Monatsdigest

[Regionalforum-Saar] Ein Jubiläum der besonderen A rt

Date: 2017/02/02 20:06:41
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Ein Jubiläum der besonderen Art

 

Heute morgen saß ich im „Bruder Jakob“ in der Schloßstraße und trank einen Latte, als am Nebentisch jemand fragte, was das denn heute für ein Markt in St. Wendel sei. „Lichtmeß-Markt“, sagte jemand.

 

Ich drehte mich zu Herrn Jakob, dem Betreiber der Gaststätte um, und fragte, ob wir heute den 2ten Februar zählten, was er bejahte. „Ei“ sagte ich und rechnete schnell durch, „dann feiern Sie heute ein Jubiläum“. 

 

Nein, meinte er, das sei erst am 19ten März. Er meinte wohl die Eröffnung.

 

Aber ich sagte ihm, nein, das Haus hat heute ein Jubiläum - wenn auch ein negatives:

 

Es zählte heute vor genau 340 Jahren nicht zu den Häusern, die von den Franzosen an Lichtmeß 1677 niedergebrannt wurden.

 

Denn dieses Haus ist das Haus des Schultheißen, und laut überlieferter Schilderung war es ein von fünf Häusern (inkl. Pfarrkirche), die verschont blieben.

 

„Extract Sicheren Schreibens über vorgangenes Mord=brennen und erbärmliche Einaescherung der Stadt S. Wendel/ wie auch was sonsten in dem Ertz=Stifft Trier vor Orthen mehr von denen Frantzosen verbrennet worden de dato den 10. Februarii 1677.

 

(…) dann den 30. kame der Comte de Bissy,

nachdem er Cussel und alle umbligende Doerffer eingeaeschert/

mit seinen Reuteren und Dragonern zu S. Wendel wieder an/

stelte sich vor der Statt uffm Berg in Battaille, schickte zum Schultheissen/

und als selbiger so bald parirt, und zu ihme kommen/

hat besagter Comte de Bissy ihme vorgehalten/

wie daß Er Ordres erhalten/

die Statt S. Wendel gantz abzubrennen/

und ausserhalb Kirch/

Pfarrhoff/

Frauen von Soeteren/

und deß Schultheissen Hauß/

nichts stehen zulassen; welcher unchristlich:

ja mehr als barbarischer execution man sich umb desto weniger versehen/

weil besagte Statt in Koenigliche Frantzoesische Protection genohmen worden/

auch an Zahlung der so schwerer Contribution niemalen saeumig erschienen/

sondern selbige biß Joannis Baptistae anticipando gezahlt/

nunmehr auch nach auzgestandenen harten Einquartirungen

gantz ruinirt wahre“

 

Als ich später über den Markt spazierte, gewahrte ich den örtlichen Polizisten, Herrn Fischer, und gemahnte ihn, nach Franzosen mit großen Feuerzeugen Ausschau zu halten. Den Witz mußte ich ihm natürlich erklären.

 

Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen

 

Roland Geiger

[Regionalforum-Saar] das schwarze gebräu der musel manen

Date: 2017/02/03 20:59:17
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Hallo,

der nachstehende Artikel - stand heute morgen in der SZ - gehört vielleicht nicht wirklich ins Forum, aber ich fand ihn interessant - auch die historische Anmerkung. Man möge es mir verzeihen.

Roland Geiger


Das pädagogische Muselmann-Kaffee-Desaster

Die Holländer haben ihn den Arabern und den Türken geklaut. Das ist zwar schon etwa 400 Jahre her, aber die Holländer haben seitdem bei uns Deutschen eigentlich etwas gut, denn wir mögen mehr als fast alle anderen Europäer kaum etwas lieber als ihn. Es geht um Kaffee.

Die Warnung vor den miesen Angewohnheiten dieses Muselmanns war zwar sehr melodisch, aber ich hatte schon früh den Verdacht: Da stimmt etwas nicht. „C-a-f-f-e-e, trink nicht so viel Kaffee!“, lautetet die Warnung. Der „Türkentrank“ schwäche die Nerven, mache „blass und krank“. „Sei doch kein Muselmann, der ihn nicht lassen kann!“, sangen wir in der Klasse. Und im Lehrerzimmer roch es nach Kaffee.

Meine Oma sprach immer vom „guten Bohnenkaffee“. Lange bevor ich selbst meine erste Tasse bekam, durfte ich bei der Zubereitung helfen, das Wasser in den Filter aufs Pulver schütten, dem Tröpfelgeräsuch zuhören und den Duft einatmen. Als ich dann meinen ersten Kaffee hinter mir hatte, entwickelte ich mich schnell zum guten Enkel und warnte meine Oma: Nicht die weißen Papierfilter nehmen, die braunen sind besser. Sie ließ sich überzeugen.

Das ließ ich mich auch, als mir Thomas Brinkmann von der Kaffeeschule in Hannover vor ein paar Tagen erklärte: Nicht die braunen Filter nehmen, die weißen sind besser. Die werden nämlich inzwischen nicht mehr mit Chlor, sondern mit Sauerstoff gebleicht und verändern den Geschmack des Kaffees nicht so sehr wie die braunen Filter. Außerdem habe ich gelernt: Kaffeewasser sollte nicht kochen, sondern nur etwa 90 bis 96 Grad heiß sein. Kaffee wird besser, wenn man den leeren Papierfilter erstmal mit heißem Wasser begießt. Und am besten ist Kaffee, wenn man ihn nicht länger als eine Viertelstunde vor dem Brühen mahlt. Denn mehr als die Hälfte der wundervollen Kaffeearomen verflüchtigen sich nach dem Mahlen ruck, zuck.

Und der Muselmann? Der hatte eine Art Kaffeemonopol – die Türken und Araber verkauften nur Bohnen, die nicht mehr keimen konnten. Clever. Bis die Holländern 1616 im damals osmanischen Jemen, wo wohl schon 1454 der erste Kaffee angebaut wurde, Kaffeepflanzen klauten, um selbst welchen in Ceylon und Java anzubauen.

Es gibt viele solcher Geschichten, aber das ist die glaubwürdigste. Ganz sicher ist: Kaffee ist nach Wasser und vor Bier das Lieblingsgetränk der Deutschen. 162 Liter davon trinken wir pro Kopf im Jahresdurchschnitt. Die Warnung vor dem muselmanischen Kaffeelaster scheint also nicht nur bei mir ein pädagogisches Desaster gewesen zu sein.

Wie machen Sie Kaffee? Was trinken Sie am liebsten? Sagen Sie dem Autor Ihre Meinung. Postadresse: Gutenbergstraße 11-23, 66103 Saarbrücken, E-Mail m.rolshausen(a)sz-sb.de

[Regionalforum-Saar] 1816 - das Jahr ohne Sommer

Date: 2017/02/05 18:44:17
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

From:    Beate Dettinger <b.dettinger(a)web.de>
Date:    06.02.2017
Subject: Tagber: 1816 - Das Jahr ohne Sommer
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Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart; Kommission für geschichtliche
Landeskunde in Baden-Württemberg; Universität Stuttgart; Universität
Hohenheim
21.10.2016-23.10.2016, Stuttgart

Bericht von:
Beate Dettinger / Amelie Bieg / Theresa Reich / Lea Schneider,
Historisches Institut, Universität Stuttgart
E-Mail: <b.dettinger(a)web.de>

Der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im Jahr 1815 löste eine
globale Naturkatastrophe aus. Wegen der freigesetzten Asche- und
Gaswolke sanken die Temperaturen im Folgejahr so erheblich, dass in
weiten Teilen Nordamerikas und Europas im Jahr 1816 ein winterliches
Klima herrschte. 2016 jährt sich das sogenannte Jahr ohne Sommer zum
zweihundertsten Mal. Aus diesem Anlass befasste sich die
interdisziplinär angelegte Tagung mit den klimatischen, politischen,
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Folgen einer Katastrophe, die
über die Zeitgenossen hereinbrach und für die sie keine Erklärung
hatten.

Der geographische Schwerpunkt der Tagung lag in Südwestdeutschland,
vergleichende Studien (Schweiz, China) wurden herangezogen. Die Tagung
fragte danach, wie diese Katastrophe von den Zeitgenossen wahrgenommen,
gedeutet und bewältigt wurde. Sie befasste sich konkret damit, welche
Anstrengungen unternommen wurden, um Wege aus der Not zu finden, welche
Auswirkungen sie auf die Volkswirtschaft hatte und ob sie sich
beispielsweise auch etwa in der Musik der Zeit widerspiegelte.

FRANZ MAUELSHAGEN (Potsdam) konstatierte in der ersten Sektion,
moderiert von SABINE HOLTZ (Stuttgart), dass die globale Dimension von
Naturkatastrophen und die interdisziplinäre Perspektive wichtig seien,
um die Kausalitäten zu verstehen. Für das moderne Verständnis einer
globalgeschichtlichen Dimension müsse berücksichtigt werden, dass die
Kausalzusammenhänge den Zeitgenossen nicht klar waren. Zwar wurden der
Ausbruch des Tamboras und die fatalen Auswirkungen im nahen Umfeld durch
die Kolonialmächte wahrgenommen, jedoch herrschte im 19. Jahrhundert ein
anderer Klimabegriff und ein anderes Klimaverständnis als in der
modernen Klimaforschung. Kausalität und Wirkung wurden zeitgenössisch
vor allem in lokalen Zusammenhängen und somit in ihren kurzfristigen
Auswirkungen gesehen. Zu einem globalen Ereignis konnte der
Vulkanausbruch erst durch Kausalzusammenhänge werden, welche durch die
Interaktion Mensch und Natur sowie Mensch und Bakterium, wie im Falle
der ersten Choleraepidemie 1817 bis 1822, beeinflusst wurden.
Abschließend setzte Mauelshagen den Ausbruch des Tamboras in den Kontext
der langfristigen Klimageschichte und bettete dessen Eruption in den
weltgeschichtlichen Zusammenhang der Kleinen Eiszeit ein.

Die zweite Sektion beleuchtete die politischen und wirtschaftlichen
Folgen der Tamborakrise und wurde von SABINE HOLTZ (Stuttgart) und SENTA
HERKLE (Stuttgart) moderiert.

Das Krisenmanagement der badischen Regierung stellte CLEMENS ZIMMERMANN
(Saarbrücken) vor. Die Krise war von den Behörden als nicht bedrohlich
eingeschätzt worden: Man führte die Preisentwicklung vielmehr auf die
noch nicht fortgeschrittene Agrarmodernisierung, Gerüchte wie auch
kollektive Emotionen und Zukunftserwartungen zurück. Aufgrund dessen
wollte die badische Regierung nur zögerlich ihre
Marktregulierungsprinzipien aufgeben. Denn der Fokus der badischen
Beamten lag weniger auf der Ernährungskrise, sondern auf dem
Staatshaushalt, weshalb sie erst am 21. April 1817 das erste
Ausfuhrverbot verhängten und mit großen Getreideankäufen reagierten. Zu
diesen Entscheidungen führten nicht nur zentrale Vorgaben und lokale
Konstellationen, sondern besonders die sozialen Erwartungen und die
lokalen Interessen. Daher war die Krisenpolitik der badischen Regierung
zur Vermeidung von Aufständen eher symbolischer Natur und diente dem
Auffangen emotionaler Stimmungen. Um dies zu verdeutlichen, ging
Zimmermann auf die kommunikationsgeschichtlichen Aspekte ein, denn
letztlich zwang die öffentliche Meinung die Regierung dazu, flexibler zu
reagieren.

Die Folgen der Tamborakrise für die württembergische Wirtschaftspolitik
zeigte GERT KOLLMER-VON OHEIMB-LOUP (Hohenheim) auf. Diese Agrarkrise
traf die württembergische Volkswirtschaft besonders hart. Um der Krise
zu begegnen, wurden neben kurzfristigen besonders langfristige Ziele
verfolgt, welche die volkswirtschaftlichen Strukturen des Landes
verändern und den Ausbau der Industrie vorantreiben sollten. Als Mittel
sollten die finanzielle Förderung von Gewerbe und Industrie durch die
Regierung dienen sowie der Einsatz propagandistischer Maßnahmen. Um die
Ziele schnell zu erreichen, wurden Vereine gegründet, wie etwa der
Handels- und Gewerbeverein. Zudem verfolgte Wilhelm I. ab 1817 eine
aktive Zollpolitik. Der König kann also keinesfalls nur als Förderer der
Landwirtschaft gesehen werden, sondern auch als Visionär eines
industrialisierten Württembergs. Diese Veränderungen hätten vermutlich
auch ohne die Tamborakrise stattgefunden, so Kollmer-von Oheimb-Loup,
wobei diese Agrarkrise katalytische Wirkung auf die staatlichen Reformen
gehabt haben wird.

Am Nachmittag referierte THORSTEN PROETTEL (Hohenheim) in seinem Vortrag
über die Entstehung der Württembergischen Sparkasse, welche 1818 in
Stuttgart auf Initiative von Königin Katharina als Maßnahme zur
allgemeinen Verbesserung der Armut gegründet wurde. Proettel stellte die
These auf, dass es im Zuge einer ab 1816 von Großbritannien ausgehenden
Gründungswelle auch ohne das Engagement der Königin in den
darauffolgenden Jahren zur Gründung einer vergleichbaren Institution in
Württemberg gekommen wäre. Charakteristisch sei der Umstand, dass die
württembergische Landessparkasse ausdrücklich Menschen mit geringem
Einkommen zum Sparen anhalten wollte, damit diese bei einem erneuten
Anstieg des Getreidepreises auf Geldreserven zurückgreifen konnten.
Gleichzeitig verwies Proettel auf den sich entwickelnden Dualismus von
Landessparkasse und regionalen Sparkassen. Zudem zeigte Proettel den
Vorbildcharakter der Satzung der Württembergischen Landessparkasse für
andere Sparkassengründungen in Wien und Nürnberg auf.

JOCHEN KREBBER (Trier) charakterisierte das Jahr 1817 als Scharnierjahr
der südwestdeutschen Auswanderung. So sei zum einen das Ende
konfessionell geprägter Wanderungsmuster des 18. Jahrhunderts, weg von
einer kontinentalen hin zu einer interkontinentalen Auswanderung mit
Amerika als Hauptauswanderungsziel, zu erkennen. Zum anderen führte die
Massenauswanderung infolge der Tamborakrise 1817 zum Zusammenbruch des
sogenannten Redemptioner-Systems, das von einem System der freien
Einwanderung abgelöst wurde. Darüber hinaus sei es zu einem Wandel in
der Ein- und Auswanderungspolitik der Staaten gekommen: Seit 1817
erlaubte Württemberg seinen Untertanen die Auswanderung ohne Abzugsgeld
und durch den Steerage Act wurde 1819 in den USA die Migration erstmals
staatlich geregelt.

Anschließend schilderte DANIEL KRÄMER (Bern) die Hungerkrise der Jahre
1816/17 in der Ostschweiz und verwies nicht nur auf die Not der
Menschen, sondern auch auf die regionalen Unterschiede der Hungerkrise
innerhalb der Schweiz. Krämer betonte die unterschiedliche
wirtschaftliche Ausrichtung der Kantone sowie deren fehlende
Zusammenarbeit bei der Bewältigung der Krise, sodass eine
Getreideverteilung durch gegenseitige Kantonsperren verhindert wurde.
Besonders stark betraf die Hungerkrise Gebiete mit einer Baumwoll-,
Leinwand-, Seiden- oder Uhrenindustrie, da hier die Landwirtschaft
zugunsten der Industrie zurückgegangen sei, weshalb Getreide 1816/17
teuer zugekauft werden musste. Krämer verwies in diesem Zusammenhang
darauf, dass die Krise von 1816/17 in der Schweiz eine doppelte Krise
von Agrar- und Textilindustrie gewesen sei, welche durch die Folgen der
vorangegangenen Koalitionskriege und Missernten verschärft worden war.
Hinsichtlich des Aspekts der Kirche konnte für die Schweiz keine
Bemühung eines strafenden Gottes im Sinne des Alten Testaments
beobachtet werden.

MARTIN UEBELE (Groningen) untersuchte die Auswirkungen der Agrarkrise
1816/17 auf die Getreidepreise in Europa, China und den USA. Während
mithilfe der Comovement-Analyse ein Tambora-Effekt, welcher einen
Anstieg der Preise bezeichnet, bei den Getreidepreisen der Jahre 1806
bis 1821 in Europa durchaus nachzuweisen sei, ist ein solcher Effekt für
China nicht zu beobachten. Uebele stellte einen Widerspruch fest
zwischen den Quellenberichten über eine Hungersnot in einigen
chinesischen Provinzen, wie beispielsweise Yunnan, und einem
gleichbleibenden Getreidepreis. Dieses Ergebnis bedürfe der weiteren
Forschung und könne mit begrenzten regionalen Ernteausfällen und
geringeren Temperaturanomalien in China zu begründen sein.

Die zweite Sektion endete mit dem öffentlichen Abendvortrag von WOLFGANG
BEHRINGER (Saarbrücken), der die globalen Auswirkungen des
Tamboraausbruchs im April 1815 ausführte. Durch Besitzumschichtungen
aufgrund von Missernten und Arbeitslosigkeit setzte bereits 1816/17 die
Pauperisierung der Gesellschaft ein und nicht erst bedingt durch die
Industrialisierung in den 1830er-Jahren - so die Kernthese Behringers.
Zu den weiteren Folgen zählten Migrationsbewegungen, Unruhen und
Proteste in Europa sowie Hexenverfolgungen in Südafrika. Um der
Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken, wurden infrastrukturelle Maßnahmen
initiiert, wie beispielsweise der Bau des Erie-Kanals in den USA, der
die Erschließung neuer Gebiete ermöglichte. Zu den langfristigen
globalen Auswirkungen zählte Behringer etwa den Niedergang des
chinesischen Kaiserreichs, Indiens Selbständigkeitsverlust und Mfecane
in Südafrika oder die Wiederherstellung der Ordnung und der Staaten
Europas. Neben der Gründung von Zoll- und Handelsvereinen, der
Verbreitung von Dampfschiffen und der Erfindung der Draisine ist auch
die Errichtung von Spar- und Sterbekassen, welche unter dem Stichwort
'Hilfe zur Selbsthilfe' subsumiert wurden,  als Entwicklung aus den
Krisenjahren hervorgegangen.

Die dritte Sektion zur Wahrnehmung der Krise und ihrer kulturellen
Folgen wurde von GERD KOLLMER-VON OHEIMB-LOUP (Hohenheim) und PETRA KURZ
(Stuttgart) moderiert.

Wie die Ereignisse in den Jahren 1816 und 1817 in der zeitgenössischen
europäischen Publizistik dargestellt und wahrgenommen wurden, stellte
SENTA HERKLE (Stuttgart) zu Beginn des zweiten Konferenztages vor. Die
untersuchten Pressegattungen geben Hinweise auf zeitgenössische
Interpretationen für die Ursachen der Krise. Die Autoren des frühen 19.
Jahrhunderts versuchten Kausalitätsketten herzuleiten, indem sie die
vorangegangenen napoleonischen Kriege sowie die dürftige Ernte des
Jahres 1815 und die Missernte des Folgejahres in einen gemeinsamen
Kontext setzten und sie als Entstehungsursache für Armut und Teuerung
deuteten. Zudem wurde deutlich, dass die einzelnen Gattungen
unterschiedliche Themenfelder behandelten und sich an den
Interessensgebieten der Rezipienten orientierten. Hervorgehoben wurde
die Bedeutung der regionalen Regierungs- und Intelligenzblätter.

SABINE HOLTZ (Stuttgart) widmete sich in ihrem Beitrag der
Krisenbewältigung der evangelischen und katholischen Kirche im deutschen
Südwesten. Die Auswertung von gedruckten Predigten verdeutlichte das
Spannungsverhältnis zwischen den rational agierenden Amtskirchen und den
traditionsverhafteten Gläubigen. Während die Kirchen die Hinwendung zu
einem barmherzigen Gott lancierten und ihre Unterstützung auf
fürsorgliche Hilfsmaßnahmen konzentrierten, war in der Bevölkerung immer
noch der Glaube vorherrschend, der die Forderung nach Buß- und Bettagen
implizierte. Erst nach der Überwindung der Krise, mit der feierlichen
Einholung der Erntewägen im Jahr 1817, wurde die Krise seitens der
Kirche thematisiert, sowie Deutungsversuche, die sich an traditionellen
Mustern orientierten, unternommen.

ANDREAS LINK (Augsburg), richtete seinen Schwerpunkt auf die religiösen
Reaktionen infolge der Hungerkatastrophe in Bayrisch Schwaben. Die
Beleuchtung der praktischen Beiträge der Pfarrer, die als
Erfüllungsgehilfen der staatlichen Kontrolle agierten, ist hierbei
elementar. Als Fallbeispiel zog Link die Aktivitäten des Dorfpfarrers
Ignaz Lindl (1774-1845) heran, der als ein wichtiger Protagonist der
chiliastischen Allgäuer Erweckungsbewegung in Süddeutschland hervortrat.
In erste Linie griff die katholische Kirche im Königreich Bayern auf die
traditionellen Mittel der Krisenbewältigung zurück und ordnete
beispielsweise Buß- und Betstunden an. Gleichzeitig fand auch in
Bayrisch Schwaben eine verstärkte Wohltätigkeit statt, während die
Stiftungen für die Kirchen an Bedeutung verloren.

MATTHIAS OHM (Stuttgart) erläuterte anhand von fünf ausgewählten
Medaillen die Erinnerungskultur, welche auf die Erfahrungen aus und
Überwindung der Krise folgte. Neben gewöhnlichen zweiseitigen Medaillen
aus Metall erläuterte Ohm das Bildprogramm einer von Thomas Stettner
gefertigten Steckmedaille, die neben der Gegenüberstellung von Hunger
und Elend aus dem Jahr 1816 und der Ernte von 1817 auch Preisangaben der
Krisenjahre auf Papiereinlagen enthielten. Die Funktion der Medaillen
war zum einen Erinnerungsort, zum anderen dienten sie als Instrument, um
Gott für die Rettung zu danken und die kommenden Generationen zu
mahnen.

Im letzten Vortrag untersuchte JOACHIM KREMER (Stuttgart) unter
musikwissenschaftlicher Perspektive den Zusammenhang zwischen der Krise
1816/17 und der Komposition von Vampiropern, begleitet durch
musikalische Hörbeispiele. Hierbei wurde herausgehoben, dass der
Ursprung der Vampirfigur in der nordischen Mythologie zu finden sei. Im
19. Jahrhundert habe sie ihren Eingang zunächst in Melodramen und
Erzählungen gefunden und sei erst durch den Transfer aus Pariser Opern
durch Heinrich Marschners 'Der Vampyr' (1828) und Peter von
Lindpaintners 'Der Vampyr' (1828) auch auf deutschen Opernbühnen
gespielt worden. Beide Komponisten beziehen sich motivgeschichtlich auf
John Polidoris 1816 entstandene Erzählung 'The Vampyre'. Durch die
Schriftstellergruppe um Lord Byron verdeutlichte Kremer den Zusammenhang
zwischen Byrons Dichtung und den Wetterphänomenen von 1816, wodurch er
die Wechselbeziehung zwischen Wetter und Literatur bestätigt sah. Der
Zusammenhang zwischen Wetter und Oper wurde aber der Literatur
nachgeordnet. Den Höhepunkt der Vampirthematik in Opern der 1820er-Jahre
erklärte Kremer durch die zeitliche Nähe zu den Erfahrungen in den
Krisenjahren 1816/17.

In der Abschlussdiskussion wurde nochmals die gelungene
Interdisziplinarität und Medienvielfalt als Schwerpunkte der Tagung
hervorgehoben. Besonders die Verknüpfung von Naturwissenschaft und
Geschichte, wie auch von globaler Geschichtswissenschaft und
Landesgeschichte waren inspirierend für alle Disziplinen. Die sich aus
den Diskussionen ergebenden Fragen wurden von Sabine Holtz am Ende der
Tagung zusammengefasst: Aus klimageschichtlicher Perspektive blieb
offen, welchen Einfluss der Vulkanismus auf die Kleine Eiszeit hatte.
Unter dem Aspekt der Wirtschaftsgeschichte ist die Frage, ob in der
Landwirtschaft oder in der Industrie die dominanten Innovationen zu
Beginn des 19. Jahrhunderts zu finden seien, noch nicht abschließend
beantwortet. Daneben bleiben die religiösen Erwartungen von Laien und
Amtskirche sowie deren Reaktionen weiter zu erörtern. Franz Mauelshagen
ergänzte die offenen Punkte um das Defizit aus Sicht der Klimaforschung,
wonach noch ein Mangel an systematischen Auswertungen regionaler Daten
besteht, welche eine Unterscheidung von Klimawandel und -veränderung
herbeiführen könnten. Zudem wäre im Hinblick auf die
Wirtschaftsgeschichte eine Spezifizierung von Hunger und Teuerung als
bisher allgemeine Kategorien wünschenswert.

Konferenzübersicht:

Sektion I: Der Ausbruch des Tambora. Globale und umweltgeschichtliche
Folgen

Franz Mauelshagen (Potsdam), Tambora. Der Krater der Geschichte und die
Kleine Eiszeit

Sektion II: Politische und wirtschaftliche Folgen

Clemens Zimmermann (Saarbrücken), Hunger, Kommunikation und Emotionen.
Krisenmanagement der badischen Verwaltung 1816-1818

Gert Kollmer-von Oheimb-Loup (Hohenheim), Das Jahr 1816 und die Folgen
für die württembergische Wirtschaftspolitik

Thorsten Proettel (Hohenheim), Die Sparkassen und das Jahr ohne Sommer.
Entwicklungsschub und Weichenstellung als Reaktion auf die Krise

Jochen Krebber (Trier), 1817 als Scharnierjahr der südwestdeutschen
Auswanderung

Daniel Krämer (Bern), "[...] haben die Kinder oft im Grase geweidet, wie
Schafe". Die Hungerkrise 1816/17 in der Ostschweiz

Martin Uebele (Groningen), Auswirkungen der Agrarkrise 1816/17 auf
Getreidepreise in Europa, China und den USA

Öffentlicher Abendvortrag

Wolfgang Behringer (Saarbrücken), Der Ausbruch des Tambora im April
1815. Einfluss der Geologie auf die (menschliche) Weltgeschichte

Sektion III: Die Wahrnehmung der Krise und ihre kulturellen Folgen

Senta Herkle (Stuttgart), "Das erschöpfte Land sieht mir Sehnsucht nach
Hülfe [...]". Die Krise im Spiegel der zeitgenössischen europäischen
Publizistik

Sabine Holtz (Stuttgart), "Vor Mißwachs, Frost und Hagelwolke Behüt uns
aller Engel Schar". Religion und Kirche in Zeiten der Krise

Andreas Link (Augsburg), Religiöse Reaktionen auf das Jahr
"achtzehnhundertunderfroren" im Raum Bayrisch Schwaben

Mattias Ohm (Stuttgart), "GROS IST DIE NOTH - O HERR ERBARME DICH".
Medaillen auf die Hungersnot 1816 und den Erntesegen 1817

Joachim Kremer (Stuttgart), "Wie nach verderblichem Wettergetose [...]".
Dunkle Welten auf der Opernbühne

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[Regionalforum-Saar] Amerika

Date: 2017/02/10 18:04:40
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Amerika
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Bremen, 05.11.2016
Übersee Museum Bremen
WWW: <http://www.uebersee-museum.de/veranstaltungen/aktuelles/amerika/>

Katalog: Ahrndt, Wiebke; Übersee Museum Bremen (Hrsg.): Amerika (=
TenDenZen 2016. Jahrbuch XXIV). Bramsche: Rasch Verlag 2016. ISBN
978-3-89946-255-5; 180 S.; EUR 15,80.

Rezensiert für H-Soz-Kult von:
Sarah Ehlers, CHF/Beckman Center for the History of Chemistry,
Philadelphia 
E-Mail: <sarahanjaehlers(a)gmail.com>

Amerika im 21. Jahrhundert ist das Thema der neugestalteten
Dauerausstellung im Bremer Übersee-Museum, die im November 2016 eröffnet
wurde. Nach insgesamt drei Jahren Umbau ist mit ihr nun die letzte der
Kontinent-Ausstellungen des Museums überarbeitet, so dass, wie die
Direktorin Wiebke Ahrndt betont, den Besucher/innen wieder eine Reise um
die Welt geboten wird. Eben dieses Anliegen, Gründungsdirektor Hugo
Schauinsland formulierte es als "die Welt unter einem Dach", verfolgt
das Übersee-Museum seit seiner Eröffnung 1896, als Sammlungen von
Reichtümern, die Bremer Kaufleute aus der Ferne in die Hansestadt
gebracht hatten, in Schaugruppen und Dioramen dem Publikum geöffnet
wurden. Die Geschichte des Museums ist mit der Bremens eng verknüpft,
der Umfang der Sammlungen und der imposante Bau nicht zuletzt aus
Bremens Vergangenheit als Kolonial- und Überseehandelsstadt zu erklären.
Besonders ist für den deutschen Kontext zudem die Kombination von
Völker-, Handels- und Naturkunde in einem Haus.

Bild:
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/daten/2017/rezausstellungen-259--Abb1--public.jpg>
Abb. 1: Außenansicht Übersee-Museum Bremen
© Übersee-Museum Bremen, Foto: Matthias Haase

Mit dem Beibehalten der traditionellen Kontinent-Struktur setzt sich das
Museum von jüngeren Trends ethnologischer Ausstellungspraxis ab,
vorwiegend thematisch zu strukturieren. Innerhalb der geographischen
Sektionen (Asien, Afrika, Amerika, Ozeanien) gliedern allerdings
thematische Blöcke das Material. Die Sektion "Erleben, was die Welt
bewegt" ergänzt den kontinentalen Zugriff zudem mit Fragen zur
Globalisierung. In dieser Aufteilung zeigt sich ebenso wie in den
einzelnen Ausstellungen ein gestalterischer Zugriff, der insgesamt sehr
traditionell wirkt, jedoch punktuell Kritik und Anregungen zu
insbesondere ethnologischer Ausstellungspraxis aufnimmt. Deren Umsetzung
allerdings - um die Leitthese dieser Rezension vorwegzunehmen - ist
vielfach halbherzig und verkopft, so dass die Zuschauer/innen eher die
Zielsetzung der Kurator/innen durchschauen, als dass der gewünschte
Effekt auch tatsächlich eintritt.

Die Amerika-Ausstellung nimmt beide Kontinente in den Blick und setzt
dabei die Schwerpunkte auf die Länder USA, Brasilien und Mexiko. Die
vier Kapitel "Einwanderung", "Religion", "Politik & Gesellschaft" und
"Welthandel" sollen Amerika in seiner Vielfalt fassbar machen, indem sie
Verbindungen, Parallelen und Unterschiede zwischen Nord und Süd
herausstellen. Entsprechend der Tradition des Museums an der
Schnittstelle von Ethnologie und Naturkunde gerät die Tier- und
Pflanzenwelt dabei nicht aus dem Blick: So beschreibt die
Einwanderungssektion Wege von Puritanern und Sklaven neben denen von
Bison und Opossum während die Folgen des Welthandels für Bauern in
Chiapas sowie für Ökosysteme des Amazonas diskutiert werden. Ein
visueller Rahmen entsteht durch über 60 fotographische Portraits von
Amerikaner/innen in Bremen sowie einer Serie von Natur-, Architektur-
und Menschenaufnahmen von Kanada bis Brasilien. Zudem führen acht
Filmportraits durch die Ausstellung, in denen Menschen aus den
Schwerpunktländern über ihre Geschichte und ihr Leben reflektieren. Der
Begleitband zur Ausstellung liefert kurze Essays zur Vertiefung
einzelner Aspekte der vier Kapitel sowie zahlreiche Abbildungen
ausgestellter Objekte.

Bild:
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/daten/2017/rezausstellungen-259--Abb2--public.jpg>
Abb. 2: Bison im Bereich Einwanderung
© Übersee-Museum Bremen, Foto: Matthias Haase

Am Anfang der Ausstellung steht die Auseinandersetzung mit Immigration
nach Amerika. Hier gibt die Darstellung der Einwanderungsschübe seit
1492 die Perspektive, um die im Folgenden erörterten Phänomene aus
Kultur, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft zu verstehen. Historisch
stehen Immigration aus Europa, Landkonflikte, die Indianerkriege,
Sklaverei und Plantagenwirtschaft in knappen Abhandlungen zur Diskussion
und werden mit vergleichsweise wenigen, aber ausführlich kommentierten
Objekten illustriert. Eine irokesische Perlenstickerei wird
beispielsweise hinsichtlich ihrer einzelnen europäischen und
indianischen Einflüssen entschlüsselt; ein Brandeisen ist nicht nur ein
voyeuristisches Accessoire zur Darstellung der Sklaverei, sondern wird
als Instrument benannter Sklavenbesitzer beschrieben und durch eine
Aufstellung ihrer Vermögensverhältnisse kontextualisiert. Auch die
Objekte aus Mittelamerika erzählen eine gewaltsame Geschichte der
Einwanderung: Masken aus Guatemala verarbeiten Eroberung und Zerstörung
durch die Kolonisatoren im 16. Jahrhundert, Handwerksgegenstände
illustrieren Ausbeutung und zerstörte Lebensgrundlagen.

Das zweite Kapitel der Ausstellung beschreibt die Suche europäischer
Auswanderer nach religiöser Freiheit, um dann Schlaglichter auf
verschiedene Religionen zu werfen. In sämtlichen Abhandlungen betonen
die Kurator/innen Verschmelzungen verschiedener Einflüsse und
Traditionen, was das Religiöse an das vorherige Kapitel bindet. Der Kult
um die Jungfrau von Guadeloupe beispielsweise dient als historisches
Prisma, an dem sich Konjunkturen jahrhundertelanger religiöser und
nationaler Identitätssuche Mexikos erkennen lassen. Vodou-Objekte wie
die kunstvoll verzierten Pakés öffnen den Blick darauf, wie verschleppte
Sklaven in der Karibik spirituelle Praktiken unter dem Deckmantel des
Katholizismus fortsetzten und diese Geschichte der Unterdrückung und
Unterwanderung die soziale Funktion der Religion im heutigen Haiti
prägt. Anhand des Sonnentanzes der Plains-Indianer wird der Kampf um
kulturelle Aneignung in den USA diskutiert. Filmausschnitte aus
Megakirchen, kreationistische Kinderbücher, Spielzeug wie Bibelbingo und
Jesus-Actionfiguren sowie Anti-Darwin-Accessoires repräsentieren
Evangelikale in den USA, während eine Portraitserie sämtlicher Kirchen
im US-amerikanischen Bremen, Indiana, protestantische Lebenswelten
veranschaulicht. Die Ausstellungsmacher/innen betonen anhand der
Kleinstadt im Mittleren Westen die soziale Funktion der Kirche, die sie
mit dem Fehlen eines staatlichen Sozialnetzes begründen und mit einer
monotonen Videoendlosschleifenfahrt durch die Tristesse der Stadt
illustrieren.

Bild:
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/daten/2017/rezausstellungen-259--Abb3--public.jpg>
Abb. 3: Sonnentanzaltar im Bereich Religion
© Übersee-Museum Bremen, Foto: Matthias Haase

Der dritte Bereich "Politik und Gesellschaft" bietet ein Potpourri aus
gesellschaftlichen Impressionen von Nationalfesten, Wochenmärkten,
Highways, Kleidung und mehr. Bei den Besuchern beliebt ist die Vitrine
mit Handfeuerwaffen, die das Second Amendment illustriert. In Bezug auf
Lateinamerika stehen Fragen des gesellschaftlichen Friedens und der
sozialen Gerechtigkeit im Mittelpunkt, die durch Schautafeln zur
US-mexikanischen Grenze und Dollardiplomatie Fragen zum
Nord-Süd-Verhältnis aufwerfen. Den Bezug zu Deutschland und Bremen
stellt die Auseinandersetzung mit der Familie Klee-Ubico als Beispiel
von Machteliten in Guatemala dar. Das einflussreiche Familienbündnis
geht zurück auf das 19. Jahrhundert und den Geschäftsmann und
Generalkonsul der Hansestädte in Mittelamerika Carl Friedrich Rudolf
Klee. Nach Aufbau eines Farbstoff-Handelsimperiums stieg die Familie
später - wie so viele deutsche Einwanderer - in den Kaffeehandel ein,
wovon in erster Linie Bremer und Hamburger Handelshäuser profitierten.
In den 1930er-Jahren ermöglichte die Verbindung mit der Ubico-Familie es
dem Diktator Jorge Ubico Castañeda sich auf ein breites Netzwerk zu
stützen, deren Nachkommen noch heute über politische Posten und
beträchtlichen Landbesitz verfügen.

"Welthandel", das Schlusskapitel der Ausstellung, sucht anhand der
Themen Kaffee, Mais, Soja, Rinderzucht, Erdöl und Silber eine globale
Rahmung und diskutiert inneramerikanische Gefälle und Abhängigkeiten.
Hier ist mit dem Fokus auf Flächenverbräuche, Ökosysteme, Biodiversität
und indigene Lebensgrundlagen die Verzahnung zwischen natur-, volks- und
handelskundlicher Fragestellungen am besten gelungen. Mais in Mexiko
beispielsweise verweist auf die negativen Folgen von NAFTA für die
mexikanische Wirtschaft, auf den symbolischen Wert der Pflanze in der
Mythologie und auf die ökologischen Folgen des Anbaus von Monokulturen.

Zusammengenommen lässt die in weiten Teilen kritische und gelungene
Schau somit ein deutliches Bemühen erkennen, aktuelle Postulate
ethnologischen Ausstellens aufzunehmen. Davon zeugt der sparsame Umgang
mit Objekten bei gleichzeitig mühevoller Kontextualisierung, die
wiederkehrende Verknüpfung des Ausgestellten mit eigener, hier Bremer,
Geschichte, der Versuch, indigene Lebenswelten nicht statisch und in
Isolation, sondern in Aushandlung (beispielsweise mit Europäern) zu
thematisieren sowie die Übertragung der Deutungshoheit über die
gezeigten Objekte an Vertreter ihrer Kultur.

Eines der Probleme der Umsetzung ist allerdings, dass sie in weiten
Teilen nicht zu fesseln vermag. Objekte fremder Kulturen unter Glas
auszustellen, um sie dann mit ausführlichen, schulbuchartig strikten
Interpretationen zu ergänzen, ist ein zu zaghafter wie durchschaubarer
Versuch des Blickwechsels. Damit verbunden ist das altbekannte Problem
(ethnologischer) Ausstellungen, dass Besucher/innen häufig stärker am
Objekt als am Kontext interessiert sind. Diesen Kontrast erlebte ich
beim anschließenden Besuch des Schaumagazins, wo ein Großteil der 1,2
Millionen Objekte aus der Sammlung des Museums auf engem Raum und nur
mit spärlichsten Informationen versehen gezeigt wird - und wo das
Publikum auf einmal begeistert staunte. Ebenfalls eine Kopfgeburt ist
der Versuch einen Perspektivwechsel zu erreichen, indem portraitierte
Amerikaner/innen selbst Auskunft geben dürfen, was für sie das
Entscheidende am Leben in Amerika ist. Die kurzen Statements an den
Wänden der Ausstellung zeigen eine bemühte Vielfalt erwartbarer
Stichworte von Familie, Natur, Selbstverwirklichung zu Armut, Gewalt und
Diskriminierung, ändern in ihrer Oberflächigkeit die Blickachse aber
keineswegs. Die Videoportraits dagegen sind zwar in ihrer Begrenzung auf
acht Personen selektiv und in der Darstellung etwas sperrig, geben aber
in der Tat Deutungsmacht ab. Ernie LaPointe, Urenkel von Sitting Bull,
kann beispielsweise seine - durchaus kontroverse - Interpretation zur
Rolle des Lakota-Häuptlings darlegen und Reservate als
Konzentrationslager bezeichnen, ohne dass Kommentare seinen Auftritt
einhegen.

Was völlig fehlt, ist zudem die Frage nach der eigenen Perspektive. Die
Ausstellung ist insgesamt sehr US-kritisch, was anhand der Themen
vielleicht nicht verwundert, ohne Thematisierung deutscher
Amerika-Faszination und -Klischees und von Antiamerikanismus aber
schablonenhaft wirkt. Möglichkeiten dazu, wie auch zur
Auseinandersetzung mit deutscher Lateinamerika-Romantik, hätte es
zahlreiche gegeben. Allein das Interesse, das Ernie LaPointe bei seinen
Besuchen in Bremen von Presse und Öffentlichkeit entgegengebracht wird,
wäre hierzu eine Steilvorlage gewesen. Zur Verschleierung der eigenen
Perspektive gehört zudem, dass - obwohl seit Jahrzehnten und in
verschiedensten Tonarten an ethnologische Museen herangetragen - der Weg
der ausgestellten Objekte in die Sammlungen kein Thema ist.[1] Dass das
Übersee-Museum momentan an einer eigenen Ausstellung zur Geschichte
seiner Objekte arbeitet, ist zwar zu begrüßen, als Einwand allerdings
etwas schal. Selbstverständlich zielte die Kritik nicht darauf ab, die
Auseinandersetzung mit der Sammlungsgeschichte in Sonderausstellungen
oder Veröffentlichungen auszulagern, sondern die Ausstellungspraxis
selbst zu verändern.

Anmerkung:
[1] Siehe stellvertretend: Christina F. Kreps, Liberating Culture.
Cross-Cultural Perspectives on Museums, Curation and Heritage
Preservation, London 2003.

[Regionalforum-Saar] Barock - Nur schöner Schein ?

Date: 2017/02/10 18:05:43
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Barock - Nur schöner Schein?
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Mannheim, 11.09.2016-19.02.2017
Reiss-Engelhorn-Museen, Mannheim

Katalog: Wieczorek, Alfred; Lind, Christoph; Coburger, Uta (Hrsg.):
Barock - Nur schöner Schein? Mannheim: Schnell & Steiner 2016. ISBN
978-3-7954-3111-2; 232 S.; 34,95 EUR.

Rezensiert für H-Soz-Kult von:
Louis Delpech, Zentrum für Europäische Geschichts- und
Kulturwissenschaften, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
E-Mail: <louis.delpech(a)zegk.uni-heidelberg.de>

Was haben ein Himmelsglobus von 1601, die Frankfurter Ausgabe von
Galileis "Sidereus Nuncius" aus dem Jahr 1610, ein Grundstückregister
der Stadt Mannheim von 1663, eine Meißner Teedose der 1720er-Jahren,
eine Brille mit grünen Gläsern und eine Kutschenuhr aus dem 18.
Jahrhundert miteinander zu tun? Dieses Sammelsurium könnte zwar aus dem
Inventar einer Wunderkammer des späten 18. Jahrhunderts kommen, aber
derzeit und noch bis zum 19. Februar 2017 werden diese sechs Objekte
zusammen mit vielen anderen in einer Sonderausstellung in den
Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim gezeigt. Die sehr gut besuchte und in
der Presse einhellig gefeierte Ausstellung soll laut der
Präsentationsbroschüre "die Epoche erstmals in ihrer ganzen
Vielschichtigkeit" vorstellen und damit beweisen, dass der Barock nicht
nur grandiose Paläste, pompöse Fürsten, üppige Frauen oder glänzende
Bilder zu bieten hatte, sondern auch eine Zeit voll seltsamer und
heterodoxer Erfindungen, sozialer Widersprüche und geistiger Spaltungen
war.

Die zu entdeckenden Rück- und Schattenseiten des Barock werden hier in
sechs Bereiche aufgeteilt, die weniger bekannte Facetten der Epoche
aufdecken sollen: Raum, Körper, Wissen, Glaube, Ordnung und Zeit. Zwar
werden die neuesten Tendenzen der historischen Forschung leider an
keiner Stelle von den Kuratoren ausdrücklich thematisiert, doch ist ihr
Einfluss trotzdem an mehreren Stellen sichtbar: die Thematik einer
frühen Globalisierung oder einer Eroberung des Raumes im ersten Bereich
weist auf eine Art von Global History hin, der Bereich über den Körper
wird offenbar stark von den Gender Studies beeinflusst, und die jüngsten
Entwicklungen der Wissensgeschichte - mit einem wachsenden Interesse für
konkurrierende, gesellschaftlich produzierte und manchmal okkulte Formen
von Wissen - sind im Bereich "Wissen" treffend abgebildet. In jedem
Kapitel der Ausstellung werden zahlreiche Gemälde, Bücher und Objekte
vorgestellt, die größtenteils aus den Sammlungen der Mannheimer
Reiss-Engelhorn-Museen, der Universitätsbibliothek Heidelberg und des
Kunsthistorischen Museums in Wien kommen. 

Auch wenn die dunkle Seite der Epoche hier im Mittelpunkt stehen soll,
wäre es vielleicht wünschenswert, dass die Säle nicht allzu sehr in
einem barocken Chiaroscuro gehalten und die Texte wie auch einige Werke
besser ausgeleuchtet wären, damit Besucher nicht auf die Idee kommen
müssen, mit iPhone als Beleuchtung durch die Ausstellung zu gehen. Aus
der Wiener Sammlung kommen zweifellos einige der schönsten Werke der
Ausstellung - unter anderem ein atemberaubendes Gemälde von Rembrandt,
auf dem der Apostel Paulus sich aus dem Schreiben zu den Zuschauern
hinwendet, ein manieristischer Engelssturz des Cavaliere d'Arpino, eine
lesende Frau von Rubens und eine badende Susanne mit den Alten von Jacob
Jordaens, die ein interessantes Pendant zu den Werken von Tintoretto
oder van Dyck bietet. Die Kopie des Heiligen Sebastian von Guido Reni,
ebenfalls aus Wien, ist auch wunderschön, hätte aber in die christliche
Tradition eines 'süßen Leidens' und einer impliziten Sublimierung von
homosexuellen und sadomasochistischen Tendenzen besser eingeordnet
werden können.

Insgesamt ist die Ausstellung somit sehr innovativ gestaltet: Ihr
Material besteht nicht nur aus kanonischen Meisterwerken der
Kunstgeschichte, sondern auch aus manchen gedruckten Quellen, Büchern,
Flugblättern oder Kupferstichen, sowie aus schönen oder schrecklichen,
gewohnten oder unheimlichen Objekten der Zeit. Viele spannende und in
klassischeren Ausstellungen kaum zu sehende Exponate werden dem
Zuschauer vorgestellt: natürlich manche exotisierende Meißner und
Frankenthaler Porzellane aus den Mannheimer Sammlungen, sehr schöne
Himmels- und Erdgloben, ein Reiseschreibtisch des Herzogs von
Sachsen-Meiningen, eine Miniatur der Grabeskirche in Jerusalem, aber
auch ein frühes Mikroskop von Antoni van Leeuwenhoeck oder ein kurioser
Christus anatomicus, der eine scheinbar harmlose und orthodoxe
Frömmigkeitspraxis mit dem Interesse an menschlicher Anatomie
überraschend kombiniert.

Einige Kunstwerke aus den letzten Jahren, die mit barocken Klischees
oder Techniken spielen, werden überzeugend als zeitgenössische Pendants
vorgestellt. Ihre Ausstellung inmitten der anderen Werke hat
wahrscheinlich einen (gelungenen) Verfremdungseffekt zum Ziel, bleibt
aber oft etwas unreflektiert und von daher problematisch: Was heutige
Künstler mit dem Barock machen ist einerseits (auch qualitativ) sehr
heterogen und sollte nicht unbedingt auf derselben Ebene wie die
historischen Werke gezeigt werden. In jedem Raum stehen auch kleine
Stände, an denen Kinder mit Gewürzen aus der Neuen Welt oder Mikroskopen
dem Spaß und der Freude am Experimentieren freien Lauf lassen können.
Eine multimediale Erfahrung wird zudem durch Musikbeispiele geboten, die
an bestimmten Punkten der Ausstellung über Kopfhörer angehört werden
können. Insgesamt bemühen sich die Präsentationstexte offensichtlich,
den Zuschauer nicht zu sehr mit Daten, Fakten oder langen didaktischen
Erklärungen anzustrengen. Nach dem Motto "Barock muss nicht langweilig
sein" stellt diese Ausstellung einen lobenswerten Versuch dar, Kunst zu
demokratisieren und Wissen zu popularisieren.

"Barock - Nur schöner Schein?": Es bleibt allerdings die Frage, ob eine
provokant anmutende rhetorische Frage ohne Weiteres als Konzept für die
Zusammenstellung von allerlei Objekten und Kunstwerken ausreicht, oder
ob aus mangelnder Historisierung und Kontextualisierung hier nicht
vielmehr das Risiko entsteht, vermeintlich alte Vorurteile durch neuere,
aber ebenfalls unbegründete und pauschale Klischees zu ersetzen. Es ist
in der Tat sehr auffällig und oft verwirrend, dass sowohl die Kommentare
als auch die Anordnung der Werke und Objekte sich offenbar jenseits von
Chronologie und Geographie bewegen, mit nur seltenem Bezug auf konkrete
Akteure oder Ereignisse - also auf einer konzeptuellen Ebene, die extrem
breite Themen schön und leicht berührt, aber dafür jede Art von klarer
Kontextualisierung oder nuancierter Periodisierung verweigert, und
schließlich alle Regionen, Sprachen, Kulturen, Ereignisse und Perioden
in einen allgemeinen Diskurs zwingt. Dieser konzeptuelle Mangel ist an
mehreren Stellen sichtbar.

Schon der chronologische Rahmen der Ausstellung - die gesamte Zeit von
1580 bis "ca." 1770, wie man im ersten Raum erfährt, ohne irgendeine Art
von geographischer Abgrenzung - ist unbequem und kann kaum mit dem
Etikett 'Barock' konsequent erfasst werden. Dass das Barockzeitalter
erst im 19. Jahrhundert erfunden wurde, nicht nur vom europäischen Adel
bestimmt war und eine Myriade von Realitäten umfasst, wäre eigentlich
als Schulwissen zu erwarten. Um diesen Begriff wirklich dekonstruieren
zu können, bräuchte der Zuschauer aber eine differenzierte Reflexion
über prägnante Ereignisse, lokale Konstellationen, intellektuelle oder
künstlerische Tendenzen, sowie über andere, ebenfalls problematische
Begriffe oder mögliche Gegenmodelle - wie zum Beispiel 'Renaissance',
'Aufklärung' oder 'frühe Neuzeit'. Der reichliche Gebrauch von
Anführungszeichen in den Kommentaren - eine "barocke" Figur, ein
"barockes" Thema - lässt sowohl das Unbehagen der Kuratoren am Begriff
erkennen als auch ihre Unfähigkeit, ihn zu überwinden. Das Ergebnis ist
ein in mancher Hinsicht recht unverdauliches Patchwork von Werken, die
wenig miteinander zu tun haben, außer vielleicht den praktischen
Kontingenzen der Ausstellung.

Problematisch ist leider auch der Platz der Musik in der Ausstellung:
ein paar zumeist sehr berühmte Musikwerke werden hie und da als
Hörproben zur Verfügung gestellt, ohne jegliche Erklärung zu
Entstehungskontext oder Rezeptionsgeschichte. Auch wenn sich Musiker und
Musikwissenschaftler an die Idee haben gewöhnen müssen, dass die
klassische Musik mehr und mehr als Geräuschkulisse für kulturelle
Ereignisse fungieren muss, wird man wohl zugeben müssen, dass Claudio
Monteverdi, François Couperin oder Georg Friedrich Händel kaum ohne
Weiteres als Vertreter einer einheitlichen Musikbewegung gesehen werden
sollten und ihre gemeinsame Präsenz in der Ausstellung zumindest eine
kurze Erklärung verdient hätte. Es ist zu bedauern, dass ausgerechnet
die Mannheimer Schule, die sich während der Regierungszeit des
Kurfürsten Carl Theodor in der Zusammenarbeit vieler europäischer
Musiker entwickelte und in der Musikgeschichtsschreibung sehr oft als
Muster einer sogenannten Übergangsphase zwischen Barock und Klassik
diskutiert wird, hier in Mannheim völlig unerwähnt bleibt, obwohl sie
eine sehr gute Gelegenheit für eine Problematisierung des Begriffs
'Barock' geboten hätte.

Auf formaler Ebene ist auch die Entscheidung zu beklagen, einige Werke
nur in Form von photographischen Reproduktionen zu zeigen. Das betrifft
unter anderem das Gemälde einer Regensburger Kunstkammer von Joseph
Arnold aus dem Ulmer Museum, das hier nur als Photographie in einer
schockierend schlechten Auflösung gezeigt wird - obwohl das Thema des
Bildes womöglich ein guter Leitfaden der Ausstellung hätte sein können:
Wo und wann erscheinen erstmals solche Wunderkammer? Inwieweit können
sie als Versuch verstanden werden, die Geheimnisse einer erschlossenem
Welt zu domestizieren? Was verraten sie über die Weltanschauung, die
gesellschaftliche Stellung und die wissenschaftliche Ansprüche ihrer
Besitzer? Derartige Fragen werden hier allerdings noch nicht einmal
gestellt.

Das intellektuelle Projekt dieser Ausstellung ist damit zwar reizend und
spannend, seine praktische Umsetzung aber letztlich nicht befriedigend.
Statt sich dezidiert mit den jüngsten Tendenzen der Historiographie
auseinanderzusetzen und die Komplexität des Zeitalters anhand konkreter
und gut kontextualisierter Beispiele zu zeigen, produziert die
Ausstellung einen eher pauschalen und unhistorischen Diskurs über
vermeintliche Merkmale einer Epoche, die nicht gründlich definiert und
hinterfragt wird. Hinter solchen Schwierigkeiten verbergen sich
letztlich die Gefahren einer Kulturwissenschaft, die sich zu stark von
der Geschichte löst.

[Regionalforum-Saar] Bohnentaler Heimathefte, Nr. 6/2016 erschienen

Date: 2017/02/12 10:48:18
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Im Mehrzweckraum der ehemaligen Schule Scheuern wurde das neue Heimatheft des historischen Vereines Bohnental der Öffentlichkeit vorgestellt. Viele Gäste, darunter der Schmelzer Bürgermeister Armin Emanuel, die Tholeyer Beigeordnete Elisabeth Biwer als Vertretung für den verhinderten Bürgermeister Hermann Josef Schmidt, viele Ortsvorsteher aus dem Bohnental und Vertreter der befreundeten historischen Vereine der Umgebung, konnte der 1.Vorsitzende Edwin Warken zur Heftvorstellung begrüßen. Der ehemalige Redakteur des Saarländischen Rundfunkes Arno Jos Graf hatte die Aufgabe übernommen, die 7 Beiträge des 6.Bohnentaler Heimatheftes dem interessierten Publikum vorzustellen.

Den 1. Beitrag des Ehepaares Dr. Maria und Thomas Blesse über die historischen Karten des Bohnentales und der Umgebung auf über 40 Seiten bescheinigte er eine besonders gute Arbeit bezüglich der Beschreibung und Sortierung der alten Karten vom 15.Jahrhundert bis 1878.

Beitrag 2 vom bereits verstorbenen Ignatz Dieudonné, ehemaliger Ortsvorsteher in Scheuern von 1984- 94, ist ein Manuskript, das er noch zu Lebzeiten geschrieben hat und in Teilen schon im Heimatheft Nr. 4 aus 2008 veröffentlicht ist. Josef Brachmann hat es überarbeitet und auf den neuesten Stand gebracht. Der Beitrag beschäftigt sich mit der Saarpolitik und dem Zeitgeschehen von 1814 bis heute. Hauptsächlich wird die Zugehörigkeit der Bohnentalorte zur Amtsbürgermeisterei Tholey und dem Kreis Ottweiler untersucht.

Im Beitrag 3 „Vom Bauern zum Bergmann: Arbeits- und Lebensverhältnisse“ von Alois Johann untersucht und beschreibt er die Situation der Menschen im Bohnental. Viele Fragen, die sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgetan haben, versucht er zu beantworten. Warum gab es so viel Armut und Hungersnot, wie sollten die Menschen dem entgegen wirken? Jos Arno Graf konnte beispielhaft an Hand von Erzählungen und Erlebnissen seines Großvaters, der auch Bergmann in dieser Zeit war, diese Armut und Abhängigkeit bestätigen Missernten, Kleinparzellierung, karge Böden und Überbevölkerung waren Ursachen der Armut in unserem Land. Viele Bewohner sahen nur die Möglichkeit, ihr Hab und Gut zu verkaufen und in fremde Länder, wie Nord- u. Südamerika, auszuwandern. Allein aus dem Bohnental waren das mehr als 35 Familien und 55 Einzelpersonen, die Alles hinter sich ließen und in einem neuen Land von vorne anfingen.

Gottseidank gab es für die Daheimgebliebenen zunehmend Arbeit auf den immer größer werdenden Steinkohlengruben und Hüttenwerken im südlichen Saarland. Aber welche Strapazen, Schikanen durch Preußenbeamten, Lebensbedingungen, Gefahren und sozialen Problemen damit verbunden waren, kann sich heute keiner mehr vorstellen. Es gab keinen 8-Stundentag, normalerweise wurde an 300 Tagen im Jahr von Montag bis Samstag zwischen 10 und 12 Stunden gearbeitet. Einen Arbeitsschutz wie heute kannte man nicht. Wer weiß denn schon, daß von 1846 bis 1986 mehr als 1132 Bergleute durch Grubenunglücke und allein von 1935 bis 1997 noch 1640 Menschen durch Unfälle im Bergbau im Saarland ums Leben kamen. Starke Gewerkschaften, die es heute gibt und die sich um die Belange der Arbeitnehmer kümmern, waren nicht vorhanden.

Beitrag 4 von Josef Brachmann beschäftigt sich mit der Geschichte der St. Barbara-Bruderschaft Bohnental „einer christlich-sozialen Solidargemeinschaft im Lichte des ausgelaufenen Bergbaus“ von der Gründung 1880 bis zur Auflösung im Jahre 2010. Der Zweck und die Gründung werden hier ausführlich beschrieben.

Josef Brachmann beschreibt im Beitrag 5 den geschichtlichen Ablauf des Bergbaus an der Saar von den Anfängen bis zur Schließung des letzten Bergwerks Saar am 30.06.2012. Am Ende seines Beitrages gibt er auch noch Informationen zum neuen Wahrzeichen auf der Bergehalde in Ensdorf. Der Verein „Bergbauerbe Saar“ hat das neue Saarpolygon, wie es genannt wird, im Jahre 2016 aufbauen lassen und im Herbst des letzten Jahres wurde es eingeweiht. „Heute ist es selbstverständlich, wenn man den Wasserhahn aufdreht, daß ein sauberes und hygienisch einwandfreies Grundnahrungsmittel dort heraus kommt“, so ArnoJos Graf zur Einleitung zum 6. Beitrag, der sich mit der Wasserversorgung der Bohnentalorte befasst. Rüdiger Holz aus Hasborn beleuchtet zuerst die Entstehung des Wasserzweck-verbandes Bohnental, wie sie seit 1951 gewachsen ist. Holz beschreibt auch die Situation mit Keimbelastungen und deren Abhilfeschaffung durch Chloranlagen im Bohnental. Letztendlich führt es zur Aufgabe der Frischwasserbrunnen im Bohnental und zum Anschluss 1972 an die Wasserversorgung Ost im östlichen Saarland. In den einzelnen Beiträgen von Edwin Warken und Alois Johann wird die Wasserversorgung über Brunnen und Pütze bis zur Sammel-versorgung in den Ortschaften und den späteren Anschluss an größere Gebietseinheiten dargestellt. Den Abschluss des Heimatheftes bildete ein Vortrag von Bürgermeister Hermann Josef Schmidt „Ich bin ein Scheuerner Rentner – ich hab` Zeit“, den er aus Anlass eines Seniorentages in Scheuern im Jahre 2012 gehalten hat. Musikalisch wurde der Abend von den „Großen des Jugendchores der Pfarreiengemeinschaft Schmelz“ unter der Leitung von Reiner Vogel gestaltet.

Das Heft ist für 10 €uro beim 1.Vorsitzenden Edwin Warken, Tel. 06888/8641 zu erwerben.

Quelle: https://www.bohnental.de/abc_print.php?id=4507

[Regionalforum-Saar] echanger des informations en francais

Date: 2017/02/12 15:31:00
From: maryse rupp <maryse.rupp(a)sfr.fr>

[Regionalforum-Saar] Die Peutinger Tafel in Neuauflage in einem Buch mit Kartenteil

Date: 2017/02/12 23:26:23
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Guten Abend,

wer vielleicht meint, das Buch sei mit 199 Euro teuer - nun, der schaue sich die Karten an.
Ich habe für meine Ausgabe vor 20 Jahren gut 200 Mark bezahlt, wobei allerdings jedes Kartenblatt in Originalgröße abgebildet ist. Etwas sperrig.
Aber ich noch heute immer fasziniert davon. Eins der Bücher, die mich immer Zeit kosten - das andere ist Ballards Buch über die Titanic.

Roland Geiger

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Rathmann, Michael: Tabula Peutingeriana. Die einzige Weltkarte aus der
Antike. Darmstadt: Philipp von Zabern Verlag 2016. ISBN
978-3-8053-4999-4; 112 S.; EUR 199,00.

Rezensiert für H-Soz-Kult von:
Frank Schleicher, Institut für Altertumswissenschaften,
Friedrich-Schiller-Universität Jena
E-Mail: <Frank.Schleicher(a)uni-jena.de>

Es ist nicht selbstverständlich, dass in unserer Zeit, die doch
weitgehend durch elektronische Dokumente geprägt ist, ein solches Buch
erscheint. Die Forschung zur Tabula Peutingeriana hat zwar eine lange
Tradition, und es sind auch einige Werke erschienen, die dem Leser
maßstabsgetreue Abbildungen der Karte bieten. Heute sind solche Werke
jedoch wegen der hohen Herstellungskosten und der damit verbundenen
geringen Anzahl gedruckter Exemplare oft nur noch schwer zu greifen.[1]
Umso erfreulicher ist es da, dass Michael Rathmann nicht die Ansicht
Richard Talberts teilt, der noch vor sechs Jahren meinte, eine gedruckte
Ausgabe der Kartenteile sei heute nicht mehr nötig, weil doch die
elektronische Bereitstellung vorteilhafter und günstiger sei.[2] Mit dem
vorliegenden Band will Rathmann im Gegenteil dem Leser den ästhetischen
Genuss bereiten (S. 31), den nur die Betrachtung gedruckter Karten
bieten kann. Außerdem wird die Tabula durch diese Publikation einer
breiten Öffentlichkeit zugänglicher.[3]

Das Buch besteht aus zwei Teilen: einer Einführung und dem Kartenteil.
Obwohl die Ausgabe keinen wissenschaftlichen Kommentar bietet, ist die
Einleitung doch solide und fundiert. Zunächst beschreibt Rathmann die
Handschrift selbst und deren Geschichte seit dem 'Fund' zu Beginn des
16. Jahrhunderts (S. 6-8). Hier findet sich eine beeindruckende Collage
der heute getrennten Pergamentblätter in verkleinerter Form, die einen
Eindruck von den Dimensionen der Karte vermittelt. Im zweiten Abschnitt
(S. 8-12) verortet der Autor die Tabula in der antiken
Kartographiegeschichte, wobei auch die Forschungsdiskussion zum Thema
Berücksichtigung findet. Rathmann löst sich hier von der traditionellen
Vorstellung, die Tabula beruhe auf der berühmten Weltkarte des Agrippa,
um im folgenden Abschnitt (S. 12-14) seine eigene Theorie ausbreiten zu
können. Hier präsentiert er die Ergebnisse seiner Forschungen der
letzten Jahre und zeigt, dass die Tabula auf Vorgänger aus
hellenistischer Zeit zurückgeht.[4] Diese These hat sich in den letzten
Jahren in der Forschung zunehmend durchgesetzt.

Im vierten und fünften Abschnitt (S. 15-17) ordnet der Autor die Tabula
in die antike Geographiegeschichte ein. Die zentrale Aussage ist hier,
dass es sich nicht um ein selbstständiges Kartenwerk handelt, dass der
antiken Geographie entstammt, sondern um eine Illustration zu einem
chorographischen Text. Der sechste Abschnitt (S. 16-20) präsentiert
neuere Funde, durch die sich das Wissen um die Tabula ergänzen lässt.
Besonders prominent ist hier die Karte des Pellegrino Prisciani
(1435-1518). Diese basiert nämlich auf einer cosmographia vetustissima,
die jener im Vorzimmer des Bischofs von Padua gesehen hatte (S. 18).
Allem Anschein nach hat es sich hier um eine Karte vom selben Typ wie
die Tabula Peutingeriana gehandelt. Im 15. Jahrhundert gab es also noch
mehrere solche Karten. Im siebten Abschnitt (S. 20-25) behandelt
Rathmann die Veränderungen, die die Tabula durch das fortwährende
Kopieren erfahren hat. Im Zuge dieses Reproduktionsprozesses veränderten
sich die Beschriftungen auf der Karte. Immer mehr Hellenistisches ging
verloren und neue oder veränderte Informationen wurden hinzugefügt, bis
die Karte um 435 ihre letzte antike Redaktion erfuhr. Der kurze achte
Abschnitt (S. 26) fragt danach, wer in der Antike eine solche Karte
besessen hat. Rathmann glaubt, dass es vor allem Senatoren waren, in
deren Bibliotheken sich solche Karten befanden.[5] Nicht für die
öffentliche Präsentation, sondern den privaten Gebrauch seien solche
Karten geschaffen worden.[6]

Der neunte Abschnitt (S. 27-29) behandelt die Techniken, mit denen die
Karte gezeichnet wurde. Hier versucht der Autor die verzerrte
Darstellung zu erklären und mittels 'Achsen' eine Systematik in die
Karte zu bringen. Zudem erklärt er, warum sich im Laufe der Zeit die
Beschriftung zwar veränderte, die gezeichnete Karte aber weitgehend
gleichblieb. Im zehnten Abschnitt (S. 29f.) behandelt der Autor
schließlich das Straßennetz. Er kann einige Belege dafür anbringen, dass
an der Tabula mehrere Zeichner und Schreiber gearbeitet haben, sie also
nicht das Werk eines einzelnen Kopisten war. Abschnitt elf (S. 30f.)
beschäftigt sich dann mit den Vignetten. Bisher sind alle Versuche
gescheitert, historisch zu erklären, warum die Vignetten mancher Städte
(etwa Antiochia oder Thessalonica) so groß ausfallen, während andere
bedeutende Orte (etwa Mailand oder Trier) nicht in dieser herausragenden
Form verzeichnet sind. Der Autor bringt diese nun mit seiner Theorie
einer stufenweisen Entwicklung der Beschriftung von der hellenistischen
Zeit bis in die Spätantike zusammen und glaubt damit eine mögliche
Erklärung gefunden zu haben: Im Laufe der Antike hatten zahlreiche
Städte ihre 'große Zeit', die sich durch entsprechend große Vignetten
auf der Tabula manifestierte (S. 31). In jeder Stufe konnten Orte
beibehalten oder auch weggelassen werden. Ein letzter kurzer zwölfter
Abschnitt (S. 31) geht schließlich noch auf die mittelalterlichen
Kopisten ein. Diese hatten das Material ihrer Vorlage wohl exakt
dimensioniert, dass die Zeichnung 1:1 übertragen werden konnte.
Interessant ist hier die Beobachtung, dass die Qualität und Sorgfalt der
Kopisten von Westen nach Osten abnahm.

Der zweite, umfangreichere Teil des Buches enthält Abbildungen der
Karteteile (S. 33-99). Da ein Abdruck der einzelnen Pergamentblätter im
Ganzen für heutige Buchformate nicht möglich ist, wurden sie jeweils
gedrittelt. Jedes Teil nimmt eine Doppelseite in Anspruch, wobei immer
auf der rechten Seite die Farbaufnahme und auf der linken eine
monochrome Version mit einigen Kommentaren gegeben wird. Zur
Orientierung des Lesers, gibt es in der linken unteren Ecke einen
Apparat, der anzeigt, auf welchem Blatt und in welchem Drittel man sich
jeweils befindet. Die Abbildungen sind von sehr guter Qualität. Neben
der linken Karte befindet sich jeweils eine Spalte mit Namen und
Plätzen, die mit Linien auf Angaben in der Tabula verweist. Die
Erklärungen zu nicht bezeichneten topographischen Elementen geben nur
den heutigen Namen, jene zu Städten enthalten den auf der Tabula
verzeichneten Namen und - sofern es einen solchen gibt - auch den
modernen Namen der Stadt. Die Auswahl der angemerkten Orte erscheint dem
Rezensenten etwas zufällig und folgt wohl nur der Absicht, die Spalte zu
füllen, ohne dass sich die Linien auf der Karte kreuzen. Dem Tafelteil
folgt ein Anhang mit einigen Endnoten, einer knappen Bibliographie und
den Indices (S.102-112).

Das Ziel des Buches ist es, die Tabula Peutingereiana "nach ihrer
Restaurierung einer breiten Öffentlichkeit bequem zugänglich zu machen
und einleitend zentrale Aspekte dieses wunderbaren Dokumentes zu
erläutern" (S. 31). Dieses Ziel wird voll erfüllt. Der Einleitungsteil
ist auf der Höhe der aktuellen Forschung, aber leserfreundlich verfasst.
Für eine wissenschaftliche Beschäftigung mag er zu knapp sein, aber dem
an der Tabula interessierten Laien sowie Studenten bietet er einen guten
Einstieg. Eine etwas ausführlichere Behandlung der Forschungsgeschichte
hätte diesen aber noch erleichtert. Wichtiger als der Text sind in
diesem Band aber natürlich die Bilder. Der Tafelteil ist eindrucksvoll
und lädt zu intensiver Betrachtung ein. Die Karten sind nahezu in
Originalgröße abgedruckt. Die Drittelung der Blätter macht die einzelnen
Abschnitte zwar übersichtlicher, lässt das Dokument aber weniger
eindrucksvoll erscheinen. Auch die Bilder im Textsteil sind von
ausgezeichneter Qualität. Haptisch ist das Buch durch das große Format
aber ein Erlebnis.[7] Das Fazit des Rezensenten: Ein sehr schönes Buch
für den Laien, dass aber wegen der klaren Darstellung durchaus auch für
die Lehre nützlich ist.


Anmerkungen:
[1] Hier wäre aus der jüngeren Forschung vor allen Ekkehard Weber,
Tabula Peutingeriana. Codex Vindobonensis 324, Graz 1976 (mit separatem
Kommentarband) und Annalina Levi / Mario Levi, Tabula Peutingeriana,
Bologna 1978 (mit der Tabula in Form einer Rolle) zu nennen.
[2] Richard J. A. Talbert, Rome's World. The Peutinger Map Reconsidered,
Cambridge 2010, S. xiv.
[3] So praktisch für den Wissenschaftler auch die Werkzeuge sind, die
z.B. die elektronische Publikation Talberts bietet
(<http://peutinger.atlantides.org>), muss man doch genau wissen, was man
sucht, um diese zu finden. Generell ist fraglich, wie lange solche
Publikationen zugänglich sind. Schon heute lässt sich der Betrachter
nicht in jedem Browser benutzen und wer kann schon sagen, wie lange die
Kosten und die Pflege der Internetseite sichergestellt werden.
[4] Die Idee wurde erstmals von Friedrich Gisinger, Art. Peutingeriana,
in: RE XIX 2 (1938), Sp. 1405-1412, hier Sp. 1408ff. geäußert.
[5] Dass in größeren Bibliotheken solche Karten vorhanden waren, lassen
auch chorographische Beschreibungen, wie sie beispielsweise Prokop und
Photius geben, vermuten, z.B. Phot. bibl. cod. 63 zu Prokop (BP 1, 10):
"Das Taurusgebirge in Kilikien durchquert erst Kappadokien, Armenien,
Persarmenien, Albanien, Iberien und all die anderen unabhängigen Reiche,
die unter die Herrschaft Persiens kamen. Genau über den Grenzen Iberiens
ist ein schmaler Pfad um die 50 Stadien Länge, [...] , der in alten
Zeiten das Kaspische Tor genannt wurde."
[6] Anders Talbert, der in der Vorlage der Tabula eine Wandkarte aus dem
Kaiserpalast des Diokletian sieht: Talbert, World, S. 133.
[7] Ein kleiner Fehler fiel dem Rezensenten auf S. 7 auf, wo auf Abb. 3
verwiesen wird, obwohl Abb. 2 gemeint ist.



[Regionalforum-Saar] Abseits der Geschichte. Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg in Ortschroniken

Date: 2017/02/13 22:26:09
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Thomaschke, Dirk: Abseits der Geschichte. Nationalsozialismus und
Zweiter Weltkrieg in Ortschroniken (= Formen der Erinnerung 60).
Göttingen: V&R unipress 2016. ISBN 978-3-8471-0536-7; 356 S., 4 Abb.;
EUR 50,00.

Rezensiert für H-Soz-Kult von:
Mathias Beer, Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde,
Tübingen
E-Mail: <mathias.beer(a)idgl.bwl.de>

Ortschroniken und Heimatbücher gehören zu den markantesten Genres eines
breiten Spektrums an Publikationen, die unter dem Oberbegriff
"heimatgeschichtliche Literatur" zu fassen sind. Dabei stehen nicht
Städte, sondern überschaubare Gemeinschaften im Mittelpunkt, meist die
Geschichte und Gesellschaft eines Dorfes oder einer Gemeinde. Selbst
wenn es nicht möglich ist, die Zahl solcher Veröffentlichungen für den
deutschsprachigen Raum einigermaßen genau zu beziffern, gibt es
zuverlässige Indizien dafür, dass sie sich, wenn auch Konjunkturen
unterworfen, seit rund eineinhalb Jahrhunderten einer massenhaften
Verbreitung erfreuen. Ihre große Popularität und nicht hoch genug
einzuschätzende Wirkung auf die Geschichtskenntnisse und
Geschichtsbilder von Laien hält bis in die Gegenwart an - und wohl auch
in der Zukunft.

Im Kontrast zur Verbreitung und Wirkungsmacht steht die lange Zeit
fehlende wissenschaftliche Aufmerksamkeit, die diese in ihren
Erscheinungsformen heterogene, in ihrer Zielsetzung, Struktur und
Rezeption jedoch eher homogene Form populärer Geschichtsschreibung
erfahren hat. Erst 2010 erfolgte eine nähere Bestandsaufnahme der
Geschichte, Methodik und Wirkung von Heimatbüchern.[1] Sie war mit dem
Plädoyer verbunden, das Heimatbuch nicht bloß als eine gegenüber der
akademischen Geschichtsforschung defizitäre Form der Auseinandersetzung
mit der Vergangenheit zu sehen, sondern als eigene, durch spezifische
Merkmale gekennzeichnete Schriftenklasse - eine Form der
Lokalgeschichtsschreibung von geschichtswissenschaftlichen Laien.

Dieses Desiderat der Forschung greift der Oldenburger Historiker Dirk
Thomaschke in seiner lesenswerten Studie auf. Dabei vertritt er die zu
hinterfragende These, dass sich in der Bundesrepublik (erst) in den
späten 1970er-Jahren - und nach der Wiedervereinigung auch in den neuen
Bundesländern - mit den Ortschroniken und Heimatbüchern ein
eigenständiges Genre der Geschichtsschreibung herausgebildet habe (S.
8). Um dessen Stellenwert als erinnerungskulturelles Phänomen zutreffend
einzuschätzen, so sein nachvollziehbares Argument, genüge es nicht, die
disziplinäre Perspektive der Geschichtswissenschaft bei der
Beschäftigung mit der Vergangenheit anzusetzen. Deshalb fragt der Autor
fokussiert auf zwei Aspekte - die Darstellung des Nationalsozialismus
und des Zweiten Weltkriegs, auf die sich ein Großteil der Fachkritik an
den Ortschroniken konzentriert - nach den Prinzipien, die für die
Konstruktion von Geschichte in Ortschroniken maßgeblich sind. Thomaschke
geht es nicht um Anklage oder Entlastung. Ihn interessieren vielmehr die
historiographischen Mechanismen, die den besonderen Umgang mit der NS-
und Kriegsgeschichte in den Ortschroniken erklären können. Das Ziel, die
Eigenlogik von Form, Inhalt, Entstehung und Verwendung solcher
Historiographie grundsätzlich zu bestimmen (S. 11), ist mit dem hohen
Anspruch verbunden, Ortschroniken und Heimatbücher erstmals in einem
landesweiten Vergleich für den gesamten Zeitraum der Bundesrepublik und
auch der DDR zu analysieren (S. 9). Darüber hinaus versteht sich die
Studie als Beitrag zur Erforschung lokaler Erinnerungskulturen an den
Nationalsozialismus.

Der Leitfrage entspricht die überzeugende Struktur der neben Prolog und
Fazit in sechs Kapiteln gegliederten Arbeit. Sie greift maßgeblich auf
rund 250 arbiträr ausgewählte Ortschroniken zurück, die in ihrer
Mehrheit nach 1945 entstanden sind, wobei Publikationen seit den späten
1980er-Jahren überwiegen. Ergänzend und punktuell werden auch einige
wenige Archivbestände zur heimatgeschichtlichen Lokal- und
Regionalforschung herangezogen. In beiden Fällen ist trotz des
gesamtdeutschen Anspruchs ein mittel- und norddeutscher Schwerpunkt der
Arbeit unübersehbar.

Die beiden ersten umfangreichen Kapitel - "Ortschroniken als Genre" -
gehen der grundsätzlichen Frage nach, was eine Ortschronik ist. Dabei
werden mit der schwierigen Begriffsbestimmung, dem Inhalt, den Autoren,
der Entstehung und den Quellen einerseits formale und andererseits
inhaltliche Kriterien verwendet. Die Befunde bestätigen Bekanntes:
Ortschroniken, deren Thema in der Regel das Dorf, die Gemeinde, nicht
eine Stadt ist, fehlt verglichen mit geschichtswissenschaftlichen
Arbeiten eine allgemeinhistorische Frage. Sie schreiben Lokalgeschichte
vom Ursprung bis in die Gegenwart, wobei dem Kontext, wenn er nicht ganz
ausgeblendet wird, ein Tapeten-Effekt, eine Funktion als Staffage
zukommt. Der Aufbau dieser Publikationen ist unsystematisch, ihr Inhalt
eine eklektische Inventur im Dienst einer Ruhmeshalle der
Dorfgemeinschaft. Sie bündeln Ergebnisse von Autoren, die das Festhalten
von Miterlebtem in der Ortschronik als Gemeinschaftsaufgabe verstehen.
Thomaschke bringt es (nicht nur in diesem Fall) klar auf den Punkt:
"Statt die Geschichte des Dorfes zu schreiben, schreiben Heimatbücher
[eine bestimmte] Geschichte in das Dorf." (S. 76)

Vor diesem Hintergrund werden in den zentralen, insgesamt gut 100 Seiten
umfassenden zwei folgenden Kapiteln die Darstellungen von
Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg in den Ortschroniken sowie
deren Kontinuität und Wandel bis weit in die 1970er-Jahre thematisiert.
Nachvollziehbar wird gezeigt, wie die allgemeinen Merkmale des Genres
auch die Art und Weise des Umgangs mit der Kriegs- und Nachkriegszeit
bestimmen. Zentral ist dabei die bemühte Trennung von Dorf und Umwelt.
Der geographischen entspricht eine angebliche historische
Abgeschiedenheit der Dorfgeschichte. Wenn die "große" Geschichte in den
Ortschroniken vorkommt, dann in der Regel als unvermeidlicher Einbruch
einer schicksalhaften Katastrophe. Der scheinbaren Passivität des
Lokalen entsprechen die Politisierung der Dorfgemeinschaft von außen,
die "Verführung" und der "Missbrauch" durch den Nationalsozialismus, die
Externalisierung der Täter, die Ortsfremdheit überzeugter
Nationalsozialisten, die Widerständigkeit des dörflichen Alltags, das
Ausgeliefertsein an die Besatzungsmächte und die Displaced Persons sowie
die erzwungene Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenen im Rahmen der
Opfer- und Aufbaugemeinschaft in den ersten Jahren nach dem Zweiten
Weltkrieg. Diese Dichotomie korrespondiert, wie Thomaschke anhand seiner
Quellen ausgewogen argumentierend zeigt, mit zwei unterschiedlichen
Zeitlinien, die sich in den Heimatbüchern finden: die gleichsam
zeitlose, kontinuierliche Entwicklung der Dorfgemeinschaft, der
"kleinen" Geschichte, und der von tiefen Einschnitten und Veränderungen
gekennzeichnete Strang der Politikgeschichte, der "großen" Geschichte.
Diese Parallelität setzte sich nach 1945 weitgehend fort, indem, wie in
der akademischen Forschung auch, die NS-Zeit bis zum Beginn der
1980er-Jahre häufig ausgeblendet oder entkonkretisiert wurde. Thomaschke
spricht daher zu Recht von einer "Konstanz früher Muster der
Vergangenheitsbewältigung" (S. 199), deren Ursache er in der
hermetischen Trennung von Mikro- und Makrogeschichte in den
Ortschroniken sieht.

Seine Befunde zur Art der Darstellung des und der Auseinandersetzung mit
dem Nationalsozialismus und der frühen Nachkriegszeit in der
heimatgeschichtlichen Literatur bettet Thomaschke im fünften Kapitel in
einen größeren Zusammenhang ein, indem er grundsätzlich nach dem
Verhältnis zwischen Ortschroniken und wissenschaftlicher
Geschichtsschreibung fragt. Bis zur Entstehung der Heimatgeschichte im
späten 19. Jahrhundert ausholend, verweist er auf das von Anfang an
hierarchische Verhältnis zwischen akademischer Forschung und
insbesondere der Landesgeschichte und der Heimatgeschichte. Daran
änderte sich nach 1945 und auch in den 1970er-Jahren, mit dem Aufkommen
einer neuen Heimatbewegung in der Bundesrepublik sowie der
Alltagsgeschichte, wenig. Zum "recht steifen Verhältnis" (S. 249) der
Landesgeschichte zur Laiengeschichte hat laut Thomaschke die strikte
"Dualität zwischen Alltag und Erfahrung auf der einen Seite und
Ideologie und Politik auf der anderen Seite" wesentlich beigetragen (S.
243). So gut wie keine Berührungspunkte gab und gibt es nach Thomaschke
auch zwischen der etwa zur gleichen Zeit aufkommenden
Laiengeschichtsschreibung ("Grabe, wo du stehst") und der sich
etablierenden Alltagsgeschichte in der Bundesrepublik. Sie unterscheiden
sich in vier zentralen Theoremen: hier der Blick auf eine geschlossene
Gemeinschaft, die identitätsstiftende Zielsetzung, die
Eindimensionalität und das Verharren auf dem Konkreten des Dorfes; dort
der über das Dorf hinausreichende Blick, das von der Methodik der
Geschichtswissenschaft bestimmte Erkenntnisziel, die
Perspektivenvielfalt und die Intention, die lokalen Ergebnisse breiter
zu kontextualisieren und zu vergleichen. Auch gegen die neue Konkurrenz
beim Zugang zum Lokalen und Alltäglichen konnten sich die Ortschroniken
behaupten. Dass es dabei kaum Annäherungsversuche gab, ist sowohl den
Ortschronisten als auch der akademischen Geschichtswissenschaft, der
Laienalltagsgeschichte als auch der universitären Alltagsgeschichte
zuzuschreiben.

Im letzten Kapitel steht die Auseinandersetzung mit der Heimatgeschichte
in der DDR im Mittelpunkt. Hier betritt die Arbeit nicht nur Neuland.
Indem sie Heimatgeschichte als lokale Praxis in der DDR detailliert
analysiert, kann sie auch ein Forschungsfeld abstecken, das es noch zu
vertiefen gilt. Doch so wertvoll die hier herausgearbeiteten
Erkenntnisse sind, handelt es sich bezogen auf die Gesamtstruktur der
Studie letztlich um ein verzichtbares Anhängsel. Thomaschke hat es mit
Blick auf einen Vergleich zwischen der heimatgeschichtlichen Literatur
der Bundesrepublik und der DDR in seine Studie aufgenommen. Doch fehlt
dem angestrebten Vergleich die Grundlage, weil, wie der Autor selbst
einräumt, aufgrund völlig unterschiedlicher Voraussetzungen "sich ein
vergleichbares Genre mit der hinreichenden Eigenständigkeit in der DDR
nicht etablieren konnte" (S. 253).

Die gut geschriebene Monographie über die Ortschroniken setzt einen
wichtigen Baustein zur Analyse und zum Verständnis einer zentralen
Quelle für die Geschichtskultur der kleinen, ländlichen Orte. Mit der
angebotenen Deutung der imaginierten Dorfgemeinschaft, der autonomen
Zeitschiene und der Essentialisierung von Heimat arbeitet Thomaschke
hinsichtlich des Umgangs mit Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und
früher Nachkriegszeit drei maßgebliche historiographische Prinzipien
heraus, die diese Form der Geschichtsschreibung einerseits
charakterisieren und andererseits von der akademischen
Geschichtsschreibung deutlich unterscheiden. Aber diese Prinzipien
prägten die heimatgeschichtliche Literatur von Anfang an. Deshalb greift
Thomaschke, vermutlich aufgrund des untersuchten Zeitraums und des
inhaltlichen Schwerpunkts, zu kurz, wenn er die Herausbildung eines
eigenen Genres der Ortschroniken und Heimatbücher erst in den
1970er-Jahren ansiedelt. Vielmehr stellten sie, wofür auch die Arbeit
selbst besonders im fünften Kapitel eine Reihe von Hinweisen liefert,
bereits seit dem späten 19. Jahrhundert neben der universitären
Historiographie und der Landesgeschichte einen dritten eigenständigen
Weg der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit dar.

"Abseits der Geschichte", so der programmatische Titel von Dirk
Thomaschkes Publikation, ist die heimatgeschichtliche Literatur nur aus
Sicht der akademischen Geschichtsschreibung. Das arbeitet die Studie
klar und überzeugend heraus. Die historiographische Eigenständigkeit von
Ortschroniken und Heimatbüchern deutlicher sichtbar gemacht zu haben ist
ein wesentliches Verdienst der Arbeit. Sie sollte zugleich als
Aufforderung verstanden werden, in das noch weite Feld der Erforschung
dieser Form der Historiographie weitere Furchen zu ziehen.


Anmerkung:
[1] Mathias Beer (Hrsg.), Das Heimatbuch. Geschichte, Methodik, Wirkung,
Göttingen 2010; rezensiert von Willi Oberkrome, in: H-Soz-Kult,
22.12.2010, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-15120
(04.01.2017).

[Regionalforum-Saar] Die Sakralisierung der Landschaft. Inbesitznahme, Gestaltung und Verwendung im Zeichen der Gegenreformation in Mitteleuropa

Date: 2017/02/16 20:45:24
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>

Diözesanarchiv St. Pölten; Verein Basilika Sonntagberg
11.10.2017-13.10.2017, Seitenstetten, Stift Seitenstetten
Deadline: 31.03.2017

Im Zeitalter der Gegenreformation erfuhr das Landschaftsbild
Mitteleuropas maßgebliche Veränderungen durch Errichtung zahlreicher
Sakralbauten, seien es Kirchen, Kapellen, Bildstöcke, Kalvarienberge und
vieles mehr. Eines der herausragendsten Beispiele dafür ist die Basilika
am Sonntagberg, die zwischen 1706 und 1732 erbaut wurde. Sie steht nicht
für sich allein, sondern ist Teil einer Entwicklung, die bereits Mitte
des 16. Jahrhunderts eingesetzt hatte und im 18. Jahrhundert ihren
Höhepunkt fand.
Ziel der Tagung ist es, diese Vorgänge exemplarisch zu untersuchen, um
den historischen Kontext zu der Wallfahrt und der Erbauung der Kirche
auf dem Sonntagberg im 17. und 18. Jahrhundert herzustellen. Besonderer
Wert wird dabei auf die grenzüberschreitende mitteleuropäische
Perspektive gelegt, um die internationale Dimension des Phänomens
"Sakralisierung der Landschaft" zu betonen. Damit ist jedoch nicht nur
die bauliche Komponente gemeint, sondern auch der Aspekt der Verwendung
der Landschaft im Dienste religiöser Kulthandlungen wie Wallfahrten oder
Prozessionen.

Im Besonderen sollen folgende Themen zur Sprache kommen:
- Veränderung von Landschaft durch Baulichkeiten
- Landschaft als "Bühne": Baulichkeiten, Feste und Kulthandlungen
- Die Verehrung der heiligsten Dreifaltigkeit
- Der Sonntagberg im 17./18. Jhdt.
- Bruderschaften
- Soziale und wirtschaftliche Auswirkungen: welche Folgen hat die
Gründung eines Wallfahrtsortes für die Umgebung?
- Kleindenkmäler als Wegmarken persönlicher Frömmigkeit und
Repräsentation
- etc.
- weitere Themenanregungen sind willkommen!

Interessierte Referentinnen und Referenten sind eingeladen, bis 31. März
2017 ein kurzes Exposé ihres geplanten Vortrags (max. 2000 Zeichen,
Dauer der Vorträge: ca. 20 min) an h.bachhofer(a)kirche.at zu senden.

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Heidemarie Bachhofer
Diözesanarchiv St. Pölten
h.bachhofer(a)kirche.at

Homepage <http://www.dasp.at>