich der Erzbischof gedacht, er kann sie ruhig dort „hängen“ lassen, weil St. Wendel als Wallfahrtsstadt eh so unbedeutend war, daß es weder in einer der Pilgerkarten (z.B. die sog. Romwegkarte von 1500 von Erhard Etzlaub, auf der von Norddeutschland kommend alle wichtigen Wege nach Rom mit allen wichtigen Pilgerstädten eingetragen sind und auf der zwischen Trier und Saarbrücken, Kaiserslautern, Bernkastel und Creuznach nur ein großes weißes Loch prangt) noch in einem der zahlreichen Itinerare (Wegbeschreibungen, Fahrtberichte) auftaucht, so daß die Chance, daß jemand die Wappen zu sehen bekommt, ziemlich gering war (obgleich der deutsche Kaiser Maximilian den hl. Wendelin zu seinen „amici“ zählte und gleichzweimal innerhalb von vier Jahren - 1508 und 1512 - hier zu Besuch hier war und - wenn die Wappen damals noch dran waren - u.a. seinem Vater dort oben „Guten Tag“ sagen konnte).

 

Vielleicht aber - und das ist wie so vieles in diesem Artikel nur ein Gedankenspiel, sprich: völlig spekulatorisch - gab es hier auch einen Deal zwischen Amtsinhaber und Amtsinhaber-in-spe. Vielleicht hat Cusanus - alt, krank und müde - nicht mehr die Kraft gehabt, sich mit dem Erzbischof auf einen langen Prozess einzulassen und deshalb mit ihm vereinbart, daß er auf die Pfründe verzichtet, wenn er Kanzel und Wappen anbringen durfte. Eine solche Verpflichtung hätte Johann von Baden dann sicher davon abgehalten, Hand an die Wappen zu legen.

 

Über den Umstand, ob St. Wendel dabei oder dadurch von Metz an Trier kam, will ich hier nichts sagen, darüber schreibt mein Freund Matthias Gard aus Marpingen in Bamberg gerade an einer tiefergehenden Arbeit, auf deren Schlüsse und Ergebnis ich sehr gespannt bin.

 

Um Schulden zu begleichen, die Johanns Vorgänger Jakob von Sierck bei Nikolaus von Cues hatte, verpfändet Johann die Pfarrei am 7. Juni 1499 an den das sog. „Hospital von Kues“, das von Cusanus selbst gegründet worden ist und als dessen Rechtsnachfolger fungiert [Quelle: Nikolausstift Cues, Archiv, Regest 93]. Diese Verpfändung erlischt erst 300 Jahre später im Zuge der Säkularisierung.

 

Die Pfarrkirche von St. Wendel betreut die die Orte St. Wendel, Alsfassen, Breiten, Niederweiler, Baltersweiler, Hofeld, Mauschbach, Pinsweiler, Furschweiler, Roschberg, Gehweiler und Reitscheid, bis kurz vor der französischen Revolution. Dann werden die weiter entfernt gelegenen Orte  Pinsweiler, Furschweiler, Roschberg, Gehweiler und Reitscheid abgetrennt und in einer eigenen Pfarrei in Furschweiler organisiert; ihre Pfarrpatronin ist die hl. Anna, die Mutter Mariens.

 

Aber das ist eine andere Geschichte.

 

Roland Geiger

Alsfassen in der letzten Juliwoche des Jahres 2017

[Regionalforum-Saar] Ein trauriges Fiasko". Kolonia le Konzentrationslager im südlichen Afrika 1900-1908

Date: 2017/07/27 18:51:49
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

reienbaum, Jonas: "Ein trauriges Fiasko". Koloniale Konzentrationslager
im südlichen Afrika 1900-1908 (= Studien zur Gewaltgeschichte des 20.
Jahrhunderts). Hamburg: Hamburger Edition, HIS Verlag 2015. ISBN
978-3-86854-290-5; 352 S.; EUR 28,00.

Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und
Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:

Jan Severin, Graduiertenkolleg "Geschlecht als Wissenskategorie",
Humboldt-Universität zu Berlin
E-Mail: <jan(a)reflect-online.org>

In den Debatten um den Genozid an Herero und Nama in der deutschen
Kolonie Deutsch-Südwestafrika (DSWA) liegt der Fokus häufig auf dem
sogenannten "Schießbefehl" von Lothar von Trotha vom Oktober 1904,
während die Geschichte der Konzentrationslager, die Lebensumstände in
ihnen und die mit ihnen verbundene Zwangsarbeit in den Debatten oft in
den Hintergrund tritt. Dabei gibt es bereits einige Forschungsbeiträge
aus den letzten 15 Jahren, die sich einem der Konzentrationslager widmen
oder diese zumindest intensiv in ihre Betrachtung des Völkermords an
Herero und Nama einbeziehen.[1] Eine umfassende Monographie, welche die
kolonialen Konzentrationslager in DSWA in den Fokus nimmt, fehlte jedoch
bislang.

Diese Lücke möchte Jonas Kreienbaum mit seiner 2015 in der Hamburger
Edition veröffentlichten Dissertation "'Ein trauriges Fiasko.' Koloniale
Konzentrationslager im südlichen Afrika 1900-1908" schließen. Dabei
belässt er es nicht bei einer Analyse der Lager in DSWA, sondern bezieht
- aus einer explizit transnational orientierten Perspektive heraus - die
während des sogenannten "zweiten Burenkriegs" (1899-1902) errichteten
britischen Konzentrationslager in Südafrika in seine Untersuchung mit
ein. Sein Kernanliegen ist die Frage nach spezifischen Kennzeichen der
kolonialen Lager in DSWA und Südafrika vor dem Hintergrund einer
allgemeinen Typologie von Konzentrationslagern (S. 9). Um diese zentrale
Thematik gruppieren sich für ihn mehrere weitere Forschungsfragen, so
unter anderem nach dem Zweck der Lager aus Perspektive der
Kolonialmächte, wie diese im Alltag funktionierten und wie sich das
massenhafte Sterben der Internierten in den Lagern erklären lässt (S.
13). Wichtig ist ihm hierbei, nicht einen vermeintlichen Prototyp
herauszuarbeiten, sondern den Blick auf Lager und Lagersysteme die
Spezifik und die Veränderungen der Lager und Lagersysteme zu richten,
wie auch die Diskrepanzen zwischen den Motiven und der konkreten Praxis
der Kolonialmächte einzubeziehen (S. 15).

Zunächst widmet sich Kreienbaum in seiner Arbeit den Kolonialkriegen in
Südafrika und Deutsch-Südwestafrika. Es gelingt ihm, in den beiden
Kapiteln den jeweiligen Kontext, in dem die beiden
Konzentrationslagersysteme eingeführt wurden, klar zu umreißen und dabei
gleichzeitig konzise wie auch gut strukturierte und lesbare
Überblicksdarstellungen über beide Kriege zu liefern. Im Abschnitt zum
Krieg zwischen dem deutschen Kaiserreich und den Herero widmet sich
Kreienbaum intensiv den Debatten um den Schießbefehl Trothas und die
Frage der dahinterliegenden Vernichtungsabsicht, wobei er dahingehend
argumentiert, dass sich die Vernichtungspolitik vor dem Hintergrund des
Kriegs sukzessive entwickelt habe und nicht von vorneherein klar
festgestanden habe (ab S. 65).

Im Anschluss analysiert der Autor in zwei Kapiteln den Zweck der
jeweiligen Lager, d.h. vor allem, wofür sie geplant waren. Er
thematisiert hier zum einen die extrem hohen Sterbezahlen in den Lagern
in DSWA und versucht zum anderen nachzuzeichnen, dass diese nicht auf
eine vorhergehende Vernichtungsintention zurückzuführen seien. Die
mitunter im Konflikt stehenden Positionen der verschiedenen deutschen
Akteure arbeitet er detailliert heraus und macht dabei deutlich, dass
zumindest keine einhellige Vernichtungsabsicht vorlag. Für ihn stellten
vor dem Hintergrund des Krieges gegen Herero und Nama eher
Sicherheitsaspekte die zentrale Intention der Lager dar (S. 136f.), die
zumindest bezüglich der internierten Herero nach und nach von der
Ausbeutung indigener Arbeitskraft und der vermeintlichen "Erziehung zur
Arbeit" als zentrale Motive abgelöst wurden (S. 141f.). Dazu trat für
ihn vielfach ein Bestrafungsdenken, das in den Lagern in DSWA eine
deutlich größere Rolle spielte als in den sogenannten "Burenlagern" in
Südafrika (S. 144). 

Die folgenden zwei Kapitel, die jeweils die umfangreichsten sind,
beschäftigen sich mit der konkreten Funktionsweise der jeweiligen Lager
in Südafrika und in DSWA. Intensiver werden hier unter anderem der Weg
in die Lager, der Alltag, die sozialen Beziehungen und die
Handlungsmöglichkeiten der Insassen erörtert. Diese beiden Kapitel sind
die stärksten Kapitel der Arbeit, da es Kreienbaum hier wirklich
ausgesprochen gut gelingt, eine sehr dichte Darstellung und Analyse der
Lager vorzulegen und dabei - zumindest was die Lager in DSWA angeht -
einige bislang weniger beleuchtete Aspekten der Lager aufzugreifen. Der
Autor versucht an dieser Stelle auch die Frage zu beantworten, wie es zu
den extrem hohen Sterbezahlen kam. Er analysiert hierfür die
Lebenssituation der Internierten in den Lagern und die Handlungen und
mitunter auch das explizite Nicht-Handeln verschiedener, an den Lagern
beteiligter Akteure, wie des Militärs, des Lagerpersonals, der
Missionare und von Unternehmen und privaten Arbeitgebern. Zentrale
Faktoren für die hohe Sterblichkeit in den Lagern in DSWA stellen für
Kreienbaum die Lebens- und Versorgungsumstände in der Frühzeit der
Lager, das massive Desinteresse vieler Militärs an der Versorgung der
Internierten, Krankheiten wie Skorbut bei einer sich gleichzeitig nur
sehr langsam verbessernden medizinischen Versorgung, und die
Zwangsverpflichtung beinahe aller Internierter, auch Kinder und Kranker,
zu häufig körperlich extrem anstrengender Arbeit (S. 247). Bestimmte
Ursachen für die hohe Sterblichkeit sind Kreienbaum zufolge von einigen
deutschen Akteuren erkannt und teilweise auch angegangen worden. Dem
Willen, hier etwas grundlegend zu ändern, seien jedoch engen Grenzen
gesteckt gewesen (S. 271). Bei Interessenskonflikten zwischen
Interniertenversorgung und Interessen des Militärs hätten die Letzteren
klare Priorität gehabt (S. 224), das Sterben sei teilweise als "gerechte
Strafe" wahrgenommen worden und dem rassistischen Zeitgeist entsprechend
sei dem Tod von schwarzen Personen von deutscher Seite wenig Beachtung
geschenkt worden. Letztendlich sieht Kreienbaum die hohe Mortalität
jedoch nicht als Resultat einer planmäßigen Vernichtung an, sondern als
"unbeabsichtigte[s] Nebenprodukt des Plans, die Arbeitskraft der
Gefangenen auszubeuten und die Sicherheitsbedürfnisse der Kolonisierer
zu befriedigen" (S. 273). Seine grundlegende Argumentation ist dabei
nachvollziehbar, dem Begriff "unbeabsichtigtes Nebenprodukt" liegt
jedoch eine deutliche Gefahr der Trivialisierung inne, er wird den teils
expliziten Weigerungen bestimmter Akteure, Schritte zu Verbesserung der
Situation einzuleiten, wie auch den mitunter mörderischen
Arbeitsbedingungen nicht gerecht.

Vor den Schlussbetrachtungen widmet sich der Autor zwei der zentralen
Fragestellungen der Arbeit: erstens der Frage des Wissenstransfers im
kolonialen Kontext. Ausgehend vom Befund das "Konzentrationslager" als
Bezeichnung für koloniale Lager in der Tat vom britischen Militär
eingeführt wurde, betont Kreienbaum anhand der nun einsetzen Karriere
des Begriffs seine Wandelbarkeit. Gleichwohl zeichneten sich die
britischen und die deutschen kolonialen Konzentrationslager neben
Unterschieden vor allem durch ihre Gemeinsamkeiten aus, als im Kontext
eines von schaffenen Orte, die die Grundlage für die Beendigung
derselben schaffen sollen. Kreienbaum zeigt, dass die deutschen
Kolonialakteure die Gelegenheit hatten, ihr Wissen über die britischen
concentration camps des Burenkrieges drei Jahre später selbst in die Tat
umzusetzen, um eigene Konzentrationslager in DSWA einzurichten.
Kreienbaum nennt dies einen "interimperialen Lernprozess", für den die
Konzentrationslager nur ein Beispiel unter vielen seien. Eine zweite
zentrale Frage des Buches richtet sich nach dem Verhältnis kolonialer
Lager zu den Nazi-Konzentrationslagern. Hier äußert sich der Autor
deutlich kritisch zu einer Parallelisierung. Dabei weist er am
eindeutigsten den Vergleich mit nationalsozialistischen
Vernichtungslagern zurück, da in den kolonialen Lagern keine planmäßige
Ermordung intendiert gewesen sei (S. 294). Auch zu sogenannten
"Sterbelagern" verweist er auf eine Differenz von kolonialen Lagern, da
im letzteren Fall die Tötung durch Unterversorgung nicht Teil eines
systematischen, geplantes Vorgehens war, sondern "Resultat von
logistischen Problemen, Ressourcenmangel, rassistischer Gleichgültigkeit
und anderer Prioritätensetzung" (S. 295). Schließlich sieht Kreienbaum
auch hinsichtlich der "Vernichtung durch Arbeit" in anderen
NS-Konzentrationslagern bei kolonialen Lagern eine Differenz
dahingehend, dass es zwar aufgrund der Arbeitsbedingungen faktisch zu
einer Vernichtung von Herero und Nama durch Zwangsarbeit gekommen sei,
diese aber kein gezieltes Mittel gewesen sei und die Internierten des
Nachkriegsgesellschaft als Arbeitskräfte hätten zur Verfügung stehen
sollen, während für jüdische Lagerinsassen kein Überleben vorgesehen
gewesen sei (S. 295). Kreienbaum betont insgesamt stark die Differenzen
zwischen kolonialen und nationalsozialistischen Konzentrationslagern[2],
weist aber auch darauf hin, dass sie zumindest darin eine gewissen
Gemeinsamkeit hätten, dass sich die Ausbeutung der Arbeitskraft der
Internierten nach und nach zu einer zentralen Funktion dieser Lager
entwickelt hätte und ein vergleichbares System der Vermietung von
Lagerinsassen und von betriebsnahen Außenlagern geschaffen worden sei
(S. 300). Hinsichtlich der Ausbeutung der Arbeitskraft sieht er eine
gewisse Gemeinsamkeit zu den Lagern in Südafrika, in denen schwarze
Personen interniert waren.

Explizit skeptisch zeigt sich Kreienbaum auch gegenüber der These von
einer Kontinuitätslinie "von Windhuk nach Auschwitz-Monowitz", auch wenn
er hier den derzeitigen Stand der Forschung nicht für ausreichend hält,
um eine abschließende Antwort zu geben (S. 306). Die hierbei häufig
genannten personellen Kontinuitäten, insbesondere hinsichtlich der
Person von Franz Ritter von Epp, stellen für ihn wenig belastbare
Begründungen dar und er weist darauf hin, dass in Deutschland in den
1930er- und 1940er-Jahren der Krieg gegen Herero und Nama und die
Konzentrationslagerpolitik in DSWA insgesamt kaum mehr im Bewusstsein
gewesen seien (S. 306). Zentralere Bezugspunkte für das
nationalsozialistische Konzentrationslagersystem stellen für ihn die
preußische Tradition der Schutzhaft und Institutionen der
Selbstdisziplinierung durch Arbeit, wie Arbeitshäuser, dar. Auch
verweist er auf Lagersysteme zwischen 1908 und 1933, wie die
Internierungslager im Ersten Weltkrieg oder Konzentrationslager für
unerwünschte Ausländer, insbesondere sogenannte "Ostjuden", die nicht
vernachlässigt werden dürften. Diese Lager der Jahre 1914 bis 1923 sieht
er den späteren NS-Konzentrationslagern als typologisch näher als die
kolonialen Lager, es wäre ihm zufolge wenig wahrscheinlich, dass der NS
die kolonialen Lager kopiert hätte (S. 308f.).

Kreienbaums Darlegungen und Analysen erscheinen durch das Buch hindurch
größtenteils nachvollziehbar und schlüssig. Bei einer Lektüre ergeben
sich dennoch einige Kritikpunkte. An einigen Stellen erscheint seine
Argument, dass bei den kolonialen Konzentrationslagern keine explizite,
vorhergehende Vernichtungsintention vorlag, zu einseitig und sein Fokus
auf den (mangelnden) Nachweis eben dieser Intention als zu beengt. So
ist beispielsweise nicht überzeugend, wenn er eine Vernichtungsintention
des Kommandeurs der Schutztruppe Berthold Deimlings gegenüber den auf
der Haifischinsel internierten Nama dahingehend verwirft, dass dieser
sich nach Beschwerden nur der Verlagerung der männlichen Nama von der
Insel verweigerte und einer Verlegung von Frauen und Kindern ohne
männlichen Anhang aufs Festland zugestimmt hätte (S. 130). Dass die
Bereitschaft, das Sterben eines signifikanten Teils der männlichen Nama
unter Sicherheitsaspekten zu befürworten oder zumindest zuzulassen, die
weitgehende Auslöschung zumindest der dort internierten Nama-Gruppen als
Bevölkerungsgruppe beinhaltete, wird hier ausgeklammert. Kreienbaum ist
zwar dahingehend zu folgen, dass Akteure wie Deimling selten eine klare,
von vornherein bestehende Vernichtungsintention hatten, im Detail
irritiert er jedoch einige Male dabei, dass er den konkreten,
absichtsvollen Beitrag einiger Akteure zum Genozid an Herero und Nama
etwas zu energisch verwirft. Dieses spiegelt sich an einigen Stellen in
nicht ganz treffenden, tendenziell trivialisierenden
Begriffsverwendungen. Hier ist die schon erwähnte Kategorisierung der
Vernichtung großer Teile der Herero und Nama als "unbeabsichtigtes
Nebenprodukt" zu nennen, aber auch der Titel der Arbeit "Ein trauriges
Fiasko". Indem er dieses Zitat des britischen Hochkommissars in
Südafrika Sir Alfred Milner als Titel der Arbeit verwendet, setzt
Kreienbaum die Betonung deutlich darauf, dass die Kolonisatoren selbst
ihre Politik, die in der Ermordung und Vernichtung großer Teile
indigener Bevölkerungsgruppen resultierte, als ein Fiasko angesehen
hätten, was gerade in DSWA jedoch keineswegs bei allen wichtigen
deutschen Akteuren der Fall war. Hier wäre eine vorsichtigere
Begriffsverwendung und weniger Gewicht bei der Betonung des Mangels
einer gezielten Vernichtungsintention möglicherweise dem Gegenstand
angemessener gewesen.

Zumindest implizit wirft Kreienbaum zudem den Unterstützer/innen von
Genozid- und Kontinuitätsthesen vor, sich durch eine aktualitätsbezogene
politische Perspektive den Blick auf die historischen Ereignisse selbst
zu verstellen (S. 21). Dabei entgehen ihm an einigen Stellen
möglicherweise produktive Fragestellungen und er droht gelegentlich,
einen selbst geschaffenen Gegensatz von politischer Positionierung und
(geschichts-)wissenschaftlicher, erkenntnisfixierter Objektivität
aufzusitzen. Dieses zeigt seine nicht ganz überzeugende Verwerfung des
"Genozid"-Begriffs. Er konstatiert hier, zu Recht, mit Verweis auf
Kundrus und Strotbek[3] eine Vielzahl von politischen und rechtlichen
Debatten, die den Begriff durchziehen und eine einheitliche Definition
merklich erschweren. Seine Folgerung daraus ist, dass er den Begriff
analytisch für seine Arbeit verwirft: "Resultat dieser Debatten ist eine
Flut an Begriffsdefinitionen und Vorschlägen, die das Problem nicht
wirklich gelöst haben. Deshalb bleibt die heuristische Kraft des
Begriffs für die historischen Wissenschaften umstritten." (S. 25) Hier
beschwört er letztendlich einen politikfreien, vermeintlich objektiven
Wissenschaftsraum, den es so, gerade vor dem Hintergrund der aktuellen
Debatten in Deutschland und Namibia um den Genozid an Herero und Nama
und mögliche Entschädigungen ihrer Nachkommen, nicht gibt. Im Rahmen der
aktuellen Debatte wird Kreienbaums Studie als Beitrag zu dieser Debatte
und zur politischen Auseinandersetzung um diese Themen gelesen und
gewertet werden, unabhängig davon, ob er eine "rein" wissenschaftliche
Arbeit für sich reklamiert oder nicht. Er positioniert sich schließlich
auch mehrfach in seinem Buch hinsichtlich zentraler Debattenstränge, wie
den Fragen nach der Intentionalität oder den Kontinuitäten, die deutlich
über das wissenschaftliche Debattenfeld hinausgehen. Ein beträchtlicher
Teil wissenschaftlichen Vokabulars, Themen und Fragestellungen ist von
gesellschaftspolitischen Fragen und Debatten durchzogen oder wird, siehe
die Debatte um den Genozid an Herero und Nama, durch sie in dieser Form
erst erzeugt. Ein engagiertes, kritisches Eingehen auf diese Debatten
würde diesem Punkt deutlich mehr Rechnung tragen als ein Verwerfen des
analytischen Gehalts von Begriffen, die zu sehr von
gesellschaftspolitischen Debatten durchzogen und daher umstritten
seien.

Diese Anmerkungen sollen nicht überdecken, dass Kreienbaums Arbeit
ausgesprochen lesenswert ist und einen deutlichen Zugewinn zur
Gewaltgeschichte des deutschen Kolonialismus in Deutsch-Südwestafrika
und zu den in den letzten Jahren entstandenen Forschungsfragen um den
Genozid an Herero und Nama und Vergleichbarkeiten wie auch
Kontinuitätslinien hinsichtlich der nationalsozialistischen
Vernichtungspolitik liefern kann. Ebenfalls überzeugt seine komparative
Kontextualisierung deutscher Kolonialpraktiken in Deutsch-Südwestafrika
mit denen im Nachbarland Südafrika und fügt hier der insbesondere von
Ulrike Linder herausgearbeiteten, engen Verflechtung beider
Kolonialsysteme einen weiteren Baustein zu.[4]


Anmerkungen:
[1] So zum Beispiel der Artikel von Joachim Zeller zum
Konzentrationslager Swakopmund: Joachim Zeller, "Ombepera i koza - Die
Kälte tötet mich". Zur Geschichte des Konzentrationslagers in Swakopmund
(1904-1908), in: ders. / Jürgen Zimmerer (Hrsg.), Völkermord in
Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-1908) in Namibia und
seine Folgen, Berlin 2004, S. 64-79.
[2] Er grenzt sich hier insbesondere von den Arbeiten von David Olusoga
/ Caspar Erichsen und Jürgen Zimmerer ab: David Olusoga / Casper W.
Erichsen, The Kaiser's Holocaust. Germany's Forgotten Genocide and the
Colonial Roots of Nazism, London 2010; Jürgen Zimmerer, Von Windhoek
nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust,
Berlin 2011.
[3] Birthe Kundrus / Henning Strotbek, "Genozid". Grenzen und
Möglichkeiten eines Forschungsbegriffs - ein Literaturbericht, in: Neue
Politische Literatur 51 Heft 2/3 (2006), S. 397-423.
[4] Ulrike Lindner, Koloniale Begegnungen. Deutschland und
Großbritannien als Imperialmächte in Afrika 1880-1914, Frankfurt am Main
2011.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Alexander Korb <ak368(a)le.ac.uk>