Date: 2021/01/04 16:50:09 From: Elmar Peiffer via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Elmar Peiffer
Gesendet: Donnerstag, 31. Dezember 2020 um 16:36 Uhr Von: "Roland Geiger via Regionalforum-Saar" <regionalforum-saar(a)genealogy.net> An: "Regionalforum" <regionalforum-saar(a)genealogy.net> Betreff: [Regionalforum-Saar] Warum wir uns einen "guten Rutsch" wünschen
Warum wir uns einen "guten Rutsch" wünschen
Von Leeor Engländer, veröffentlicht am 01.01.2012
Nur im deutschsprachigen Raum wünscht man sich zum Jahreswechsel einen "guten Rutsch". Doch was sich hinter diesem Wunsch verbirgt, weiß kaum jemand.
Meine Mutter kann Silvester nicht leiden: "Dus sennen gojische Majses" (das ist nichtjüdischer Blödsinn).
Mit Papst Silvester I., nach dem der Tag benannt ist, hat sie sowieso nichts am Hut und vom obligatorischen Fondue in der Neujahrsnacht (traditionell bei meiner Tante) hält sie nicht viel: "Wenn ich ein Steak will, lege ich ein anständiges Stück Fleisch in die Pfanne."
Feuerwerk? "Zwar schön, aber Geldverschwendung."
Bleigießen? "Macht Löcher in die Tischdecke."
Dinner for one? "Die zwei Alten gehen mir auf die Nerven."
Champagner? "Ich mag keinen Alkohol."
Und zu guter Letzt ist da noch dieser alberne Gruß.
Zwischen Weihnachten und dem ersten Januar "rutscht" eine ganze Nation kollektiv ins neue Jahr, obwohl es auch dieses Jahr größtenteils kein Schnee oder Glatteis gab. Wir wünschen weder Kindern auf dem Spielplatz einen guten Rutsch in die Sandkiste, noch dem besten Freund einen guten Rutsch ins neue Lebensjahr. Trotzdem vollziehen wir regelmäßig einen halsbrecherischen Rutsch über die Jahreswende hinweg.
"Einen guten Kopf" an Neujahr
Keine Nation, außer wir Deutschen (anscheinend auch manche Österreicher und Schweizer), wünscht sich einen "guten Rutsch". Was wohl damit zu tun hat, dass die meisten nicht wissen, woher der Begriff eigentlich stammt. Das jüdische Neujahr heißt „Rosch ha Schanah“, wörtlich übersetzt "Kopf des Jahres". Auf Jiddisch wünscht man sich in der Zeit vor und nach dem Feiertag "a git Rosch" (einen guten Kopf). Man kann davon ausgehen, dass der "gute Rutsch" aus einem weitläufig missverstandenen "git Rosch" entstand.
Und da wir an diesem Tag schon so sinnlos in der Gegend herumrutschen, schickt meine Mutter dem albernen "Rutsch" gerne noch ein "Hals- und Beinbruch" hinterher – wohl wissend, dass auch hier den meisten unbekannt ist, woher das eigentlich kommt.
"Hazlacha uwracha" (Erfolg und Segen) ist ein hebräischer Segen, mit dem man unter anderem Geschäftsabschlüsse oder Ehen besiegelt. Auf Jiddisch wurde daraus "hatsloche un broche", oder eben auf Deutsch "Hals- und Beinbruch". Im Übrigen sind Hochzeiten und Geschäftsabschlüsse gelegentlich gar nicht so weit voneinander entfernt und könnten ebenfalls verwechselt werden. Dazu aber mehr in ein paar Monaten, wenn mein Bruder heiratet. Zunächst wünsche ich Ihnen ein gutes, glückliches und gesundes neues Jahr – ganz ohne Rutschen und ohne Beinbruch.
Date: 2021/01/06 21:30:31 From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Guten Abend,
mein Ticker von der SZ informierte mich heut abend darüber, wie
ich das Gebiet 15 km rund
um meinen Wohnort ermittele, falls
der Indizenzwert über 200 geht.
„Aktuell gibt es zwar noch keinen saarländischen Landkreis, der
einen solchen
Inzidenzwert von über 200 aufweist. Und dennoch, für den Fall der
Fälle: Was
liegt denn überhaupt in diesem 15-Kilometer-Radius? Sprich, wo
darf ich noch
hin, wenn die Regel angewandt wird? Das lässt sich unter anderem
mit dem
Webtool „Calcmaps“ herausfinden. Die SZ erklärt, wie das
Online-Werkzeug
funktioniert.
=> Rufen Sie das Tool über www.calcmaps.com/de/
auf.
=> Wählen Sie die Option „Radius auf Karte messen“.
=> Geben Sie Ihre Adresse oder Stadt im dafür vorgesehenen Feld
ein.
=> Klicken Sie auf "Radius KM" und wählen Sie "15 km".
=> Der Kreis den Sie nun angezeigt bekommen zeigt den Bereich,
den Sie
besuchen dürfen.“
Tatsächlich hat diese Information sogar einen praktischen Nutzen -
außer den,
mich in meine geographischen Grenzen zu weisen (für die
orthografischen Grenzen
des Verfassers kann ich nichts; Kommas sind nicht jedermans
Stärke.)
Denn das „Tool“ (spricht sich „Tuhl“ und ist das englische Wort
für „Werkzeug“)
kann noch einiges mehr. Schaut es Euch bitte über den Link doch
einmal an.
Vor einigen Stunden haben Anhänger des Noch-Präsidenten den Senat in Washington gestürmt. Sie drangen gewaltsam bis in den Senatssaal vor. Eine posierte auf dem Stuhl der Vorsitzenden.
Nie hätte ich gedacht, einmal solche Bilder sehen zu müssen. Nach Stunden löst sich der Mob jetzt vielleicht langsam auf.
Mir ist klar, dass die Vorgänge nicht bei uns stattfinden. Ich hoffe, sie haben keine Auswirkungen auf uns.
Date: 2021/01/07 11:51:30 From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Weltbildwechsel.
Ideengeschichten geographischen Denkens und Handelns
Autor(en) Schlottmann, Antje; Wintzer, Jeannine
Erschienen Bern 2019: UTB
Anzahl Seiten 405 S.
Preis € 29,99
ISBN 978-3-8252-5218-2
Rezensiert für H-Soz-Kult von Sebastian Dorsch, Philosophische
Fakultät,
Universität Erfurt
Dieses Buch macht Spaß. Es macht Spaß, weil es ein kluges, zum
Weiterdenken
anregendes und gut geschriebenes Buch ist. Während die meisten
Lehrbücher
versuchen, Studierenden möglichst viel Wissen zu vermitteln, ist
dieses Buch,
wie es am Ende der Einleitung heißt, eine Einladung zum „Weiter-
und
Fortschreiben sowie zum Anders- und Neu-Erzählen“ (S. 35). Mit
seinem
praxeologisch-konstruktivistischen Ansatz bewegt sich das Buch auf
dem aktuellen
Stand der geographischen Forschung. Als Buch, das lehrt, selbst zu
denken, und
das den Leser/innen die entsprechenden Informationen vermittelt,
richtet es
sich damit sowohl an Studierende, an Raum-Wissenschaftler/innen
als auch an
allgemeiner für räumliche Fragestellungen Interessierte. Dabei ist
schon der
Titel „Weltbildwechsel“ Programm, er changiert zwischen den
Alternativen
Feststellung oder Aufforderung, abstrakter Singular (der
Weltbildwechsel) oder
konkreter Plural (die Weltbildwechsel): Die beiden Geographinnen
Antje
Schlottmann und Jeannine Wintzer werfen anregend-neue, vielfältige
Blicke auf
ihr Fach, „die Geographie“.
Die Autorinnen bieten in ihrem Buch also keine einheitliche
Ideengeschichte der
Geographie, sondern erzählen verschiedene, ineinandergreifende
Geschichten und
versuchen so, die von ihnen als „Falle der Geschichtsschreibung“
(S. 24)
bezeichnete Linearität/Teleologie aufzubrechen. Schon hier wird
deutlich, wie
sie dabei die Subjektivität ihres Forschungsstandpunktes
reflektieren: Sie machen
deutlich, dass sie ihren eigenen „Kontext nicht vollständig
beschreiben, offen-
oder ablegen können“ (S. 23). Sie machen ihren „Sehepunkt“ (Johann
Martin
Chladenius, 1710–1759) kenntlich, kontextualisieren ihn und
reflektieren die
damit verbundenen Macht-Dynamiken: „Unsere Rekonstruktion ist […]
elitär und
eurozentrisch und aufgrund von Sprachbarrieren vor allem
mitteleuropäisch. Es
mangelt dem Buch an Hinweisen zu Errungenschaften von Seiten der
Gesellschaften
fast aller anderer Kontinente.“ (S. 23) Dass die Autorinnen nicht
suggerieren,
einen vollkommenen Überblick zu haben, lässt sich hervorheben.
Eurozentrismus
und Elitarismus sind für die Autorinnen eine zweite „Falle der
Geschichtsschreibung“. Auch auf weitere Schwerpunktsetzungen und
Auslassungen,
beispielsweise im Bereich der physischen Geographie, weisen die
Autorinnen zu
Beginn explizit hin. Eng damit verbunden nennen die Autorinnen den
Positivismus
als dritte Falle für eine Geschichte der Geographie: die
Vorstellung, man könne
durch die genaue Beobachtung von empirisch wahrnehmbaren
Phänomenen
wertneutral-wissenschaftliche Erklärungen liefern und damit
Lösungen für
soziale Probleme. Diese Falle zu reflektieren, sei insbesondere
für eine
Geographie, die sich als Fach zwischen Natur- und
Sozialwissenschaft versteht,
wichtig.
Als Konsequenz aus der Auseinandersetzung mit den drei genannten
Fallen
(Eurozentrismus/Elitarismus – Linearität/Teleologie –
Positivismus/Wertneutralität) entwickeln die Autorinnen eine
Definition von
Geographie „als eine wissenschaftliche Praxis, die sich mit
sozialen
Raumverhältnissen und räumlich situierten gesellschaftlichen
Verhältnissen
befasst.“ (S. 23) Geographie befasst sich, so formulieren die
Autorinnen, mit
verschiedenen Formen der Raum-Aneignung (wie Landwirtschaft oder
Städtebau)
ebenso wie mit deren Folgen für die natürliche Umwelt (wie
Erosionen oder
Klimawandel) und den daraus resultierenden sozialen Phänomenen wie
Urbanisierung, Armut oder Migration. Mit ihrem praxeologischen
Ansatz
fokussieren sie selbstkritisch auf der Ebene von Beobachtungen
zweiter Ordnung
das Geographie-Machen und das Wie geographischen Handelns.
Geographie wird damit explizit als kritische und sozial
interessierte
Raum-Wissenschaft verstanden, nicht zuletzt um damit Verbindungen
zwischen den
natur- und sozialwissenschaftlichen Perspektiven des Fachs
herzustellen. Für
mich, der ich als Historiker seit vielen Jahren Raum- und
Zeit-Fragen
bearbeite, ist es interessant zu beobachten, dass der Raum-Fokus
gerade in der
deutschsprachigen Geographie noch immer nicht selbstverständlich
ist. Für die
Geschichtswissenschaft lässt sich mit wenigen Ausnahmen Analoges
zum
selbstreflektierenden Umgang mit dem Thema Zeit sagen, das erst
jüngst wieder
vermehrt in den Blick genommen wurde. Mit diesem Band ist also
auch die
Hoffnung verbunden, dass Geograph/innen mit ihrer sozial- und
naturwissenschaftlichen Raum-Expertise die Debatten rund um den
spatial turn,
aber auch die konkrete Klima- und Globalisierungsforschung in
Zukunft noch
stärker bereichern.
Konkret heißt das für den Aufbau des Buches, dass die Autorinnen
zehn Praktiken
geographischen Denkens und Handelns in den Blick nehmen und anhand
dieser zehn
unterschiedliche, mit den Begriffen verbundene Geschichten mit je
eigenen
Akteuren und Konzepten beleuchten. Diese Begriffe klingen zunächst
nicht
spezifisch „geographisch“, sondern eher nach Alltagspraktiken:
Vermessen –
Erklären – Erobern – Vermitteln – Aufklären – Wahrnehmen –
Gestalten –
Differenzieren – Visualisieren – Modellieren. Gerade weil nicht
geographische
Fachbegriffe im Zentrum stehen, sondern deren spezifische
Verwendung, werden
nicht nur wesentliche Diskussionsgegenstände geographischer
Forschung erfasst,
sondern auch zahlreiche Grenzbewegungen zwischen dem Fach, anderen
Disziplinen
und dem Alltag. Konkret starten die Autorinnen jedes Kapitel mit
einem
aktuellen Aufhänger, sei es mit einer CIPRA-Demonstration gegen
den Ausbau von
Ski-Liften (Wahrnehmen), mit einem Geographen-Kongress-Thema
(Gestalten), mit
der Mondlandung (Erobern), Naturkatastrophen (Modellieren) oder
Gedanken zu
modernen Navigationsgeräten und Literaturverarbeitungen
(Vermessen). Im
Anschluss daran erklären sie, wie die jeweils benannten Praktiken
über die
verschiedenen Epochen hinweg unser Welt- und Raum-Verständnis so
geprägt haben,
dass diese aktuellen Auseinandersetzungen beziehungsweise
Situationen und damit
unsere Gegenwart in ihren räumlichen Dimensionen denkmöglich
wurden. So
verweisen sie mit Bezug auf das (räumliche) Erklären auf Homers
hodologisches
Vorgehen, das entlang von Wegen die je spezifische Natur erklärend
beschreibt –
eine Praxis, die sich in unterschiedlichen Formen in
Reisebeschreibungen des
Mittelalters genauso wiederfinden lässt wie bei Alexander von
Humboldt und vor
allem für die deutschsprachige Geographie sehr einflussreich in
der
Länderkunde, geprägt durch Alfred Hettner. Neben Ähnlichkeiten
arbeiten sie
neue Aneignungen heraus, beispielsweise wenn sie auf
geodeterministische
Konsequenzen dieser Praxis – spezifische, einzigartige
Landschaften, Klimata
etc. prägen menschliches Handeln – hinweisen. Unter dem Begriff
„Erobern“
verweisen sie auf den Beginn der Militärgeographie im antiken
Griechenland,
aber auch (mit Verweis auf den eben behandelten Geodeterminismus)
auf
geopolitische Aneignungen im Kontext neuzeitlicher Nationalstaat-
und
Kolonialreichbildungen oder auf Raum-Konzeptionierungen im Rahmen
der Area
Studies (Container-Konzept): „Koloniales, imperiales und
geopolitisches Denken
verstehen Raum als etwas, das besetzt, in Besitz genommen,
eingenommen,
annektiert und mittels militärischer Macht demonstriert werden
kann.“ (S. 142)
Kulturwissenschaftlicher Forschung wird häufig vorgeworfen, alte
Gewissheiten
zu hinterfragen, ohne selbst neu zu ordnen. Das hier vorgestellte
Werk geht
einen konsequenten Mittelweg, indem es das Produzieren räumlicher
Weltbilder
ins Zentrum rückt und damit unsere Gegenwart als nicht
gesetzesmäßig
vorherbestimmtes Produkt vergangenen Handelns versteht. Das
„grundlegende
Bedürfnis (westlicher) Menschen [zu verstehen], warum etwas genau
so kam (und
vielleicht auch kommen musste), wie es kam“ (S. 25), wird dadurch
zumindest
reflektiert. Durch Blicke über Mitteleuropa oder auch über die
untersuchten
deutschsprachigen Wissenschaftler wie Humboldt, Kant, Hettner und
Haushofer hinaus
hätte man dieses „Bestreben“ auch noch wesentlich stärker als
kolonialistische
Rationalität untersuchen können und – für ein weniger auf
Mitteleuropa
fokussiertes Verständnis von Geographie (gibt es das geographische
Pendant zur
Globalgeschichte?) – auch sollen. Der postkolonial orientierte
Blick auf
geographische Praktiken scheint in der englisch- und
französischsprachigen
Fachliteratur deutlich ausgeprägter als in der in diesem Werk
explizit
fokussierten deutschsprachigen Forschungslandschaft. Wie eingangs
ausgeführt
ist es eine Stärke dieses Buches, mit der vorgeschlagenen und
überzeugend
praktizierten Herangehensweise, das Weiterdenken in diese
Richtungen anzuregen.
Zahlreiche in den Text eingebaute und farblich abgesetzte Exkurse
und
Definitionen zu zentralen Fachbegriffen und Sachverhalten erhöhen
die Qualität
des Buches als Lehrbuch ebenso wie am Schluss des Buches ein
sorgfältiges ABC
der Geographie. Zur Vertiefung findet sich am Ende jedes Kapitels
neben den
Zusammenfassungen ein umfangreiches Literaturverzeichnis und zur
besseren
Orientierung ein gut sortiertes Register.
Rezensiert für H-Soz-Kult von Silke Fehlemann, Historisches
Seminar II,
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Die hundertjährige Wiederkehr des Kriegsbeginns 1914 liegt jetzt
schon einige
Jahre zurück und nun wird doch deutlich, dass das „Centenaire“
zahlreiche
Themenfelder der Weltkriegsforschung noch einmal neu akzentuiert
hat. Vor allem
die sogenannte Heimatfront hat – auch im Zeichen des emotional
turn – große
Aufmerksamkeit gefunden. Während die Feldpost von Soldaten schon
seit einigen
Jahrzehnten zum festen Quellenbestand der Weltkriegsforschung
gehörte, sind die
Familienkonstellationen, darunter vor allem
Eltern-Sohn-Beziehungen erst seit
Kurzem in den Blick der historischen Forschung gekommen. Briefe
von
Familienangehörigen sind allerdings seltener hinterlassen, da die
Soldaten sie
ja im Feld mit sich tragen mussten. Insofern macht es mehr Mühe,
Korrespondenzen zwischen Soldaten und ihren Angehörigen zu finden,
aber sie
sind auch besonders aussagekräftig, berichten sie doch über den
Austausch von
Gefühlen, über die Dynamik der familiären Beziehungen im Verlaufe
des Krieges,
über das Sag- und das Nicht-Sagbare in der Kriegsgesellschaft.
Das gilt für den vorliegenden Band in besonderer Weise. Die
Oldenburger
Historikerin Gunilla Budde präsentiert hier den Briefwechsel der
Arztfamilie
Budde aus Herford während des Ersten Weltkriegs, also der Familie
ihres
Großvaters Gerhard, dessen Eltern Elsbeth und Karl sowie des
älteren Bruders
Ernst. Sie hat damit ein Andenken an ihre Familie als historische
Quellensammlung publiziert. Es ist eine eigenwillige
Quellenedition, ähnlich
wie der einige Jahre zuvor kommentierte Briefwechsel der Familie
Braun durch
Dorothee Wierling.[1] Die Herangehensweise von
Budde ist
möglicherweise für die historische Forschung noch ertragreicher,
da sie nur
zurückhaltend kommentiert und sich jede Leser/in anhand der Briefe
ein eigenes
Bild machen kann. Die Verfasserin hat in begleitenden Texten
einzelne Passagen
aus den Briefen noch einmal eingehender eingeordnet und auf
Unerwartetes
verwiesen. Daneben sind historische Ereignisse, Eigennamen oder
unverständliche
Verweise in den Fußnoten erläutert und durch neuere Literatur zum
Ersten
Weltkrieg zurückhaltend ergänzt worden. Davon abgesehen lässt sie
aber die
Quellen für sich selbst sprechen.
Das Buch präsentiert nicht nur den Briefwechsel, sondern im Falle
des ältesten
Sohns Ernst auch noch ein zeitweise parallel geführtes Tagebuch.
Dessen Inhalt
offenbart an einigen Stellen, wie Ernst seine Erfahrungen für sich
selbst
formulierte und wie er sie wiederum an seine Eltern kommunizierte.
Was lernen wir über die Kriegserfahrungen der Familie Budde aus
Herford? Die
Buddes waren typische Vertreter des Bildungsbürgertums und wie
viele in ihrer
Schicht von der Notwendigkeit des Krieges überzeugt. Von einer
bedingungslosen
Kriegsbegeisterung ist aber in der Korrespondenz vergleichsweise
wenig zu
finden. Wie in vielen ähnlichen Selbstzeugnissen auch stand die
Pflicht
gegenüber dem Vaterland und die familiäre Ehre an erster Stelle.
Der
Briefwechsel ist Zeugnis eines lebhaften Austausches und einer
innigen
Verbindung zwischen dem älteren Sohn Ernst und seiner Mutter,
zugleich
dokumentiert er auch eine zunehmende Distanzierung zwischen den
beiden. Diese
Entfremdung war zum einen ganz profan durch die Widrigkeiten der
Feldpostorganisation verursacht, zum anderen aber auch durch die
unterschiedlichen Erfahrungswelten. Der Sohn imaginierte sein
Zuhause weiterhin
als heile Vorkriegswelt, während Vater und Mutter unter den
Belastungen
zunehmend litten und auch erkrankten. Immer wieder ging es in
Ernsts Briefen um
ausbleibende Pakete von zu Hause. Während Elsbeth der Ansicht war,
keine Mutter
könnte mehr schicken als sie selbst, schrieb der Sohn Ernst in
einem
ärgerlichen Brief nach Hause, da solle sie doch mal Zeugin bei der
Paketausgabe
sein, dann würde sie sehen, was die anderen Soldaten bekämen.
Später stellte
sich heraus, dass der Herforder Kutscher wohl zahlreiche Päckchen
auf dem Weg
zur Post unterschlagen hatte. Diese Korrespondenz mit den beiden
Söhnen stärkt
eigentlich die älteren Thesen der historischen Forschung über eine
zunehmende
Entfremdung zwischen Front und Heimat im Verlauf des Krieges.
Darüber hinaus
wird deutlich, wie Ernst Budde seine ersten lebensbedrohlichen
Kriegserfahrungen an seine Eltern verharmlosend kommunizierte,
aber in seinem
Tagebuch dagegen durchaus seine Ängste und Albträume
thematisierte. Die
Erwartungen an eine militärische Männlichkeit wurden also nach
außen erfüllt,
aber nicht vollständig verinnerlicht.
Ernst Budde wurde schließlich im April 1915 in der Nähe von
Warschau erschossen
und nun wird die tiefe Trauer der Mutter in ihren verzweifelten
Briefen
deutlich, mit denen sie sich um die Heimführung des Leichnams
bemühte. Das
deckt sich mit den aktuellen Forschungen zur Kriegstrauer, in
denen die
Heimführung der toten Soldaten für die meisten Hinterbliebenen als
besonders
wichtig erkannt wurde. Kurz nach Ernsts Tod meldete sich auch der
jüngere Sohn
Gerhard zum Kriegsdienst, er kam damit einer Einziehung zuvor –
auch das
entspricht neueren Untersuchungen, die gezeigt haben, dass viele
Freiwilligenmeldungen weniger aus überschäumender
Kriegsbegeisterung
stattfanden, sondern um einer Zwangsrekrutierung zuvorzukommen.
Mit einem
solchen Engagement eines Sohnes schuf sich die gesamte Familie
soziales
Kapital.
Im zweiten Teil des Buches sind schließlich die Briefe zwischen
den Eltern und
dem jüngeren Sohn Gerhard dokumentiert. Interessanterweise sind
nun auch
gelegentlich Briefe vom Vater an den Sohn zu finden, das war beim
älteren Ernst
nicht der Fall. Wie in vielen Familien üblich, hatte er zunächst
die
Korrespondenz mit dem Soldatensohn seiner Ehefrau überlassen. Ob
er nun
bereute, seinem ersten Sohn so wenig geschrieben zu haben, oder ob
er zu
Gerhard eine engere Bindung hatte, wird nicht deutlich, Gunilla
Budde vermutet
Letzteres. Obwohl die Mutter sich um diesen verbliebenen Sohn ganz
furchtbar
sorgte, eskalierten die Konflikte zwischen Mutter und Sohn über
angemessenes
Verhalten zunehmend – vor allem über eine respektvolle
Kommunikation mit den
Eltern –, manchmal standen beide kurz vor einem Abbruch der
Beziehung. Dann
griff der Vater vermittelnd ein. Gerhard überlebte den Krieg
knapp, er wurde
schwer verwundet und verlor die Sehkraft des linken Auges. Die
Leserin erfährt
am Schluss, dass er nach dem Krieg noch Medizin studierte, die
Praxis des
Vaters übernahm und mit seiner späteren Frau Gertrud vier Söhne
bekam.
Die Familienkorrespondenz gibt einen vertieften Einblick in
zahlreiche
Themenfelder der Sozial- und Kulturgeschichte des Ersten
Weltkriegs, von der
Nahrungsmittelknappheit (die ländliche Arztfamilie hatte es
vergleichsweise
gut, da der niedergelassene Arzt oft mit Naturalien bezahlt wurde)
über die
Kriegstrauer bis hin zu den zunehmend „dick rot angehauchten“,
also
sozialdemokratisch orientierten, „Dienstmädchen“ (S. 540). Beide
Söhne waren
Einjährig-Freiwillige, waren also potentielle bürgerliche
Offiziersanwärter,
insofern geben die Briefe eher die Erfahrungen einer
privilegierten Arztfamilie
als die der sogenannten einfachen Soldaten wieder. Es sind
Innenansichten aus
dem Bürgertum und als solche müssen sie gelesen werden. Sie eignen
sich
besonders, um emotionale Normen und Regime in der
Kriegsgesellschaft zu
identifizieren.
Die Briefe sind weitgehend wortgetreu wiedergegeben, die
Herausgeberin hat nach
eigenen Angaben nur die Schreibweise etwas angepasst.
Insgesamt liegt hier sowohl ein historisches Lesebuch als auch
eine
kommentierte Quellensammlung vor, die Briefe sind gut lesbar
präsentiert, die
Korrespondenz wird durch Zeichnungen und Photographien der Familie
und der
verschiedenen Aufenthaltsorte illustriert. Dies ist ein sehr
produktiver Umgang
mit familiären Selbstzeugnissen und sogenannten Dachbodenfunden.
Es ist zu
hoffen, dass weitere kommentierte Editionen ähnlicher Art folgen
werden.
Anmerkung: [1] Dorothee Wierling, Eine
Familie im Krieg.
Leben, Sterben und Schreiben 1914–1918, Göttingen 2013.
Date: 2021/01/08 14:08:40 From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Am 4. Januar 2021 erschien in der Saarbrücker
Zeitung
(vermutlich Regionalausgabe Saarbrücken) dieser Artikel:
Zum 200. Todestag von „Lenchen“
Demuth
Saarbrücken Karl Marx’ Haushälterin half Verletzten in
Saarbrücken.
Von Marco Reuther
Eine berühmte Saarländerin wäre am 31. Dezember 200 Jahre alt
geworden: Helena
„Lenchen“ Demuth, die tatkräftige Haushälterin der Familie von
Karl Marx.
„Lenchen“ war als junges Mädchen in den Haushalt der Eltern von
Jenny von
Westphalen eingetreten, der späteren Ehefrau von Karl Marx. 1845
wechselte
Helena Demuth in den Dienst der Familie Marx, die gerade von Paris
nach Brüssel
gezogen war. Sie organisierte den Haushalt, kümmerte sich um die
Kinder und um
die Finanzen. Dass die auch politisch aufgeschlossene Frau wohl
eher als
Familienmitglied betrachtet wurde, zeigt sich daran, dass sie nach
ihrem Tod
1890 im Grab an der Seite von Jenny und Karl Marx auf dem Highgate
Friedhof in
London bestattet wurde.
Heimatforscher Bernd Hartmann machte die SZ darauf aufmerksam,
dass Helena
Demuth offenbar auch beherzt helfend in Saarbrücken tätig war: Sie
soll 1870
gemeinsam mit der Dudweiler Gastwirtin Freudenberger und anderen
Frauen im
Pflegedienst für Verwundete in der Schlacht bei Spichern tätig
gewesen sein.
Hartmann beruft sich dabei auf die Schrift „Karl Marx, Lenchen
Demuth und die
Saar“ von Heinz Monz, ehemals Leiter des Karl-Marx-Hauses in
Trier. Helena
Demuth wäre somit eigens für diesen Einsatz von Brüssel an die
Saar gereist.
Mit ihrem Leben beschäftigt sich auch die neuere Biografie „Helena
Demuth“ von
Marlene Ambrosi (Verlag Michael Weyand, Trier, 17,95 Euro).
Dazu habe ich Herrn Reuther eben eine Email geschrieben:
"Hallo, Herr Reuther,
ich nehme Bezug auf Ihren Artikel in der SZ vom 4. oder 5. Januar
2021 über den
200. Todestag von Helena Demuth.
Leider sind in dem Artikel einige gravierende Fehler, was schon
mit der
Überschrift anfängt. Denn gemeint ist wohl der Geburtstag, wie es
aus dem
ersten Satz des Artikels hervorgeht. Aber ob der 31. Dezember 1820
der
Geburtstag war ist auch nicht sicher: lt. Geburtseintrag im
Standesamt geschah
die Geburt um 1 Uhr morgens am 31. - übrigens in St. Wendel, was
im Artikel
völlig unterschlagen wird -, lt. Taufeintrag der Pfarrei St.
Wendelin in St.
Wendel war die Geburt am 30. Dezember, die Taufe am 31.
Natürlich war Helena Demuth keine Saarländerin, weil es das
Saarland noch nicht
gab. Es gab nicht einmal ein Deutschland. Sie wurde geboren im
Fürstentum
Lichtenberg, das dem Herzog von Sachsen-Coburg gehörte. Nach 1834
war sie
Preußin, was sie bis zu ihrem Tod blieb. Denn in England ließ sie
sich nicht
einbürgern.
Dafür, daß Helene in Trier im Haushalt der von Westphalen als
Hausmädchen
diente, gibt es nur einen einzigen hiebfesten Beleg, das
Einwohnerregister
Triers von 1840. Davor und danach wird sie nicht genannt. 1842 zog
die Witwe
von Westphalen nach (Bad) Kreuznach und kehrt im Herbst 1843 nach
Trier zurück
- ohne Helena, aber mit einer Dienstmagd namens Maria Ensch. Am
18.12.1843
wohnte Helena in ihrem
Elternhaus in St.
Wendel (Stadtarchiv St. Wendel, C2-18, Seite 30ff). In den
Haushalt von Karl
Marx kam sie vermutlich durch Vermittlung von dessen
Schwiegermutter, bei der
sie zu dem Zeitpunkt aber nicht mehr arbeitete.
Ihr Gewährsmann Heinrich Hartmann hat sich leider auf die Schrift
von Heinz
Monz verlassen - wie das auch Frau Ambrosi tat -, ohne die
Sachlage kritisch zu
untersuchen. Dann hätte er festgestellt (im Stadtarchiv Trier im
Nachlaß von
Dr. Monz) -, daß diese Vermutung auf Hörensagen-Vermuten beruht.
Monz hat 1970
den 81-jährigen Jakob Demuth (1889-1973) interviewt. Jakob war ein
Sohn von
Jakob Demuth (1847-1892) und Elisabeth Riotte (1855-1932) und ein
Enkel von
Helenas älterer Schwester Katharina (1815-1873).
Jakob Demuth jr erzählt Dr. Monz, er wisse von seiner Mutter, daß
Helena „oft“
nach Dudweiler kam und die Familie besuchte. Leider konnte sie
nicht bei ihren
Verwandten wohnen, sondern kam bei einer Witwe namens
Freudenberger unter.
Diese war als Marketenderin und im Pflegedienst tätig. Dr. Monz
stellte sofort
Recherchen an und kam über die Stadtverwaltung Dudweiler in
Kontakt mit einem
Herrn Baum aus Wahlschied, der erklärte, ein Verwandter von Frau
Freudenberger
zu sein. Er wußte zu berichten, daß die Witwe 1870 an der Front
unterwegs
gewesen sei.
Wenn Helena nun 1870 in Dudweiler war und des Krieges wegen nicht
mehr nach
England zurückkonnte, weil - ja, warum eigentlich? Wenn sie nicht
durch
Frankreich reisen konnte, stand ihr der Weg über Belgien oder
Holland offen.
Wenn sie also 1870 bei Frau Freudenberger in Dudweiler war, dann
kann es gewesen
sein, daß sie mit dieser an der Front oben auf den Spicherer Höhen
geholfen
hat, Verwundete zu pflegen. Das hätte sicher ihrer Natur
entsprochen.
Im Trierer Stadtarchiv finden sich im Nachlaß Heinz Monz zwei
Briefe des
deutschen Historikers Herbert Friedrich Andréas (1914-1984) an den
Trierer
Marx-Forscher Heinz Monz. Seit 1968 war er am „Institut
Universitaire de Hautes
Études Internationales“ in Genf in der Schweiz angestellt, wo sich
mit anderen
Historikern der Erforschung des Lebens von Marx und Engels von
1844 bis 1848
widmete.
Am 5. Juni 1970 schreibt Andréas an Heinz Monz:
„Lenchen als Pflegerin im dtsch-frz Kriege kommt mir etwas
unwahrscheinlich
vor, oder beseser gesagt, sehr unerwartet. Es gibt allerdings
ähnliche Fälle,
so zog die Mehrzahl der Sektion der Internationale in Zürich
ebenfalls als
freiwillige Samariter los. Aber Lenchen hätte das doch nur mit
Zustimmung der
Marxens getan, und ich habe niemals eine Spur von dieser
„aufsehenerregenden“
(im Familienkreise) Abenteuertour gesehen - und es ist doch
beinahe
unvorstellbar, dasz ein solches einschneidendes Ereignis im
Familienkreise in
den Briefen an Freunde unerwähnt geblieben wäre. Kann da keine
Verwechslung
oder Namensähnlichkeit vorliegen? Es könnte ja z.B. eine
gleichnamige Base
gewesen sein.“
Außerdem stellt sich die Frage, wo sich Helena im August 1870
überhaupt aufhielt
-am 30. August 1870 war sie jedenfalls mit Karl Marx und Familie
im englischen
Ramsgate in Ferien. An diesem Tag schreibt Karl Marx in einem
Brief an Friedrich
Engels: „Morgen früh mit steamer nach London zurück. Erstens ist
der Aufenthalt
hier per 5 Mann sehr teuer, da die Engländer infolge des Kriegs
alle Badeplätze
überströmt haben.“ Die „5 Mann“ waren Karl Marx, seine Frau Jenny
und ihre
Töchter Jenny und Eleanor und Dienstmädchen Helena, denn Tochter
Laura weilte
zu diesem Zeitpunkt in Paris. Um den 10. September ist Helene auf
jeden Fall
wieder in London: sie besucht mit Jenny Marx sr. zusammen das neue
Haus von
Friedrich Engels, in das er mit Lizzy Burns einziehen will. Die
beiden
inspizieren u.a. die vorhandenen Tapeten.
„Brüssel“ ist in dem Zusammenhang natürlich unsinnig, Marxens
wohnten schon
seit 20 Jahren in London.
Oben habe ich „oft“ in Anführungszeichen gesetzt, denn nur nach
ihrer Ankunft
in London sind nur drei Reisen Helenas ins Saargebiet nachweisbar
- 1863, 1873
und 1888.
Das Foto aus dem Stadtarchiv St. Wendel, das Sie abgedruckt haben,
zeigt nicht
Helena Demuth, sondern Mary Ellen Burns, eine Nichte von Friedrich
Engels.
Diese Daten habe ich meinem eigenen Buch „Lenchen Demuth“
entnommen, das 2018
im Zuge von Recherchen während und nach den Dreharbeiten zum Film
von Klaus
Gietinger entstand.
Date: 2021/01/09 10:58:28 From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
"Wer
helfen kann, der helfe!". Deutsche SklavereigegnerInnen und die
atlantische Abolitionsbewegung, 1780–1860
Autor Sarah Lentz
Reihe Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte
Mainz 261
Erschienen Göttingen 2020: Vandenhoeck
& Ruprecht
Anzahl Seiten 456 S.
Preis € 85,00
ISBN 978-3-525-36099-6
Rezensiert für H-Soz-Kult von Saskia Geisler, Lehrgebiet
Geschichte der
Europäischen Moderne, FernUniversität in Hagen
Dass das alte Narrativ vom alten Reich oder den deutschen Staaten
als
sklavereifreien Gebieten kritischer wissenschaftlicher Prüfung
nicht standhält,
hat vor nicht allzu langer Zeit Rebecca von Mallinckrodt in einem
vom Verband
der Historiker und Historikerinnen Deutschlands ausgezeichneten
Aufsatz
dargelegt.[1]
Angesichts aktueller Entwicklungen wie der Black Lives
Matter-Bewegung und
einem auch in Deutschland zunehmenden Bewusstsein über das
koloniale Erbe,
wundert es nicht, dass die Thematik sich auch in hochkarätigen
Forschungsprojekten wiederfindet.[2] Nun hat Sarah Lentz,
Universität Bremen,
eine umfassende und beeindruckende Studie vorgelegt, die sich mit
Sklavereigegner/innen im ausgehenden 18. und dem 19. Jahrhundert
beschäftigt.
Mit ihrer Doktorarbeit räumt sie mit einigen Vorurteilen über
deutsche
Abolitionist/innen auf und kann wichtige Forschungsdesiderate
erhellen.
Lentz stellt sich in ihrer Arbeit vor allem zwei bisher für die
Forschung
ausschlaggebenden Thesen entgegen. So hatte Seymour Drescher eine
starke
Dichotomie zwischen den Antisklavereibewegungen Großbritanniens
und
Nordamerikas einerseits sowie des europäischen Festlandes
andererseits
postuliert und dabei Letztere als gewissermaßen nicht-existent
oder defizitär
definiert (S. 23). Während für Großbritannien und Nordamerika
zahlreiche
detaillierte Studien vorliegen, die die Antisklaverei-Bewegungen
dort
untersuchen, schien dieser Bereich für Europa damit abgehakt. In
jüngster Zeit
jedoch erscheinen zunehmend Studien, die dieser These
widersprechen, besonders
hebt Lentz in diesem Zusammenhang zu Recht Maartje Janses Analyse
der
niederländischen Antisklavereibewegungen hervor, die deutlich
macht, dass die
jeweiligen Motivationen der Akteur/innen genauer betrachtet werden
müssen und
eine Differenz zum britischen Vorgehen nicht unbedingt als Defizit
gedeutet
werden muss (S. 24). Jürgen Osterhammel, der zweite
Wissenschaftler, dessen
These Lentz programmatisch widerlegt, bescheinigt gerade den
deutschen Staaten
ein solches moralisches Defizit, da es eben keine gemeinsame
Bemühung zur
„Befreiung von der eigenen Sklavenhaltervergangenheit“ gegeben
habe (S. 35).
Lentz hält dem ihre detailreiche Studie entgegen: Es gab durchaus
Engagement
gegen Sklaverei, das über reine akademische Interessen und
Tätigkeiten
hinausging.
Dennoch steigt Lentz zunächst mit dem akademischen Bereich ein.
Sie teilt ihren
Untersuchungszeitraum in drei Phasen ein – nicht ohne darauf
hinzuweisen, dass
daraus keineswegs auf eine Linearität der Bewegungsentwicklung
geschlossen
werden kann. Die erste Phase umfasst den Umbruch zum 19.
Jahrhundert
(1780–1810) und fokussiert auf Einzelakteure und deren Beiträge
zur
Antisklavereibewegung. Lentz kann bereits hier an Beispielen wie
August von
Kotzebue nachweisen, dass deutsche Publikationen durchaus in die
transatlantische Bewegung eingebunden wurden. Dennoch blieb es
zunächst bei
rein intellektuellen Praktiken. Agitation oder andere Formen der
Aktivierung
blieben aus. Den Titel der Lehnstuhlaktivisten gibt sie ihnen
keineswegs
pejorativ, sondern zunächst einmal abgrenzend von den folgenden
Phasen.
Die zweite von Lentz vorgeschlagene Phase umfasst die Jahre 1810
bis 1840.
Erneut stellt Lentz ein einleitendes Kapitel zu allgemeinen
Bewegungsverläufen
vorweg, um dann auf Einzelakteur/innen, hier spezifisch Alexander
von Humboldt
sowie Therese und Victor Aimé Huber, einzugehen. Diese Phase kann
gewissermaßen
als Hybrid zwischen dem vollen Aktivismus der dritten Phase sowie
dem rein
intellektuellen Begleiten der ersten Phase gesehen werden. So ist
Alexander von
Humboldt zwar – wohl aus Sorge um seine wissenschaftliche
Neutralität – nicht
bereit, aktives Gründungsmitglied einer Antisklavereigesellschaft
zu werden,
gleichwohl liefert er Daten an Abolitionist/innen und nutzt
umgekehrt Daten
derselben für seine Forschungszwecke. In seinen Publikationen und
Vorträgen
stellt er sich immer wieder gegen die Sklaverei, gleichwohl macht
Lentz hier
auch das Problem der Handlungsspielräume deutlich: Zurück in
Preußen schwieg
Humboldt nach einem ersten Vortrag zum Thema, zu nah war der
Komplex der
Bauernbefreiung. Deutlich wird: Die Vernetzung wird enger, das
gezielte
Ansprechen des Publikums gegen die Sklaverei auch. Lentz schlägt
hier den
Begriff des Lobbyismus vor.
In der Phase 1840 bis 1860 dann stellt Lentz die Frage nach einer
ersten
deutschen Antisklavereibewegung. An zahlreichen Beispielen wie
etwa dem
„Nationalverein für Abschaffung der Sklaverei“ (1848–1853) macht
sie deutlich,
wie Bewegungsmomente in den deutschen Staaten entstanden, mit
welchen
Schwierigkeiten diese aber auch zu kämpfen hatten. Klar wird: Zwar
ist Drescher
und Osterhammel sicherlich in der Hinsicht Recht zu geben, dass in
den
deutschen Staaten keine Antisklavereibewegung im Sinne eines
Massenprotestes
wie in Großbritannien entstanden ist, dennoch gelingt Lentz der
Nachweis
zahlreicher Bewegungsformationen, die durchaus größere
Handlungsmöglichkeiten
und Heterogenität aufweisen, als dies bisher vermutet wurde. In
diesem Rahmen
kann sie auch Beispiele für black agency nachweisen.
Wirkt die Aufteilung in Phasen gelegentlich etwas absichtsvoll
ordnend, so
schafft es Lentz beeindruckend, die Kapitel durch übergreifende
Muster zu
verbinden. Immer wieder fragt sie nach individuellen
Motivationsfaktoren.
Deutlich wird dabei: Die Antisklavereibewegung trug durchaus auch
zu einem
imaginierten Deutschtum bei. So hielt sich das Narrativ, deutsche
Bürger/innen
hätten nichts mit Sklaverei zu tun, selbst unter den deutschen
Abolitionist/innen und sorgte für eine imaginierte, einende
moralische
Überlegenheit. Auch die Kategorie moralischen Kapitals begegnet
immer wieder,
ist zentral für das Erkennen individueller Motivation. Monetäre
Interessen
werden dabei an keiner Stelle dem moralischen Impetus wertend
gegenübergestellt. Wenn Lentz etwa beobachtet, dass sich die
spendenden
Handwerker für einen Antisklavereibasar in Boston wohl durchaus
auch erhofften,
mit der Entsendung ihrer Waren auch neue Absatzmärkte zu
erschließen, schmälert
das nicht ihren Einsatz oder ihre Überzeugung.
Wie hoch Lentz’ Rechercheaufwand einzuschätzen ist, zeigt ein
Blick auf das
Quellen- und Literaturverzeichnis: Die Autorin suchte zur Einsicht
in die
Nachlässe ihrer Akteur/innen zahlreiche Archive auf, um so Stück
für Stück ein
Gesamtbild zusammenzusetzen. Diese Diversität der genutzten
Quellenbestände
lässt jedoch auch vermuten, dass mit dieser Arbeit bei Weitem noch
nicht alle
Antisklavereivereine oder Antisklaverei-Aktivitäten des 19.
Jahrhunderts in den
deutschen Staaten aufgedeckt sind. Doch dieser Anspruch wird auch
nicht
erhoben, vielmehr weist Lentz selbst darauf hin, dass weitere
Recherchen und
Forschungen nötig und möglich sind.
So ist Lentz’ mit dem Dissertationspreis der Universität Bremen
ausgezeichnete
Doktorarbeit eine durch und durch lohnenswerte Lektüre, die mit
zentralen
Forschungsannahmen bricht und diesen detaillierte Mikrostudien
entgegensetzt.
Zukünftige Forscher/innen haben Raum, diese ersten Schlaglichter
auf die
deutschen Abolitionist/innen weiter zu ergänzen und etwa die von
Lentz vorgeschlagene
Periodisierung so zu stärken oder zu hinterfragen.
Anmerkungen: [1]
Rebekka von Mallinckrodt, Verhandelte (Un-)Freiheit. Sklaverei,
Leibeigenschaft
und innereuropäischer Wissenstransfer am Ausgang des 18.
Jahrhunderts, in:
Geschichte und Gesellschaft 43 (2017), S. 347–380. [2] So etwa im Cluster of
Excellence „Beyond
Slavery and Freedom“ am Bonn Center for Dependency and Slavery
Studies (BCDSS),
siehe: https://www.dependency.uni-bonn.de/en
(28.11.2020).
Zitation
Saskia Geisler: Rezension zu: Lentz, Sarah: "Wer helfen kann, der
helfe!". Deutsche SklavereigegnerInnen und die atlantische
Abolitionsbewegung, 1780–1860. Göttingen 2020. ISBN 978-3-525-36099-6, In: H-Soz-Kult,
08.01.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-93740>.
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Mit freundlichen Grüßen
Roland Geiger
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Roland Geiger
Historische Forschung
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Date: 2021/01/09 10:59:13 From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
„Was soll aus uns werden?“. Zur Geschichte des
Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens im
nationalsozialistischen Deutschland
Herausgeber Regina Grundmann, Bernd J. Hartmann, Daniel
Siemens;,;,
Erschienen Berlin 2020: Metropol
Verlag
Anzahl Seiten 240 S.
Preis € 22,00
ISBN 978-3-86331-530-6
Rezensiert für H-Soz-Kult von Hendrik Schemann, Historisches
Institut,
Universität Duisburg-Essen
Der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV,
1893–1938),
die mitgliederstärkste Organisation des deutschen Judentums,
erregt seit dem
Wiederauffinden des Archivs der Berliner CV-Zentrale in den
1990er-Jahren
zunehmend die Aufmerksamkeit von internationalen Forscher/innen.
Ein Großteil
dieses Quellenkorpus lag den Autor/innen für diesen Sammelband
digitalisiert
vor. Das Interesse des Bandes richtet sich auf die letzte Phase
der Existenz
des CV und damit auf ein Spannungsfeld, das von dem Wunsch einer
Symbiose von
Deutschtum und Judentum auf der einen Seite und von zunehmender
antisemitischer
Repression auf der anderen Seite geprägt war. Die sechs Beiträge
fokussieren
auf verschiedenste Aspekte der Vereinsarbeit, die bisher in
Arbeiten über das
deutsche Judentum „vergleichsweise knapp abgehandelt oder ganz
ausgelassen
werden“ (S. 7). Programmatisch ist der Titel des Werkes, der auf
das zunehmend relevant
werdende Problem der prinzipiellen Zukunftsungewissheit der
deutschen Jüdinnen
und Juden sowie auf die zahlreichen Gestaltungsentwürfe und
-versuche verweist.
Daniel Siemens beleuchtet das angesprochene Spannungsfeld, den
Wandel der
CV-Ideologie und ihrer Bedeutung ab dem Jahr 1933. Siemens
plädiert dafür, die
Geschichte des CV weder teleologisch noch ausschließlich
ideologisch-politisch
zu betrachten. Vielmehr müssten programmatische Positionen mit den
„praktischen
Fragen der alltäglichen Arbeit des Vereins“ (S. 22) in Beziehung
gesetzt und
die Frage gestellt werden, was zu welchem Zeitpunkt sinnvoll und
möglich
schien. Damit formuliert Siemens die gewinnbringende Perspektive
des Bandes.
Ihm gelingt es, durch Zuschriften von der Vereinsbasis die
Differenzen und
Wechselwirkungen zwischen öffentlich kommunizierten Positionen,
praktischer
Handlung und internen Debatten aufzuzeigen. Die ursprüngliche
Vereinsidee
geriet zunehmend unter Druck und dies führte dazu, dass der CV
kaum noch
Anerkennung für „seine programmatisch-visionären Stellungnahmen“
(S. 41),
sondern eher für die praktische Arbeit erhielt. Hieran lässt sich
erkennen,
dass die CV-Verantwortlichen Perspektiven ablehnten, die auf eine
Unmöglichkeit
jüdischer Zukunft in Deutschland verwiesen. Trotzdem verschob sich
die Arbeit
zunehmend in Richtung eines eher pragmatischen
Gegenwartsmanagements.
Anna Ullrich hinterfragt die Dichotomie von „Abwehr- oder
Gesinnungsverein“[1] anhand der Analyse des
Erwartungsmanagements des Vereins im Hinblick auf Kontakte mit der
christlichen
Mehrheitsbevölkerung im CV-Rahmen. Es gelingt ihr aufzuzeigen,
dass dieses
Verhältnis innerhalb des Vereins als hoch fragil wahrgenommen
wurde. Das
kritische Bewusstsein der Vereinsakteur/innen um Chancen und
Grenzen solcher
Kontakte spiegelte sich dabei in der kommunizierten niedrigen
Erwartungshaltung
der CV-Zentrale gegenüber seinen Mitgliedern. Besonders
aufschlussreich sind
ihre Betrachtungen über die Boykotte in der Provinz aus den
Berichten der
Ortsgruppen. Diese zeichneten oftmals ein Bild einer lokalen
Bevölkerung, die
gegenüber den Boykotten eine Ablehnungshaltung kommunizierte, ohne
jedoch
selbst aktiv für die Betroffenen einzutreten. All diese Berichte
legten aus
CV-Sicht den Schluss nahe, dass von der nichtjüdischen Bevölkerung
trotz aller
Solidaritätsbekundungen keine Hilfe zu erwarten war. Dennoch
wurden diese
Kontakte nicht grundsätzlich in Frage gestellt, weshalb es, so
Ullrich, keinen
Widerspruch darstellte, „gleichzeitig als ‚Abwehrverein‘ und
‚Gesinnungsverein‘
zu agieren“ (S. 79).
Thomas Reuß konzentriert sich in seiner Mikrostudie auf den CV im
oberschlesischen Beuthen, welches 1922 bis 1937 in den
Geltungsbereich des
„Genfer Abkommens“ fiel. Der Weg von der Gründung eines lokalen
Aktionsausschusses, der die Einhaltung des „Abkommens überwachen“
(S. 88) und
gegebenenfalls Maßnahmen einleiten sollte, bis hin zu einer
fruchtbaren
Zusammenarbeit zwischen Zionist/innen und CV-Mitgliedern, dessen
Höhepunkt die
Errichtung einer gemeinschaftlichen Wirtschaftsberatungsstelle
darstellte, wird
anhand von Beispielen aus der praktischen Tätigkeit beleuchtet.
Reuß weist
darauf hin, dass sich die lokalen CV-Mitglieder, „dem eigenen
Selbstverständnis
treu bleibend“ (S. 123), nicht auf die im Abkommen verankerten
Minderheitenrechte beriefen. Vielmehr waren ähnliche Strategien,
wie sie der CV
im gesamten Reich anwandte, zu beobachten und verdeutlichen damit
die
entschlossene Vertretung programmatischer CV-Positionen in einem
hochspezifischen Handlungskontext.
Ein Beispiel der Abwehrarbeit des Vereins bearbeitet Regina
Grundmann mit Blick
auf zwei apologetische Schriften, die sich gegen Angriffe auf
jüdische
Traditionsliteratur richteten. Ausgehend vom „Stürmer-Prozess“
1929, betritt
sie dabei ein Feld, welches von scheinbar ambivalenten Positionen
innerhalb des
CV geprägt war: Einerseits sollte die religiöse Gesinnung eine
individuelle
Entscheidung bleiben, aber andererseits erkannten die
Verantwortlichen im
Verein auch einen direkten Angriff auf die Emanzipation. Demnach
herrschte zwar
in der Berliner Zentrale Einigkeit über den Handlungsbedarf, aber
Uneinigkeit
über die Form und Umsetzung, was mitunter auch an mangelnder
Kenntnis der
Materie durch die Mitglieder festzumachen war. Ihr gelingt es
nachzuweisen,
dass im Verein zwar entschlossen gehandelt wurde, man sich aber
wiederkehrend
die Frage stellte, ob diese Abwehr- und Aufklärungsarbeit den
gewünschten
Nutzen überhaupt erzielen könnte, wodurch sich der Wechsel des
Verwendungszwecks der Schriften nachvollziehen lässt. Diese
richteten sich ab
1933 nicht mehr primär gegen antisemitische Angriffe und auf die
Aufklärung der
christlichen Bevölkerung, sondern vielmehr auf eine Konstituierung
einer „positive[n]
jüdische[n] Identität“ (S. 153). Grundmann trifft den Kern einer
Debatte, die
den CV prägte und zu einer Doppelstrategie führte: Abwehr nach
außen und
Aufklärung nach innen unter Reflexion der gegenwärtigen
Verhältnisse. Demnach
erkennt Grundmann einen wesentlichen Beitrag des CV zur „jüdischen
Renaissance“
(S. 153).
Martin Herholz stellt die Jugendarbeit des CV in das Zentrum
seines Interesses,
indem er den Bund deutsch-jüdischer Jugend, sein Entstehen und
seine
Entwicklung nachzeichnet. Hier werden die anhaltenden Bemühungen,
Zukunftsperspektiven zu bieten, anhand der Jugendarbeit greifbar.
Es ist
bezeichnend, dass sich die Verantwortlichen einerseits früh der
Notwendigkeit
dieses Arbeitsfeldes bewusst waren, jedoch andererseits erst
verhältnismäßig spät
die Einsetzung eines Jugendausschusses beschlossen; dies hingegen
nicht als
Reaktion auf die erstarkenden zionistischen Jugendbewegungen,
sondern vielmehr
aufgrund einer drohenden „roten Assimilation“ (S. 164) der Jugend.
Die
Jugendarbeit verdeutlicht dabei den Rückzug in Handlungsräume, die
sich durch
zunehmende staatliche Verfolgung verkleinerten.
Der letzte Beitrag von Frank Wolff beschäftigt sich mit dem
nicht-zionistischen
Auswanderungsgut Groß-Breesen, welches unter Federführung des CV
entstand.
Wolff geht dabei der Frage nach, inwiefern die Emigrationspolitik
des CV als
verspätet betrachtet und der Verein seinen ideologischen
Ansprüchen im Lehrplan
gerecht wurde beziehungsweise werden konnte. Er weist auf die
frühen Versuche
hin, Zionist/innen mit in die Schaffung der Schule einzubeziehen,
was
ablehnende Verlautbarungen durch sie nicht verhindern konnte.
Wolff gelangt
über die Gründungsgeschichte des Gutes zu dem Kernproblem des
Lehrplans,
welches in dem Verständnis eines deutschen Judentums lag, das sich
„nicht mehr
auf das Deutschsein beziehen konnte und durfte“ (S. 220) und
dessen jüdische
Komponente keineswegs so selbsterklärend war, wie von seinen
Vereinsgründern
gedacht. Die Hoffnungen derjenigen, die in dem Projekt die Chance
einer
„Rettungskapsel der deutsch-jüdischen Identität“ (S. 211) sahen,
wie es Kurt
Bondy, Leiter der Schule formulierte, verdeutlichen das
komplizierte Dilemma.
Dies, die Fehleinschätzung im Hinblick auf potenzielle
Emigrationsziele und das
Fehlen einer „Vision der jüdischen Zukunft, wie sie der Hechaluz
vorlebte“ (S.
222), seien die gravierendsten Schwächen des Gutes gewesen.
Durch die Zusammenstellung der Beiträge gelingt es den
Herausgeber/innen, das
Bild einer entschlossenen deutsch-jüdischen Interessensvertretung
in Zeiten
größter Bedrängnis zu zeichnen, in welcher sich der
Bewahrungswille des
deutschen Judentums manifestierte. Die im Band vertretene
Doppelperspektive auf
Praxis und Ideologie kann auch aufgrund des neuen Quellenmaterials
besonders
gewinnbringend entfaltet werden. Hiermit werden
Forschungspositionen revidiert,
die sich oftmals zu sehr am öffentlichen Diskurs und weniger an
den
vereinsinternen Aushandlungsprozessen orientierten. Es wäre in
diesem
Zusammenhang wünschenswert gewesen, das in den Beiträgen
omnipräsente Problem
der Selbstzensur auch explizit zu thematisieren, da sich hieraus
generelle
quellenmethodische Konsequenzen für die Historiographie im
Themenzusammenhang
von Verfolgung ergeben. Es wäre zudem gewinnbringend gewesen, die
juristisch-wirtschaftlichen Beratungen des Vereins und ihre
institutionelle
Rahmung mit einzubeziehen, da zumindest die juristische Komponente
bereits seit
der Vereinsgründung zum Kernhandwerk gehörte und ab 1933 unter
neuen Vorzeichen
ausgebaut wurde. Sie wäre ein hervorragendes Beispiel für die
Verbindung von
programmatischen Positionen mit praktischen Alltagsfragen gewesen
und hätte das
Verständnis für den Wandel dieses Verhältnisses vertiefen können.
Diese
Kritikpunkte schmälern in keiner Weise den äußerst positiven
Eindruck des
vorliegenden Sammelbands. Vielmehr reizt er zu weiteren Fragen,
die auf einen
(deutsch-)jüdischen Umgang mit der Verfolgung, die Konstituierung
einer
jüdischen Identität und die historischen Gegenwartswahrnehmungen
abzielen.
Anmerkung: [1] Avraham Barkai, „Wehr dich!“.
Der
Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens
1893–1938, München
2002, S. 51.
Zitation
Hendrik Schemann: Rezension zu: Grundmann, Regina; Hartmann, Bernd
J.; Siemens,
Daniel (Hrsg.): „Was soll aus uns werden?“. Zur Geschichte des
Centralvereins
deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens im
nationalsozialistischen
Deutschland. Berlin 2020. ISBN 978-3-86331-530-6, In: H-Soz-Kult,
08.01.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-50513>.
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Mit freundlichen Grüßen
Roland Geiger
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Roland Geiger
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für eine
vielseitige, lebendige & innovative Ahnenforscher-"Szene" im
deutschsprachigen Raum leisten.
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Forschungsgebieten.
Veranstalter: Anja Kirsten Klein, 1973 in Berlin geboren, ist
Computerlinguistin und
Ahnenforscherin aus Leidenschaft. Seit 20 Jahren erforscht sie mit
Begeisterung
ihre Vorfahren und entfernten Verwandten in aller Welt und bloggt
seit 2015
darüber auf ihrem Blog "Welt der Vorfahren". Mit ihren digitalen
Angeboten verbindet sie zwei Welten: Vergangenheit und Gegenwart.
Alles mit dem
Ziel, die technischen Möglichkeiten von Heute zu nutzen, um
Historisches
greifbar zu machen
Barbara Schmidt, geboren 1973 in Lübeck, ist seit 25 Jahren
Ahnenforscherin mit
Leib und Seele. Beruflich als Kommunikationsspezialistin mit
Schwerpunkt
„Social Media“ vorbelastet, hat sie schon sehr früh angefangen,
diese Kanäle
für ihre eigene Ahnenforschung zu nutzen, sowie diese Medien auch
anderen
zugänglich zu machen und teilt ihre Erfahrungen auf ihrem Blog
"Die Welten
verbinden".
Date: 2021/01/18 15:49:23 From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Eine Weiterleitung aus einem anderen Forum:
Liebe Kollegen,
da ich um das rege Interesse bei euch und Ihnen weiß, möchte ich
auf
eine Veranstaltung mit Dr. Martin Hahn vom Landesamt für
Denkmalpflege
in Baden-Württemberg hinweisen. Am 21.1. um 19 Uhr gibt es via
Zoom die
Gelegenheit zum Austausch über das Projekt ZWÖLF Kirchen.
Vielleicht
interessiert es Sie/ euch oder jemanden im Umfeld. Über eine
Weiterleitung wäre ich dankbar. So nutzt man die Möglichkeit
deutschlandweiter Beteiligung gleich mehr.
Einladung:
"kulturschicht online" ZWÖLF Kirchen mit Dr. Martin Hahn, 21.1. um
19
Uhr
Sehr geehrte Kirchenbauinteressierte,
herzlich darf ich Sie mit dem dritten Gespräch der Reihe
„kulturschicht online" nach Baden-Württemberg einladen. Dort
pausiert
derzeit die Wanderausstellung ZWÖLF Kirchen.
Am 21. JANUAR 2021 UM 19 UHR haben wir Herrn Dr. Martin Hahn zu
Gast.
Er erzählt über das Projekt:
ZWÖLF KIRCHEN(BAUTEN DER NACHKRIEGSMODERNE IN BADEN-WÜRTTEMBERG)
Sakralbauten der Nachkriegszeit hängen oft reichlich
kreativ-despektierliche Umschreibungen an. Begriffe wie
„Betonbunker"
oder „Vater unser-Garage" werden jedoch der vielfach auftretenden
Qualität und Innovation dieser Architekturen nicht gerecht. Daher
veranstaltet das Landesamt für Denkmalpflege im
Regierungspräsidium
Stuttgart gemeinsam mit den (Erz-)Diözesen Freiburg und
Rottenburg-Stuttgart sowie den evangelischen Landeskirchen Baden
und
Württemberg eine Wanderausstellung. Diese begegnet den
verbreiteten
Vorbehalten und wirbt für Bauwerke von erstaunlicher Qualität und
Vielfalt. Denn: _„Keine Mauerblümchen erwarten den Besucher,
sondern
ein opulentes Bouquet aus ZWÖLF beispielhaften Blüten einer
reichen
architektonischen Flora!" (Text zur Ausstellung auf
www.denkmalpflege-bw.de
[1])_
Der Landeskonservator, Dr. Martin Hahn, berichtet über das
Werden, die
Durchführung und Präsenz des Projekts auch während der
Corona-Auszeit. Anschließend gibt es Gelegenheit zum Austausch
anhand
wunderbarer Beispiele.
Mit der Reihe „kulturschicht online" nähern wir uns in digitaler
Kürze unterschiedlichen Themen aus dem Bereich Kultur-, Kunst- und
Kirchengeschichte.
Eine ANMELDUNG per E-Mail bis zum 20.1.2021 UM 12 UHR unter
information(a)katholische-akademie-berlin.de
ist zwingend erforderlich.
Angemeldete Teilnehmer erhalten den Link zur Teilnahme an der
Zoom-Videokonferenz als Bestätigung spätestens am
Veranstaltungstag
per E-Mail.
Da wir derzeit in der Erprobung von Online-Formaten sind, bitte
ich
vorab um Ihr Verständnis, sollte es zu technischen Problemen
kommen.
Für angemeldete Teilnehmer gibt es kurz zuvor die Möglichkeit für
eine Testverbindung sowie technische Hinweise. Weiteres dazu wird
ebenfalls mit der Bestätigungsmail mitgeteilt.
Ich freue mich auf einen interessanten Austausch.
Nur Gutes für Ihr 2021 und bleiben Sie uns gewogen!
Übrigens steht seit kurzem unsere aktuelle Kirchenführung in St.
Marien Liebfrauen, Berlin-Kreuzberg als Video zur Verfügung:
https://youtu.be/WVh3SZ2vZII
[3]
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Roland Geiger
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Date: 2021/01/18 22:48:21 From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Sohn von Johann Meyer und Christina Kosmann
Hallo,
Johann Meyer ausm Betreff heiratet 1807 in St. Wendel Marg.
Juncker, die aus Baltersweiler stammt und gut 26 Jahre älter ist
als er.
Hat jemand ein Geburtsdatum von ihm?
--
Mit freundlichen Grüßen
Roland Geiger
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Date: 2021/01/22 10:07:40 From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Stadtbücher als Medien administrativer
Schriftlichkeit im
Spätmittelalter
Ort Halle (Saale)
Veranstalter Jessica
Back / Hanna Nüllen, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg,
Institut für
Geschichte, Projekt „Index Librorum Civitatum“
Datum 22.09.2020 - 23.09.2020
Von Jessica Back, Institut für Geschichte,
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Ziel des ersten DoktorandInnen-Workshops des
DFG-Langfristvorhabens „Index Librorum Civitatum“ war es,
Einblicke in laufende
Forschungen zur pragmatischen Schriftlichkeit zu bieten, den
wissenschaftlichen
Austausch zu fördern und die wechselseitige Vernetzung zu
erleichtern. Im
Zentrum der Veranstaltung standen vor allem Fragen nach den
Medien, Kontexten
und Trägern kommunalen Schriftguts sowie den Mechanismen von
Aneignung,
Umformung und Weiterentwicklung administrativer Schriftlichkeit
als kultureller
Praxis.
Nach der Begrüßung durch Andreas Ranft, Christian Speer (beide
Halle) und die
beiden Organisatorinnen eröffnete JESSICA BACK (Halle) die erste
Sektion, die
der Stadtbuchproduktion gewidmet war. Sie sprach zunächst über den
Entstehungskontext des ältesten Ratsprotokollbuchs der Stadt
Soest, das 1417/18
im Zusammenhang mit innerstädtischen Unruhen angelegt wurde, und
die an der
Führung des Ratsbuchs beteiligten Schreiber. Anschließend stellte
sie eine
eigens für diesen Band entwickelte Methode der
Wasserzeichenanalyse vor,
mithilfe derer die Lagenstruktur des im 19. Jahrhundert
restaurierten Kodex
rekonstruiert werden konnte. Auf diese Weise war es der Referentin
möglich, die
ursprüngliche Konzeption des Kodex sowie spätere Neukonzeptionen
nachzuzeichnen. Da sich ein zuerst angedachtes sachliches
Gliederungsschema als
zu komplex und unpraktikabel erwiesen habe, sei es schließlich
zugunsten einer
primär chronologischen Reihung der Einträge aufgegeben worden.
Den Produzenten administrativer Schriftlichkeit widmete sich VICKY
KÜHNOLD
(Halle) ganz konkret am Beispiel der schlesischen Stadtschreiber.
Sie zeigte
auf, wie sich das Stadtschreiberamt im spätmittelalterlichen
Schlesien
entwickelte, welche Vergünstigungen mit ihm verbunden waren und
welches
Aufgabenspektrum die Schreiber wahrzunehmen hatten. Neben
Tätigkeiten für den
Rat führten sie u.a. Dienstleitungen für Bürger und gerichtliche
Aufgaben aus,
wodurch die herausgehobene Bedeutung des Amts nicht nur in Bezug
auf die
Stadtbuchführung, sondern in viel breiteren kommunalen und
herrschaftsrelevanten Kontexten deutlich wurde. Auf der Grundlage
prosopographischer Untersuchungen zahlreicher
Stadtschreiberbiographien legte
Kühnold zudem dar, welche Wege ins Stadtschreiberamt führen
konnten. Während
sich ein Universitätsstudium dabei erst seit dem 15. Jahrhundert
verstärkt
beobachten lasse, seien vor allem eine Herkunft aus dem
wohlhabenden
städtischen Bürgertum, persönliche Beziehungen zum Stadtrat sowie
vormalige
Tätigkeiten im Rahmen des öffentlichen Notariats zu konstatieren.
Im Rahmen der zweiten, dem „Ordnen“ gewidmeten Sektion stellte
PATRIZIA HARTICH
(Stuttgart) die reichsstädtischen Kommunikationspraktiken am
Beispiel der
Missivenbücher der Stadt Esslingen vor. Anhand der 44
überlieferten Bände, die
eine Laufzeit von 1434 bis 1598 abdecken, konnte Hartich für das
15.
Jahrhundert nachweisen, dass die Führung der Korrespondenzregister
in erster
Linie von den jeweiligen Schriftproduzenten abhing. Während einige
Schreiber
vorwiegend Konzepte ausgehender Schreiben in die Bücher eintrugen,
notierten
andere Abschriften bereits versandter Briefe oder beschränkten
sich auf die
Wiedergabe des wesentlichen Missiveninhalts. Zum Teil lasse sich
zudem eine
Kooperation der verschiedenen Akteure der städtischen Kanzleien
beobachten,
wenn mehrere Schreiber an der Produktion eines Eintrags beteiligt
waren. Die
Funktion der Esslinger Missivenbücher sei mithin primär die eines
schriftlichen
Gedächtnisses der ausgehenden städtischen Korrespondenz.
Die Praktiken des Recht-Schreibens in den Stadtbüchern der
wetterauischen
Reichsstädte Friedberg und Gelnhausen standen im Zentrum des
Vortrags von HANNA
NÜLLEN (Halle). Auf der Basis einer Untersuchung von
Charakteristiken wie
Sprachusus, Formulargebrauch und Temporalität arbeitete sie zum
einen
schreiberspezifische Verschriftlichungsmodi und zum anderen
akteursunabhängige
Sprachstrukturen der Bücher heraus. Darauf aufbauend entwickelte
sie ein Modell
dreier distinkter Verschriftlichungsformen von
Rechtszusammenhängen: das
Kompilieren, das Protokollieren und das Kodifizieren. Die
jeweiligen Praktiken
unterschieden sich primär durch die zugrundeliegenden Selektions-
und damit
Produktionsmechanismen von Information, was sich zudem in ihrer
sprachlichen
Gestaltung ausdrücke. Das Kompilieren bestehe in einer Auswahl und
Neuanordnung
bereits schriftlich vorliegenden Materials, welches so
ausgedeutet, angeeignet
und zur Konstruktion einer städtischen Rechtsvergangenheit genutzt
werde.
Strukturbildend für das Protokollieren sei die Selektion aus
Anwesenheitskommunikation, die die Protokolle durch diverse
sprachliche Mittel
zu referenzieren und zu reproduzieren versuchten. Dem Kodifizieren
liege ein
komplexer Vorgang der Aushandlung unterschiedlicher Formen des
Rechtswissens
zugrunde, dessen Basis sowohl bestehende Schriftlichkeit als auch
implizites
wie explizites Wissen der Träger und Produzenten darstellten.
In der Sektion „Visualisieren“ erweiterte DAVID GNIFFKE
(Münster/Darmstadt) mit
seinem Beitrag zur Heberegisterserie des
Augustiner-Chorherrenstifts Frenswegen
das Blickfeld des Workshops nicht nur um administrative
Schriftlichkeit aus
monastischen Kontexten, sondern auch um einen alternativen
methodischen
Zugriff. Er stellte die Frage nach der Wirksamkeit spezifischer
Eigenschaften
schrifttragender Artefakte auf soziale Interaktionen ins Zentrum
seiner
Untersuchung. Dabei fokussierte er insbesondere die
Interdependenzen der
materiellen, visuellen, textuellen und räumlichen Charakteristika
administrativer Schriftlichkeit. Er modellierte diese Beziehungen
in einem
methodischen Dreischritt aus der Realienkunde, bestehend aus 1.
der genauen
Beschreibung, 2. der Analyse der Verwendungszusammenhänge und 3.
der
Rückwirkungen auf die Anwendungspraxis des Objektes. Dabei
demonstrierte er,
wie sich die Bedingungen materieller und zweidimensionaler
Begrenzung des
Schriftraums unter den Herausforderungen grundherrlicher
Informationsverarbeitung auf die Wandlung tabellarischer
Strukturen und
Ergänzung von Schedulae in der Heberegisterserie während des 15.
und 16.
Jahrhunderts auswirkten. Es gelang ihm so schließlich, die den
Objekten eigene
Agentialität in der grundherrlichen Verwaltungspraxis abzustecken.
In der vierten Sektion ging es um Praktiken des Wirtschaftens und
ihren
Niederschlag in städtischer Schriftlichkeit. MONIKA GUSSONE
(Mannheim) widmete
sich der Schuldenwirtschaft und insbesondere informellen
Kreditpraktiken als
Faktoren sozialer Kohäsion im spätmittelalterlichen Kalkar. Anhand
der
schriftlichen Belege für niedrigschwellig und auf Vertrauensbasis
gewährte
Kredite in Stadtrechnungen, Mahnbüchern, Zinslisten,
Gerichtsprotokollen,
Inventaren und Testamenten demonstrierte sie, wie die städtische
Gesellschaft
von Schulden durchsetzt war. Diese seien von Personen aus
sämtlichen Schichten
oftmals auf Vertrauensbasis aufgenommen und teilweise über längere
Zeiträume
oder gar niemals zurückbezahlt worden. Trotz der Informalität,
wenn auch nicht
Formlosigkeit dieser Kreditpraktiken tauchten diese unter anderem
im
städtischen Schriftgut beispielsweise bei Pfandsetzungen,
Stundungen oder
verzögerten Zahlungen auf. Besonderes Interesse weckten dabei
sowohl die
Fortnutzung der Kerbholznotierung in den buchförmigen Zinslisten
als auch die
zeitgenössische Benennung der Stadtrechnungskonzepte als
„Carffstock“.
Die Frage, unter welchen Umständen welche Geschäfte überhaupt in
Stadtbüchern
verschriftlicht wurden, beschäftigte MAX GRUND (Kiel) in seinem
Vortrag zur
Absicherung kleinstädtischer Wirtschaft im Stadtbuch. In den
Stadtbüchern von
Weimar, Kamenz und Lübben untersuchte er nicht nur, welche Typen
von Geschäften
eingetragen wurden, sondern zeigte am Beispiel von Zinszahlungen,
dass sich die
Formen der Einträge deutlich voneinander unterscheiden konnten. So
seien sowohl
in Weimar als auch im älteren Kamenzer Stadtbuch nur ein Bruchteil
der Einträge
vollständig bzw. überhaupt hinsichtlich des Geschäfts- und
Zinswerts
auswertbar. Darüber hinaus hob er hervor, dass zahlreiche
Geschäfte aufgrund
der geringen Höhe der betreffenden Beträge und der im Vergleich
dazu höheren
Gebühren, die für einen Eintrag im Stadtbuch anfallen konnten, nie
Eingang in
die städtische Buchschriftlichkeit fanden. Dennoch ließen sich in
den untersuchten
Städten unterschiedliche Gruppen feststellen, welche die den
Geschäften
nachgeordnete Schriftlichkeit nutzten, um diese zusätzlich
abzusichern.
Im abschließenden Vortrag untersuchte LUISE CZAJKOWSKI (Leipzig)
die Varianz
und den Wandel der Schreibsprachen im
niederdeutsch-ostmitteldeutschen
Übergangsraum. Auf der Basis eines acht Stadtbücher und 39
Urkunden umfassenden
Quellenkorpus legte sie den genauen raumzeitlichen Verlauf der
Verdrängung des
Niederdeutschen aus dem nördlichen ostmitteldeutschen Sprachraum
in der Zeit
von 1365 bis 1490 dar. Dabei sei es möglich, zwischen dem (im
Schriftlichen
festgehaltenen) Sprachwandel in der gesprochenen Sprache und dem
seit dem 16.
Jahrhundert ausschließlich im Schriftlichen vollzogenen
Sprachwechsel zu unterscheiden.
Da Czajkowski die besonders signifikanten sprachlichen Merkmale
und Wortformen
für verschiedene Zeitabschnitte kartiert hat, stehe nunmehr für
den
untersuchten Raum ein interdisziplinär nutzbares Hilfsmittel zur
Datierung von
Schriftstücken zur Verfügung.
Die meisten Vorträge und Diskussionsbeiträge beleuchteten neben
der
spezifischen Materialität buchförmiger Schriftlichkeit auch die
Bedeutung
exogener Faktoren für Aufbau, Inhalt und Funktion von Stadtbüchern
aus
unterschiedlichen Blickwinkeln. Während einige Vortragende
akteurszentrierte
Analysen vorschlugen, machten andere die Objekte selbst oder
städtische
Gesellschaften im Allgemeinen zum Ausgangspunkt ihrer
Untersuchungen. Trotz der
daraus resultierenden Themenvielfalt bildeten sich einige
gemeinsame Fragen
heraus. Als besonders relevant erwies sich die quellentypologische
Abgrenzung
von Stadtbüchern zu nicht-buchförmiger Schriftlichkeit sowie zum
Schriftgut
monastischen oder fürstlichen Verwaltens. Darüber hinaus wurden
vor allem die
Nutzungs- und Funktionalitätsspektren buchförmigen
Verwaltungsschriftgutes in
vormodernen städtischen Gesellschaften, vor allem im Hinblick auf
Vergesellschaftung und Herrschaftsausübung, diskutiert. Damit
knüpfte der
Workshop an zentrale Fragestellungen der Stadtbuchforschung an,
deren
interdisziplinäre Erörterung durch eine weitere Vernetzung künftig
ermöglicht
werden sollte.
Konferenzübersicht:
Begrüßung
Sektion 1: Produzieren
Moderation: Mathias Franc Kluge (Augsburg)
Jessica Back (Halle): Deus Assit. Zur Genese des ältesten
sogenannten
Ratsprotokollbuchs der Stadt Soest (1414–1509)
Vicky Kühnold (Halle): „Eyn ouge und eyn munt des rates“. Das
Stadtschreiberamt
im spätmittelalterlichen Schlesien
Sektion 2: Ordnen
Moderation: Marc von der Höh (Rostock)
Patrizia Hartich (Stuttgart): Mit Brief und Buch. Reichsstädtische
Kommunikationspraxis im ausgehenden Mittelalter
Hanna Nüllen (Halle): Recht Schreiben. Praktiken der
administrativen
Wissensproduktion in Friedberg und Gelnhausen
Sektion 3: Visualisieren
Moderation: Marc von der Höh (Rostock)
David Gniffke (Münster/Darmstadt): Listen, Tabellen, Zettel.
Beobachtungen zur
Visualität und Materialität der Heberegisterserie des
Chorherrenstifts
Frenswegen (1415–1580)
Sektion 4: Abrechnen
Moderation: Andreas Ranft (Halle)
Monika Gussone (Mannheim): Pragmatisches Schriftgut als Quelle für
informelle
Kreditpraktiken in spätmittelalterlichen Städten am Niederrhein
Max Grund (Kiel): „Zu mehrer Sicherheit in unser Stat Buch
vorschreiben
lassin“. Die Absicherung kleinstädtischer Wirtschaft im Stadtbuch
Sektion 5: Kommunizieren
Moderation: Andreas Ranft (Halle)
Luise Czajkowski (Leipzig): Varianz und Wandel historischer
Schreibsprachen
Ostmitteldeutschlands
Ort Tübingen
Veranstalter Projekt
„Gräberfeld
X", Institut für Geschichtliche Landeskunde und Historische
Hilfswissenschaften, Universität Tübingen
Datum 15.10.2020 - 16.10.2020
Von Shaheen Gaszewski,
Institut für
Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften,
Eberhard Karls
Universität Tübingen
Das Gräberfeld X des Tübinger Stadtfriedhofs ist die ehemalige
Begräbnisstätte
des Anatomischen Instituts. Im „Dritten Reich“ wurden dort
vorrangig
Hingerichtete, ZwangsarbeiterInnen, Kriegsgefangene und andere
Opfer des
nationalsozialistischen Regimes beigesetzt, deren Leichen zuvor
Lehr- und
Forschungszwecken gedient hatten. Nachdem Benigna Schönhagen in
den 1980-er
Jahren einen grundlegenden Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte
des
Gräberfeldes X in der NS-Zeit geleistet hatte und das Stadtarchiv
Tübingen
2018/19 neue Leichenlisten erschließen konnte, nahm im Januar 2020
ein von
Stadt und Universität getragenes Forschungsprojekt unter
Schönhagens Leitung
die Arbeit auf. Seine Ziele liegen in der Aufarbeitung und
Kontextualisierung
weiterer Opferbiographien, der Verortung der Tübinger Anatomie im
Spektrum
anderer anatomischer Institute im deutschsprachigen Raum in der
NS-Zeit sowie
in der Diskussion, wie das Gedenken an diese Opfer zukünftig in
der lokalen
Erinnerungskultur verankert werden kann. Nachdem der für Mai
geplante
Auftaktworkshop aufgrund der Corona-Pandemie entfallen musste,
kamen im Oktober
ExpertInnen zur Entwicklung Anatomischer Institute und zu
einzelnen
Opfergruppen des Gräberfeldes X zu einer zweitägigen Tagung
zusammen. Aufgrund
der zeitlichen Verschiebung konnte das Team um Schönhagen bereits
erste
Forschungsergebnisse präsentieren.
Den Workshop eröffneten der Rektor der Universität Tübingen, Bernd
Engler, und
die Tübinger Bürgermeisterin für Soziales, Ordnung und Kultur,
Daniela Harsch,
mit Grußworten. Sie betonten die Bedeutung der Auseinandersetzung
mit dem im
Gräberfeld X greifbaren nationalsozialistischen Unrecht und
unterstrichen die
Besonderheit eines gemeinsamen Projekts von Stadt und Universität.
BENIGNA SCHÖNHAGEN und STEFAN WANNENWETSCH (beide Tübingen)
führten in das
aktuelle Forschungsprojekt ein. Sie schlüsselten die Verstorbenen
des Gräberfeldes
X der Jahre 1933-1945 nach unterschiedlichen Kriterien auf und
konstatierten
eine Zäsur durch kriegsbedingte Veränderungen. Zu Anfang habe es
sich bei den
Toten aus der Anatomie vor allem um mittellose deutsche Männer
gehandelt.
Während des Krieges habe sich die Anatomie dann überwiegend
ausländischer
Männer bedient, die fast alle Opfer der NS-Gewaltherrschaft
geworden waren.
Anschließend erläuterten Schönhagen und Wannenwetsch die Zugänge
und
Schwerpunkte ihrer Arbeit. Als produktiv erachteten sie die
Spannung zwischen
dem Gräberfeld X als physischem und symbolischem Ort. Ersterer
umfasse alle
dort Begrabenen, während der symbolische Ort die
erinnerungskulturelle
Dimension repräsentiere, die sich bislang ausschließlich auf die
dort
bestatteten NS-Opfer beziehe. Diese Spannung gelte es für den
weiteren
Erinnerungsdiskurs produktiv zu nutzen. Eine Problematisierung des
Opferbegriffs ermögliche es, auch die „normalen“ Anatomietoten in
den Blick zu
nehmen, denn auch über ihre Leichname wurde ohne ihre Zustimmung
verfügt. Als
weitere Perspektive für ihre Arbeit diene Schönhagen und
Wannenwetsch die Rolle
der Anatomie als universitär verflochtene Institution. Da es sich
bei der
Anatomie um eine medizinische Hilfs- und Grundlagenwissenschaft
handelt, seien
die Grenzen zu anderen medizinischen Einrichtungen fließend.
Zusätzlich sei die
Verflechtung mit einer Wehrmachtseinrichtung, der Marineärztlichen
Akademie,
als Tübinger Spezifikum hinzugetreten. Sie habe möglicherweise
dazu
beigetragen, dass die Tübinger Anatomie frühzeitig und in großem
Umfang auf die
Leichen sowjetischer Kriegsgefangener Zugriff erlangte.
MATHIAS SCHÜTZ (München) lieferte einen Überblick über die
Entwicklung des
Faches Anatomie während des Nationalsozialismus, wobei er seinen
Fokus auf die
strukturellen Bedingungen dieser Wissenschaft sowie auf
persönliche und
ideologische Motive der Anatomen legte. Ein Vergleich
verschiedener Anatomen
wie Max Clara (Leipzig/München), Walther Vogt (München) und August
Hirt
(Greifswald/Frankfurt/Straßburg) zeige, dass deren Handeln und
ihre etwaigen
ethischen Grenzüberschreitungen oft weniger auf ideologische
Überzeugungen als
auf wissenschaftliche Forschungsinteressen in Kombination mit
persönlichen
Karriereambitionen zurückzuführen seien. So habe der Münchener
Anatom Titus von
Lanz, der 1938 wegen seiner halbjüdischen Ehefrau entlassen wurde,
seine
Forschungen dennoch in den Dienst der „Rassenhygiene“ gestellt,
während der
Tübinger Ordinarius und NS-Funktionär Robert Wetzel als Leiter der
Anatomie
keine dezidiert rassenhygienischen Forschungen betrieben habe,
sondern nur um
die Beschaffung von Leichen für Lehrzwecke bemüht gewesen sei. Die
vermehrte
Nutzung von Leichen Hingerichteter im Krieg könne als Versuch
gesehen werden,
das strukturelle Problem des Leichenmangels zu beseitigen. Da die
Hingerichteten unmittelbar nach dem Eintritt ihres Todes seziert
werden
konnten, hätten die Anatomen auf diese Weise zugleich versucht,
ihre Disziplin
näher „ans Leben“ zu rücken.
ROLF KELLER (Celle) gab einen umfassenden Überblick zu den
sowjetischen
Kriegsgefangenen und kontrastierte die völkerrechtlichen Normen
mit der Praxis.
So hätten Kriegsgefangenenlager eigentlich unter internationaler
Aufsicht
gestanden, welche die Einhaltung des Völkerrechts sicherstellen
sollte. Die
Wehrmacht habe dies jedoch bei den sowjetischen Kriegsgefangenen
verweigert und
diesen damit grundlegende Menschenrechte verwehrt. Formal wurde
dies mit der
Nichtunterzeichnung der Genfer Konvention durch die UdSSR
gerechtfertigt. Dies
betrachtete Keller jedoch als Vorwand der Wehrmacht, da auch die
Haager
Landkriegsordnung einen solchen Umgang mit den sowjetischen
Kriegsgefangen
verbot. Einen besonderen Fall habe die Auslieferung von toten
Kriegsgefangenen
an Anatomische Institute dargestellt. Keller problematisierte
diese
Auslieferungen. Zwar thematisiere die Genfer Konvention das
Sezieren der
Leichen nicht, doch schreibe sie eine würdevolle Beisetzung der
Kriegsgefangen
vor, was die Verwendung in Anatomien ausschließe. Mit Verweis auf
die
Universität Göttingen, die zahlreiche verstorbene Kriegsgefangene
aus der
Umgebung bezogen habe, relativierte Keller den von Schönhagen und
Wannenwetsch
vermuteten Sonderstatus der Tübinger Anatomie in Bezug auf den
frühen Zeitpunkt
des Bezugs von Leichen sowjetischer Kriegsgefangener.
Am Ende des ersten Tages besuchten die TeilnehmerInnen gemeinsam
das Gräberfeld
X.
CHRISTINE GLAUNING (Berlin) sprach über Zwangsarbeit in der
NS-Gesellschaft,
wobei sie deren Dynamik, Fluidität und Allgegenwärtigkeit
herausarbeitete. So
seien im Verlauf des Krieges annähernd 1,1 Millionen
Kriegsgefangene aus der
Wehrmacht entlassen und in den Zivilarbeiterstatus überführt
worden, damit sie
in formaler Hinsicht legal in der Kriegsindustrie eingesetzt
werden konnten.
Glauning beleuchtete die Spannung zwischen Ökonomie und Ideologie,
die sich auf
die Zwangsarbeit im „Dritten Reich“ ausgewirkt habe. So sei
Zwangsarbeit durch
den großflächigen Einsatz zu einem unübersehbaren Phänomen
geworden, was die
von SS, Reichssicherheitshauptamt und Gestapo gewünschte strikte
Trennung der
rund 13 Millionen ausländischen ArbeiterInnen von der deutschen
Gesellschaft,
vor allem im ländlichen Raum, unmöglich gemacht habe. Die
Kontakte, die hier
zwischen ausländischen ZwangsarbeiterInnen und Deutschen
entstanden, führten
einerseits zu einer Verbesserung des Rufs der von der NSDAP als
„Untermenschen“
dargestellten Osteuropäer. Andererseits provozierte dieser
„verbotene Umgang“,
den nicht wenige Deutsche mit den Ausländern pflegten, auch viele
Denunziationen. Die Bestrafung des „verbotenen Umgangs“, so
Glauning, wurde
folglich von großen Teilen der deutschen Bevölkerung begrüßt und
durch aktive
Mitwirkung begünstigt. Die hingerichteten ZwangsarbeiterInnen
kamen wiederum
zumeist in das nächstgelegene Anatomische Institut.
SABRINA MÜLLER (Stuttgart) befasste sich mit der Strafjustiz in
Stuttgart im
Nationalsozialismus. Im Fokus stand die Urteilspraxis des
Sondergerichts
Stuttgart (142 Todesurteile) und der Strafsenate des
Oberlandesgerichts
Stuttgart (14 Todesurteile). Bei ihren Recherchen hat Müller
festgestellt, dass
sich diese Gerichte seit dem Kriegsbeginn 1939 erkennbar
radikalisierten. Das
Sondergericht ahndete vor allem Eigentumsdelikte von „gefährlichen
Gewohnheitsverbrechern“ und „Volksschädlingen“ im Namen des
„gesunden
Volksempfindens“ mit hohen Zuchthaus- und Todesstrafen. Die
Richter hätten den
Ermessensspielraum, den selbst die NS-Gesetze boten, nicht
zugunsten der
Angeklagten genutzt, sondern dezidiert drakonische Urteile
gefällt. Somit seien
die Richter selbst zu einem erheblichen Maß für die
Radikalisierung der
Strafjustiz verantwortlich gewesen. 1943 kam es zu einer
deutlichen Zunahme von
Todesurteilen und Hinrichtungen in Stuttgart. Müller sah darin
nach der Wende
in Stalingrad einen Versuch, die Schuld für den Kriegsverlauf auf
„innere
Feinde“ zu lenken. Kein einziger der Staatsanwälte und Richter,
die
Todesurteile beantragt oder gefällt haben, wurde nach 1945 von
einem
westdeutschen Gericht rechtskräftig verurteilt. Die meisten
Stuttgarter
NS-Juristen waren vielmehr ab 1950 wieder im Justizdienst der BRD
tätig.
ANNETTE EBERLE (München/Benediktbeuren) widmete sich den
Feindkategorien
„Asoziale“ und „Berufsverbrecher“. Da die Opfer auch in der
Forschung hinter
diesen Fremdbezeichnungen zu verschwinden drohen, fasste sie die
Betroffenen
unter den Begriff „Verfolgte der NS-Gesundheitspolitik“. Damit
machte sie
zugleich deutlich, dass Psychiater und Mediziner im Verbund mit
Fürsorgern und
Juristen bei der Konstruktion dieser Feindkategorien eine zentrale
Rolle
gespielt hatten, und zwar schon in der frühen Weimarer Republik,
wie das
Beispiel Gustav Aschaffenburg zeige. Er hatte den Begriff
„asozial“ 1922 für
Menschen geprägt, die sich in seinen Augen infolge ihrer
Charaktermerkmale
„kriminell“ oder „antisozial“ verhielten. Trotz dieser
Kontinuitätslinien
stelle das Jahr 1933 einen Wendepunkt dar. So forderte
Reichsinnenminister
Wilhelm Frick laut Eberle einen „Krieg“ gegen „die rassisch
Minderwertigen“.
Denn ihre Pflege bürde dem deutschen Volk nicht nur unerträgliche
Kosten auf,
sondern schwäche auch dessen „Erbmasse“. Rechtlich hätten die
Einführung von
Zwangssterilisation und Sicherungsverwahrung die Weichen neu
gestellt. In der
Folge hätten die Einweisungen in „Arbeitshäuser“ und
Fürsorgeeinrichtungen
rapide zugenommen. Zugleich seien als „asozial“ Stigmatisierte
immer öfter in
Polizeihaft oder Konzentrationslager gekommen. Das Konstrukt
„Gewohnheitsverbrecher“ zielte auf eine ähnliche Klientel, da es
sich in der
Praxis laut Eberle vor allem gegen Kleinkriminelle und
Prostituierte richtete.
Im Krieg wurde für diese Gruppe die Todesstrafe eingeführt. Die
als „asozial“
Verfolgten seien durch Vernachlässigung oder Zwangsarbeit im Krieg
in sehr
großer Zahl zu Tode gekommen.
BERND REICHELT (Ulm/Zwiefalten) und THOMAS MÜLLER (Ulm/Weißenau)
präsentierten
erste Forschungsergebnisse zur Heilanstalt Zwiefalten und ihrer
Beziehung zur
Tübinger Anatomie im Nationalsozialismus. Ausgehend vom Beispiel
des Patienten
Johannes Hilzinger, der nach 24 Jahren Aufenthalt in Zwiefalten
starb, nach
Tübingen verbracht und im Gräberfeld X bestattet wurde,
beschrieben die
Referenten die Lebens- und Unterbringungsbedingungen der Patienten
in
Zwiefalten. Dabei vermerkten sie, dass dort auffallend viele
Langzeitpatienten,
vor allem aus unteren sozialen Schichten, untergebracht waren.
Anhand von
Statistiken zeigten Reichelt und Müller auf, dass der quantitative
Höhepunkt an
Überweisungen zwischen 1937 und 1940 lag und dass 1940 die Anzahl
der
Kurzzeitpatienten (max. 1 Jahr) stark überwog. Generell stieg im
Krieg,
insbesondere ab 1941, die Mortalitätsrate in der Heilanstalt
Zwiefalten
deutlich. Sie erreichte 1945 ihren Höhepunkt. Als Ursache dafür
nannten die
Referenten eine gezielte Verwahrlosung der Patienten. Nachgewiesen
sind auch
vereinzelte Krankenmorde. Die Leichenüberführungen aus Zwiefalten
nach Tübingen
hingegen sanken ab 1940 stetig, 1944 habe der letzte Transport
stattgefunden.
Mit Auszügen aus Krankenakten ergänzten Reichelt und Müller die
Statistik um
die individuelle Perspektive der Betroffenen.
HANS-JOACHIM LANG (Tübingen) beschäftigte sich mit dem
„Paradigmenwechsel“ bei
der Leichenbeschaffung in deutschen Anatomien während des
Nationalsozialismus.
Um den allgegenwärtigen Leichenmangel zu beheben, habe ein
Großteil der
deutschen Anatomen zunächst die neuen Möglichkeiten genutzt, die
das NS-Regime
unter Kriegsbedingungen eröffnete. Sie nutzten fortan die Leichen
von
verstorbenen Kriegsgefangenen, ZwangsarbeiterInnen und
Hingerichteten. Einen
„Paradigmenwechsel“ habe dann die Anatomen-Tagung des
NS-Reichsdozentenbundes
im November 1942 in Tübingen eingeleitet. Unter dem unscheinbar
klingenden
Programmpunkt „Pläne für später“ sei hier der Vorschlag
aufgekommen, dass die
Anatomen, so der Straßburger Anatom August Hirt, „Material sammeln
und
verarbeiten sollen, wie wir es im Auftrag Beger schon festgelegt
haben“. Der
„Auftrag Beger“, so erklärte Lang, bezog sich auf die damals schon
geplante
jüdische Skelettsammlung Hirts, für welche die Anthropologen Bruno
Beger und
Hans Fleischhacker dann im Juni 1943 jüdische Häftlinge in
Auschwitz
selektierten. Dass diese Häftlinge zum Zeitpunkt des
Leichenbeschaffungsauftrags noch lebten und allein für
Forschungszwecke im KZ
Natzweiler ermordet wurden, bezeichnete Lang als
Paradigmenwechsel. Hirt habe diesen
Paradigmenwechsel vollzogen. Wenn Langs Eindruck von der Tübinger
Tagung 1942
richtig ist, waren auch andere Anatomen dazu grundsätzlich bereit.
Eine Podiumsdiskussion unter der Leitung des Tübinger
Kreisarchivars Wolfgang
Sannwald über die Zukunft des Gräberfeldes X in der Tübinger
Erinnerungskultur
beschloss die Tagung. Die Debatte kreiste unter anderem um eine
mögliche
Einbindung von Nachfahren der Opfer in die Erinnerungskultur.
Inwiefern sich
ein Friedhof als arbeitende Gedenkstätte eigne, war ein weiterer
Diskussionspunkt. Alternativ wurden die Errichtung eines
Dokumentationszentrums
im städtischen Raum, aber auch eine verstärkte Präsenz des
Gräberfeldes X in
der universitären Lehre – insbesondere bei der Ausbildung von
Anatomen und
Medizinern – diskutiert.
Die Tagung ermöglichte einen Austausch über sehr unterschiedliche
NS-Opfergruppen, die in der Forschung zumeist getrennt behandelt
werden. Hier
zeigt sich die Rolle der Anatomien als Spiegel der
NS-Gewaltherrschaft.
Aufgrund des weitgehenden Fehlens jüdischer Opfer repräsentieren
die Anatomien
eine spezifische „Normalität“ der NS-Herrschaft im Deutschen
Reich, die es
weiter zu erklären gilt. Denn die Geschichten der Anatomien lassen
sich nicht
bruchlos in gängige Narrative zur NS-Herrschaft einfügen.
Erinnerungskulturell
stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von traditionellen
Anatomieleichen
und NS-Opfern und einem angemessenen Umgang mit beiden.
Rolf Keller (Celle): Wehrmacht und Kriegsgefangene.
Forschungsstand und
Forschungsperspektiven
Christine Glauning (Berlin): Zwangsarbeit in der NS-Gesellschaft
Sabrina Müller (Stuttgart): Radikalisierung der Strafjustiz in
Stuttgart
Annette Eberle (München/Benediktbeuren): Verfolgte der
NS-Gesundheitspolitik.
Die Feindkategorien „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“
Bernd Reichelt (Ulm/Zwiefalten) / Thomas Müller ( Ulm/Weißenau):
Vermerk
„Anatomie“. Überführte verstorbene Patientinnen und Patienten der
Heilanstalt
Zwiefalten in das Anatomische Institut der Universität Tübingen in
der Zeit des
Nationalsozialismus
Hans-Joachim Lang (Tübingen): „Pläne für später“. Der Straßburger
Anatom August
Hirt und der Paradigmenwechsel bei der Leichenbeschaffung
Helen Ahner / Bernd Grewe / Bernhard Hirt / Wolfgang Sannwald /
Dagmar Waizenegger
(alle Tübingen): Der Ort des Gräberfelds X in der
Erinnerungskultur von Stadt
und Universität
Date: 2021/01/25 18:19:45 From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Juristen
als Experten: Eine Untersuchung der Wissensbestände und
Diskurse der Juristen
im 16. und 17. Jahrhundert
Veranstalter
Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung;
Justus-Liebig-Universität
Gießen
Datum 19.11.2020 - 20.11.2020
Von Annalina Benner / Lena Frewer / Julia Carolin Hinze / Filip
Emanuel
Schuffert, Justus-Liebig-Universität Gießen, Historisches
Institut
Der Workshop sollte dazu dienen, Juristen als Experten auf
verschiedenen
Wissensgebieten näher zu betrachten. Dabei ging es vor allem um
Diskurse und
Diskursmodi der Juristen in unterschiedlichen Zusammenhängen und
um die
Grundlagen und die Verbreitung ihres Wissens. In drei
Themenkomplexen sollte
untersucht werden, ob und wie sich aktuelle Denkmodelle über
Wissen, Wissensgenerierung
und Experten für die Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts
fruchtbar machen
lassen.
ANETTE BAUMANN (Wetzlar/Gießen) stellte in der Einleitung erste
Definitionsansätze für die Rolle des Richters als Experten zur
Verfügung, u.a.
von Luckmann/Berger, Ludwik Fleck und Cornel Zwierlein. Unter
Nutzung
zahlreicher Beispiele stellte sie heraus, welche Aufgaben und
Funktionen der
Justiz im 16. und 17. Jahrhundert zufielen und in welcher
Verbindung und
Verantwortung juristische Experten zu und gegenüber anderen
Akteuren der
frühneuzeitlichen Ständegesellschaft standen. Entscheidend ist,
dass dem
juristischen Experten eine Rolle zukam, in der er die
Öffentlichkeit
entlastete, da er unter der Verwendung von rechtseigener
Sprache,
Gesetzestexten und Rechtstheorien die Komplexität der Welt
erklärte und so zur
Orientierung beitrug. Es wird angenommen, dass dieser im steten
Austausch mit
weiteren Angehörigen seiner Profession stand, um diese
Kompetenzen zu erlangen
und den Rang eines Experten zu erreichen. Dabei entstand ein
Denkstil, der die
Anschauung der Mitglieder des Kollektivs prägte und zu einer
Verbindlichkeit in
richterlichen Entscheidungen beitrug. Diesem Ansatz stellte
Baumann die
Verbindung zahlreicher Juristen der frühen Neuzeit zu weiteren
Disziplinen wie
Kartografie, Mathematik und Optik gegenüber. Sie zeigte, dass
die Richter im
16. Jahrhundert ein Bewusstsein für die Abhängigkeit der
Erkenntnis von
verschiedenen Standorten und Standpunkten besaßen.
In der Sektion Juristisches Wissen und Gesellschaft
verwies TOBIAS
SCHENK (Wien/Göttingen) wiederholt auf die Quellenlage zur
juristischen Praxis
im 16. und 17. Jahrhundert hin und betonte das methodische
Potential der
genetischen Aktenkunde. In der Erforschung und Beschreibung
frühneuzeitlicher
Entscheidungsprozesse fehlt eine epochenübergreifende Aktenkunde
der Justiz und
es mangelt an einer methodischen Auseinandersetzung, die das
Zusammenspiel
zwischen Prozessakten und -protokollen berücksichtigt. Eine
besondere
Schwierigkeit besteht außerdem darin, dass die mündliche
Abstimmung der Richter
nicht ersichtlich ist. Schenk wies außerdem darauf hin, dass bei
den
Kollegialgerichten nicht davon ausgegangen werden kann, dass
alle Akteure eine
gleichmäßige Aktenkenntnis besaßen, sondern angenommen werden
muss, dass die
Einsichtnahme nur durch die Berichterstatter erfolgte.
DAVID VON MAYENBURG (Frankfurt am Main) referierte über die
Rolle und Bedeutung
von Juristen und juristischem Fachwissen bei Pestepidemien.
Dabei sei zwischen
der Bedeutung der Expertise von Juristen und der Rolle von
Juristen als
Experten zu differenzieren. Da auch Theologen und Mediziner als
Experten
angesehen wurden, habe zwischen den Disziplinen ein ständiger
Wettstreit
geherrscht. Am Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit seien
zunächst die
Mediziner diskursbestimmend gewesen, während die Juristen
untereinander über
die (zivil-)rechtlichen Folgen der Pest gestritten hätten. Mit
der Ablösung der
Miasmentheorie (Übertragung von Krankheitserregern durch
Fäulnisprozesse in der
Atemluft) und der Delegitimierung der Mediziner im 16.
Jahrhundert hätten sich
aber zunehmend die Juristen durchgesetzt. Ausschlaggebend, so
Mayenburg, sei
dabei aber weniger das juristische Fachwissen als die
juristische Denkweise,
Methodik und Kompetenz gewesen, wodurch die Verwaltung erst
befähigt wurde,
ordnungspolitische Maßnahmen wie Quarantänen durchzusetzen.
Die Entstehung und Verbreitung juristischer Expertendiskurse im
Reich zeichnete
KARL HÄRTER (Frankfurt am Main) nach. Juristische Gutachten und
Prozessschriften,
also juristische Expertise, blieben kein intradisziplinäres
Geheimwissen,
sondern wurden im 16. Jahrhundert durch Publikationen
verbreitet. Praktiken der
Wissensdistribution zielten jedoch nicht allein auf das
Fachpublikum ab,
sondern fanden auch Eingang in die populären Medien. Durch die
Rezeption dieser
Schriften konnten sich auch juristische Laien Fachwissen
aneignen. Zusätzlich
konnte juristische Expertise auch empirisch, z.B. durch
Prozessbeobachtungen,
gewonnen werden. Dieser Vorgang beschränkte sich nicht nur auf
professionelle
Juristen (Volljuristen). Die Rezeption juristischer Diskurse und
die Teilnahme
an Gerichtsprozessen sei auch nichtstudierten praktischen
Juristen und Laien
möglich gewesen. Damit habe sich juristische Expertise präventiv
auch auf
alltägliche Probleme ausweiten und -wirken können. Baumann
resümierte
abschließend, juristisches Wissen sei kein ausschließliches
Elitenwissen
gewesen.
SABINE HOLTZ (Stuttgart) zeigte am Beispiel der Tübinger
Rechtsprofessoren, wie
die Rechtsprechung professionalisiert wurde. Im 17. Jahrhundert
seien die
Stadtgerichte in Württemberg bei komplizierten oder besonders
schwerwiegenden
Fällen verpflichtet gewesen, sich an die Tübinger
Juraprofessoren zu wenden und
deren Rechtsgutachten anzufordern. Diese Expertise der Tübinger
Professoren
hätten im Laufe der Zeit auch andere Stände und Territorien in
Anspruch
genommen. Das Erstellen von Gutachten sei damit eine zentrale
Aufgabe der
Tübinger Professoren geworden. Die Fällung des endgültigen
Urteils blieb dabei
aber immer den örtlichen Gerichten vorbehalten. Holtz sieht die
Konsiliarpraxis
als eine Modernisierung der Prozessführung, da die Hinzuziehung
der
Rechtsgelehrten den Prozess verschriftlicht und mögliche
Befangenheiten vor Ort
verhindert habe. So sei kein Fall einer versuchten Einflussnahme
einer
Konfliktpartei auf die Professoren bekannt.
In der Sektion Möglichkeiten der Generierung von
Wissensbeständen sprach
STEPHAN BRAKENSIEK (Trier) über die Bedeutung von
Sammlungstätigkeiten für die
akademische Öffentlichkeit der Frühen Neuzeit im Allgemeinen und
für Juristen
des 16. und 17. Jahrhunderts im Besonderen. Er stellte dabei
zunächst den
semiotischen Charakter von Objekten in Kunst- und Wunderkammern
sowie die
Funktionsweise von Ordnungssystemen im Sinne der Mnemotechnik
als grundlegende
Charakteristika dieser Sammlungskontexte heraus. Durch die
Ordnungsstrukturen,
die es ermöglichen, den Verweischarakter von Objekten durch ihre
Anordnung
sichtbar zu machen, entsteht nach Brakensiek ein Gedächtnisraum,
der
Wissensbestände zugleich abruft wie neu verknüpft. Die
Kunstkammer als theatrum
sapientiae vermittelte dabei weder Expertenwissen noch
konnte der Sammler
als Experte gelten – vielmehr konzentrierte sich der
Erkenntnisgewinn auf die
Metaebene der Objektbeziehungen. Die Sammlungstätigkeiten von
Juristen sind im
Vergleich zu anderen Berufsgruppen keineswegs exklusiv; wie
andere Akteure auch
erweiterten sie durch Sammlungen ihren Horizont der
Welterkenntnis, vor dessen
Hintergrund sie für ihre Berufspraxis notwendige Wissensbestände
ableiteten.
Eine buchhistorische Perspektive auf juristisches Expertenwissen
nahm ARMIN
SCHLECHTER (Speyer) ein. Sein Beitrag befasste sich mit den
Werken
Reichskammergerichtsangehöriger, die nach der Zerstörung Speyers
Ende des 17.
Jahrhunderts erneut angekauft bzw. neu aufgelegt wurden.
Schlechter beobachtet
im 16. und 17. Jahrhundert eine erhöhte Nachfrage juristischer
Standardwerke,
die sich aus Auflagen und Druckorten ablesen lässt. Am Beispiel
ausgewählter
Ankäufe der Landesbibliothek Speyer legte er Dynamiken des
Wissenstransfers,
der Bedarfe und Rezeptoren juristischer Fachliteratur dar. Ein
noch
einzulösendes Desiderat liegt in der Beschreibung von Netzwerken
und
Rezeptionskanälen innerhalb des juristischen Buchmarktes.
Schlechter verspricht
sich davon tiefere Einblicke in die Mechanismen der
Wissensdistribution der
Epoche und die damit verbundenen Austauschprozesse.
Den inhaltlichen Aufschlag in der Sektion Theorie und Praxis
der Juristen
machte HORST CARL (Gießen), der die Rolle von
Landfriedensexperten im
Schwäbischen Bund genauer untersuchte. Mit Blick auf die
Schiedsgerichtsbarkeit
steckte er für diese Experten drei Entwicklungsphasen eines
Prozesses der
Justizialisierung anhand der Bundesbriefe ab. Dabei sei die
„Institutionalisierung einer ohnehin schon institutionalisierten
Schiedsgerichtsbarkeit“ zu beobachten. Juristen, so Carl mit
Verweis auf das
Restitutionsverfahren als vorläufiges Verfahren zum
Landfriedensschutz, seien
dabei „Experten der Entdramatisierung“. Dies führte dazu, dass
in heiklen
Rechtskonflikten nicht vorab Entscheidungen getroffen werden
mussten. In der
anschließenden Diskussion wurde unter anderem über die Rolle der
Untertanenkonflikte für die Ausgestaltung der Rechtsförmigkeit
sowie die Rolle
von Juristen als „Experten für Entschleunigung“ gesprochen.
Außerdem wurde die
Integrationskraft der Juristen durch die Versachlichung von
Streitigkeiten
betont.
Anschließend lenkte WIM DECOCK (Leuven) den Blick auf die
iberische Halbinsel.
Er setzte sich mit Theologen als Experten in Wirtschaftsfragen
auseinander und
nahm dabei besonders die Theologen der Schule von Salamanca als
„Väter der
modernen Wirtschaftsanalyse“ in den Blick. Im Fokus des Vortrags
stand eine
Diskussion über die staatliche Regulierung des Getreidepreises.
Decock
arbeitete die herausragende Rolle von Theologen, und besonders
des Jesuiten
Luis de Molina, in wirtschaftlichen und politischen Fragen
heraus und konnte
zeigen, dass die Theologen das Wirtschaftsproblem besser
verstanden als die
Juristen. Es sei sogar eine Art Konkurrenz des Wissens zwischen
Theologen und
Juristen entstanden, ähnlich wie Mayenburg dies in der ersten
Sektion
geschildert hat. Zudem zeige sich, dass insbesondere die
Jesuiten zu dieser
Zeit über ein großes empirisches Wissen verfügten, was sich auf
ihre
Argumentation und ihren Denkstil auswirkte. Damit unterstrich
Decock die
normative Expertenrolle von Theologen in diesem Diskurs.
Weiterführend widmete sich CORNEL ZWIERLEIN (Berlin) dem
Juristen Georg Obrecht
(1547-1612), der als Begründer des jus publicum und als
einer der frühen
Kameralisten wahrgenommen wird. Zwierlein stellte die These auf,
dass frühe
kameralistische Projekte enge personelle Verknüpfungen mit den
Akteuren des
Straßburger Kapitelstreits aufwiesen, und zeigte weiterführende
Verbindungen
mit den Ereignissen am Vorabend des 30-jährigen Krieges auf. So
beobachtete er
im Lichte eines verdichteten theologisch-politischen Diskurses
die
Verschränkung zwischen führenden Vertretern des kameralistischen
Projekts
einerseits und den Beteiligten des Hagenauer Vertrages
andererseits: Leitende
Köpfe der protestantischen Partei waren häufig auch im Bereich
des
Protokameralismus publizistisch tätig. Zwierlein untermauerte
dies, indem er
Korrespondenznetzwerke zwischen protestantischen Kapiteln,
Handelsstädten und
transkonfessionellen Akteuren aufdeckte. Obrecht spielte dabei
eine zentrale
Rolle. Die konfessionellen Antagonismen der unmittelbaren
Vorkriegszeit gepaart
mit den Finanznöten seien für die Genese kameralistischer Ideen
zentral gewesen
und eröffneten einen Imaginationsraum für diese Denkweisen.
Abschließend referierte ALAIN WIJFFELS (Leuven) über die
Konsiliarpraxis der
juristischen Fakultät der Universität Löwen in den
burgundisch-habsburgischen
Niederlanden und schloss damit thematisch an Holtz an. Eine
Aufgabe der
Rechtsexperten im ausgehenden Mittelalter sei das Erstellen von
Rechtsgutachten
gewesen. Um solche Rechtsgutachten lokal anfertigen zu können,
sei die
Universität Löwen gegründet worden. Anhand mehrerer
Quellenzitate zeigte
Wijffels, dass die Expertise der Juristen und ihre Gutachten
nicht nur bei
Rechtsfragen, sondern auch als Legitimation bei wirtschaftlichen
oder
politischen Fragen eine Rolle gespielt hätte. Juristen wirkten
somit bis ins
18. Jahrhundert als frühe „Lobbyisten“, bevor die
Konsiliarpraxis allmählich
verschwand. Das habe aber nicht bedeutet, dass Juristen aus
politischen
Prozessen verdrängt worden seien. Vielmehr hätten sie mit ihrer
anhand der
juristischen Methodik geschulten Denkweise aufgrund des
Bedürfnisses nach
politischer und praktischer Ordnung den Weg von der Universität
direkt in die
Verwaltungsorgane gefunden. Dies habe den
Rechtsstaatlichkeitsprozess und die
Bürokratisierung der Verwaltung befördert.
In der Abschlussdiskussion verwies Anette Baumann noch einmal
auf die Rolle von
Juristen als Experten für Entschleunigung und die parallel zu
beobachtende
Verrechtlichung vormals gewaltsamer Konflikte. Zudem sei die
Differenzierung
von rechtlichen Experten als Mediatoren und akademischen
Juristen deutlich
hervorgetreten. Dabei sei auch eine Konkurrenz zwischen Experten
unterschiedlicher Art (beispielsweise Juristen, Mediziner oder
Theologen) zu
beobachten. Alain Wijffels lenkte den Fokus auf die Frage, ob
sich der Juristenstand
insbesondere im deutschsprachigen Raum sozial mehr behauptet
habe als im
europäischen Ausland. Für Thorsten Kaiser (Gießen) bestand die
Quintessenz des
Workshops in der Erzeugung von Legitimität durch eine bestimmte
Art von
Rationalität, dessen Basis die Inanspruchnahme der eigenen
Kenntnisse der
Rechtsmaterie bildet. Ausgehend von dieser These stellte er die
Frage, ab wann
Juristen eigentlich die eigene Sachkenntnis für eine bestimmte
Rechtsfrage als
ausreichend bewerten würden. Cornel Zwierlein betonte den
Inklusionsprozess
anderer Experten im Juristentum und die fragliche
Exklusivitätsfunktion von
Experten. Horst Carl verwies im Hinblick auf die Frage der
Inklusion von
Expertenwissen auch auf die aktuelle Rolle von HistorikerInnen
als ExpertInnen
in den Hohenzollernprozessen. Karl Härter hingegen schlug
abschließend vor, am
Satzende des Veranstaltungstitels „Juristen als Experten“ ein
Fragezeichen zu
setzen, da für ihn der Fokus besonders auf der Frage lag, wie
Expertenwissen in
der Justizpraxis benutzt wird. Mehrere Teilnehmende
thematisierten zudem die
Außenwahrnehmung von Expertentum, die in mehreren Vorträgen und
Diskussionen
des Workshops angeführt wurde. Tobias Schenk befürwortete eine
intensive
Ausbreitung der Praktikabilität der juristischen Praxis, da
diese auch an
soziologische Dimensionen gebunden sei. Dabei sei auch der Blick
in
Prozessschriftgut lohnenswert, da sich so die Akten in einen
größeren Kontext
des gerichtlichen Entscheidungsprozesses einordnen lassen
könnten. Dies
unterstrich auch Anette Baumann und sprach von „vielen
ungehobenen Schätzen“ im
Bundesarchiv.
Konferenzübersicht:
Anette Baumann (Wetzlar/Gießen): Juristen als Experten – erste
Überlegungen
Sektion I: Juristisches Wissen und Gesellschaft
Tobias Schenk (Wien/Göttingen): Methodisch-empirische Probleme
bei der Analyse
vormoderner Gerichtspraxis
David von Mayenburg (Frankfurt am Main): Juristen als Experten
im Kontext der
Pest und anderer Seuchen im 16. Jahrhundert
Karl Härter (Frankfurt am Main): Kollektive Gewaltdelikte und
Reichsgerichtsbarkeit als Thema juridisch-politischer Diskurse –
juristisches
Expertenwissen und populäre Narrative
Sabine Holtz (Stuttgart): Tübinger Juristen als Garanten
gesellschaftlicher
Ordnung. Zur Konsiliarpraxis in Süddeutschland
Sektion II: Möglichkeiten der Generierung von
Wissensbeständen
Stephan Brakensiek (Trier): Die Welt in der Stube – Sammlungen
als Orte der
Welterkenntnis im 17. Jahrhundert
Armin Schlechter (Speyer): Werke von
Reichskammergerichtsjuristen im
Landesbibliothekszentrum und in der Bibliothek des Gymnasiums am
Kaiserdom in
Speyer
Sektion III: Theorie und Praxis der Juristen
Horst Carl (Gießen): Landfriedensexperten des Schwäbischen
Bundes
Wim Decock (Leuven): Experten der experientia – empirisches
Wissen als
juristisches Argument in der Schule von Salamanca
Cornel Zwierlein (Berlin): Zwischen früher Jus Publicum-Lehre
und
Frühkameralismus – zu Georg Obrecht (1547-1612) und den
protestantischen
Netzwerken am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges
Alain Wijffels (Leuven): Die juristische Konsilienpraxis in den
burgundisch-habsburgischen Niederlanden: Herbst der
Rechtswissenschaft als
Kunst des guten Regiments?
Zitation
Tagungsbericht: Juristen als Experten: Eine Untersuchung der
Wissensbestände
und Diskurse der Juristen im 16. und 17. Jahrhundert, 19.11.2020
– 20.11.2020
digital, in: H-Soz-Kult, 26.01.2021, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8862>.
Date: 2021/01/25 21:03:55 From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Guten Abend,
hat jemand das "Livre des familles
d'Ormersviller de 1680 à 1905"?
Laut Heiratseintrag vom 11.11.1804 in St. Wendel wurde der
Bräutigam Johann Baptist Michels am 19.05.1779 in Ormesviller
(wörtlich: Ormechville), Departement de la Moselle, geboren, Sohn
von Wendel Michels und Johanna Recktenwald. Vermutlich haben die
Eltern auch dort geheiratet. Sie stammen aber beide aus der
Pfarrei St. Wendel, wo sie schon im August 1780 ihr nächstes Kind
taufen ließen. Die Familie ist katholisch.
Könnte das jemand nachschauen?
Herzlichen Dank.
--
Mit freundlichen Grüßen
Roland Geiger
--------------------
Roland Geiger
Historische Forschung
Alsfassener Straße 17, 66606 St. Wendel
Tel. 06851-3166
email alsfassen(a)web.dewww.hfrg.de
Date: 2021/01/26 21:44:11 From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Kirchenbücher
als historische Quellen
Veranstalter Michael Hecht (Halle) und Eva Marie Lehner
(Duisburg-Essen/Berlin)
in Kooperation mit dem Exzellenzcluster „Religion und Politik“ in
Münster
Ort 48143 Münster
Vom - Bis 18.11.2021 - 19.11.2021
Deadline 15.02.2021
Von Michael Hecht, Institut für Landesgeschichte, Landesamt für
Denkmalpflege
und Archäologie Sachsen-Anhalt
Erbeten werden Beiträge für eine Tagung, die sich mit dem
Quellenwert von
Kirchenbüchern für geschichtswissenschaftliche Fragestellungen
beschäftigt.
Kirchenbücher, d.h. die von Pfarrern verfassten Register der
Taufen,
Eheschließungen und Begräbnisse, gehören zu den meistgenutzten
historischen
Quellen. Das kirchliche Verwaltungsschriftgut erfreut sich vor
allem bei Laien
großer Beliebtheit, die genealogische Interessen verfolgen. In der
Geschichtswissenschaft spielen Kirchenbücher hingegen eher selten
eine herausgehobene
Rolle. Lediglich als Grundlage für quantitative Auswertungen zu
bevölkerungsgeschichtlichen Fragestellungen in der Historischen
Demografie
kommt ihnen traditionell eine größere Bedeutung zu. Dabei halten
Kirchenbücher
zu sehr viel mehr Themen Auskünfte bereit. Sie geben Einblicke in
historische
Lebenswelten, Sinndeutungen, Erinnerungskulturen und
Verwaltungspraktiken. Die
in den letzten Jahren enorm vorangetriebene Digitalisierung
historischer
Kirchenbuchbestände eröffnet zudem neue Möglichkeit für der
Nutzung.
Vor diesem Hintergrund möchte sich die Tagung der Bedeutung von
Kirchenbüchern
als historische Quellengattung widmen. Es soll diskutiert werden,
welche
Perspektiven für ihre Verwendung für aktuelle Fragen der
historischen Forschung
zur Frühen Neuzeit und zur Moderne bestehen. Dabei soll sowohl ein
grundsätzlicher Blick auf Charakteristika und Forschungspotenziale
von
Kirchenbüchern geworfen als auch anhand exemplarischer
Sondierungen
ausgeleuchtet werden, wie sie für konkrete Themenbereiche
produktiv gemacht
werden können.
Neben den Vorträgen eingeladener Referent/innen gibt es die
Möglichkeit,
Vorschläge für Beiträge einzureichen. Diese können aus allen
Bereichen der
Geschichtswissenschaft oder ihrer Nachbardisziplinen (z.B.
Kunstgeschichte,
Kirchengeschichte, Rechtsgeschichte, Kulturanthropologie) erfolgen
und zum
Beispiel die Möglichkeiten von Kirchenbüchern für folgende Themen
behandeln:
- religiöse und konfessionelle Zugehörigkeiten, Religions- und
Konfessionswechsel sowie damit einhergehende Ambiguitäten
- Alltagsgeschichte, Kriegserfahrungen, Verarbeitung von Epidemien
- Geschlechterverhältnisse, Ehrvorstellungen, sexuelle Devianz
- Körpergeschichte (z.B. Schwangerschaften, Geburtsrisiken,
Krankheiten,
embodied differences)
- Totengedenken, Trauervorschriften und Trauerpraktiken
- Vorstellungen und Praktiken von Abstammung, Familie und
Verwandtschaft,
Bedeutung von Taufpatenschaften
- Orts- und Gemeindechronistik, lokale und regionale
Erinnerungskulturen
- Verwaltungspraktiken, (Nach-)Nutzung von Kirchenbüchern für
administrative
Belange
- Potentiale und Perspektiven der Digitalisierung von
Kirchenbüchern
Bitte senden Sie bei Interesse ein Exposé (max. 300 Wörter) für
einen Vortrag
von ca. 20-30 Minuten sowie einen kurzen Lebenslauf bis zum
15.2.2021 an:
Rezensiert für H-Soz-Kult von Jörg Schwarz, Historisches Seminar,
Ludwig-Maximilians-Universität München
Ausgangspunkt des Buches, das eine Reihe von Studien
zusammenfasst, die in
Verbindung mit dem Münchener Teilprojekt „Herrschernatur(en).
Verkörperungen
von Herrschaft im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit“
stehen, ist
die Überlegung, dass sich Machtsysteme nicht aus sich selbst
heraus erklären,
sondern sich vielmehr begründen müssten.[1] Sie seien prinzipiell
labil und, diachron
wie synchron betrachtet, dem steten historischen Wandel
ausgesetzt. Auch trügen
sie Unfertiges in sich oder wie Kagerer sagt: „den Moment des
Entwurfs“.
Deswegen bedürften sie sogenannter „Selbstsymbolisierungen“ (S.
3). Erst in
unterschiedlichen textuellen wie visuellen Entwürfen – oder der
Kombination beider
mit je eigenen Schwerpunktsetzungen – sowie in kulturell je
spezifischen
Mechanismen und narrativen Dispositiven, wie beispielsweise
Geltungsgeschichten, könnten Machtsysteme für sich Legitimität
generieren. Eine
besondere Rolle im Rahmen der Machtsicherung komme dabei dem in
Text und Bild
zur Schau gestellten Körper des Mächtigen zu. Er sei zur
„Realisierung von
Macht das entscheidende Instrument“ (S. 18). Auch der kranke oder
beschädigte
königliche Körper habe in diesem Sinne auf wichtige Weise
funktionalisiert
werden können (S. 120f.).
An diese anspruchsvollen Überlegungen anknüpfend, will Kagerer
anhand
exemplarischer Untersuchungen zweier Machtdemonstrationen um 1500
den Versuch
einer Spezifizierung unternehmen. Dabei stehen für ihn zum einen
die Entwürfe
„uralten“ Blutes unter Kaiser Maximilian I. im Mittelpunkt.
Zweitens geht es
ihm um die Entwürfe des „frischen“ Blutes der Fugger aus Augsburg.
Kagerer will
dabei untersuchen, wie das „alte“ Blut der Dynastie und das „neue“
Blut der
aufgestiegenen Kaufmannsfamilie „konstituiert“ werden (vielleicht
hätte man
besser gesagt: als Argument gebraucht und anerkannt werden). Die
ambitionierte
Einleitung – und konsequenterweise die gesamte weitere Arbeit –
leidet ein
wenig daran, dass der Begriff Macht nicht eigentlich definiert,
sondern von
Anfang an eher unreflektiert vorausgesetzt wird; das aber wird der
Komplexität
des Phänomens nicht gerecht. In angemessener Berücksichtigung der
aktuellen
Forschungsliteratur – es genüge ein kurzer Hinweis auf Christine
Reinles
grundlegenden Aufsatz von 2015[2] – hätte diese
definitorische Unschärfe
oder richtiger: Nicht-Definition umgangen werden können.
Dennoch ist die Lektüre des Buches ein Gewinn. Nach
Vorüberlegungen, die um die
Themen Macht und Herrschaft im Übergang sowie um Spezifika der
Dynastie der
Habsburger kreisen, untersucht Kagerer im ersten Kapitel die
berühmten Bücher
Kaiser Maximilians, den Weißkunig, den Teuerdank und den Freydal.
Kagerer
knüpft an die wegweisende Deutung dieser Texte durch Jan-Dirk
Müller von vor 40
Jahren an.[3] Er kann dabei, vor allem,
was den
konkreten Entstehungsprozess dieser Texte und die von der
Forschung intensiv
diskutierte Einbeziehung des schillernden Mitarbeiterkreises des
Kaisers
anbelangt, wichtige eigenständige Akzente setzen. Hilfreich und
gut sind die
immer wieder in den fortlaufenden Text eingebauten Bildbeigaben,
die
Reproduktionen einzelner Abschnitte der originalen Handschriften
und die
geschickt ausgewählten Quellenzitate. Ebenfalls untersucht in
diesem Kapitel
werden herausragende Monumente wie das Innsbrucker Goldene Dachl
mit seinem
vielschichtigen Fresken- und Figurenprogramm (S. 168–176), der
farbenfrohe
Habsburger-Stammbaum auf Schloss Tratzberg bei Jenbach in Tirol
(S. 176–184),
das Holzschnittwerk "Ehrenpforte" (S. 184–195), das monumentale
Druckwerk "Triumphzug" (S. 195–205) und das Torso gebliebene
Grabmalsprojekt (S. 206–213).
Überzeugend insbesondere sind die Ausführungen Kagerers darüber,
wie der
Leichnam des Kaisers selbst zum Medium wurde (S. 214). Zurecht
einbezogen in
dieses Kapitel, das in treffenden Beobachtungen die große
Medienvielfalt der
Herrschaftsrepräsentation Maximilians und ihre Ausdrucksformen
eindrucksvoll
dokumentiert[4], werden auch die
Fürstliche Chronik und
der Zaiger (S. 215–266), zwei Werke des gebürtigen Bregenzers
Jakob Mennel,
neben Ladislaus Sunthaym der wichtigste Genealoge des Kaisers.
Alle diese
Quellenzeugnisse gelten Kagerer zu Recht als „besonders leuchtende
Beispiele
für Entwürfe von Macht um 1500“, als multimedial angelegte Werke,
die sich in
Schrift, Bild und Monument manifestiert hätten (S. 267).
Es ist richtig und gut, dass in diesem Zusammenhang mehrfach auf
die Rolle
Friedrichs III. hingewiesen wird, der im dynastisch-genealogischen
Programm der
Habsburger um 1500 tatsächlich vieles von dem, was Maximilian
weiter ausführen
ließ, vorweggenommen hat, auch wenn wichtige Erörterungen dazu von
Kagerer
unnötigerweise in die Fußnoten herabgedrückt worden sind (S. 50
Anm. 30).
Falsch ist es zu sagen, dass es bis in die neueste Forschung
hinein „große
Vorbehalte“ gegenüber Friedrich III. gäbe (S. 57). Über das
negative, durch
borussische Historiographie des 19. Jahrhunderts vergiftete
Friedrich-Bild
vergangener Tage braucht heute niemand mehr ernsthaft zu reden.
Was die neueste
Forschung anbelangt, so ist „Vorbehalte“ nicht der richtige
Ausdruck. Wenn die
neueste Forschung klug urteilt, dann hat sie keine „Vorbehalte“,
sondern nimmt
bestimmte Züge an der Figur als Defizite wahr, derer sich
Friedrich selbst
bewusst gewesen ist, was etwas grundlegend anderes ist. Natürlich
hat es bei
allen Gemeinsamkeiten zwischen Friedrich III. und Maximilian in
den Inhalten
der Politik und den Formen ihrer Inszenierung erhebliche
Unterschiede zwischen
den beiden gegeben. Es ist jedoch falsch, diese Unterschiede in
der anders
gearteten „Inszenierung“ des Kaisertitels zu sehen (S. 59 Anm.
34), da der
Verzicht auf den Romzug, von Friedrich III. repräsentativ
ausgeführt, bei
Maximilian nicht freiwillig erfolgte.
Im dritten Kapitel, überschrieben mit „Das frische Blut der
Fugger“, geht es um
entsprechende Macht-Inszenierungen und Selbstdarstellungen bei der
Augsburger
Kaufmannsfamilie in ihren Zweigen. Immer wieder im Mittelpunkt der
Untersuchung
steht das Ehrenbuch der Fugger, das Kagerer von einem Spannungs-
oder gar einem
Konkurrenzverhältnis von Text und Bild bestimmt sieht (S. 428).
Überzeugend
arbeitet Kagerer heraus, dass vor allem das Bedürfnis, sich als
neue Macht im
adeligen Umfeld zu etablieren, als Motivation für die
Kaufmannsfamilien
erscheine derartig aufwändige Projekte anfertigen zu lassen.
Festzustellen sei
dabei ein Ineinanderfließen von alten und neuen Begründungsfiguren
– Blut und
Geld – und es dabei, durchaus spannungsreich, zu einem Changieren
beider komme,
wobei Ehre und Gut dabei mehr amalgamierten, als dass sie wirklich
„entgegengesetzt“ gedacht worden sind. In diesem Zusammenhang habe
sich
gezeigt, wie sich das Handelshaus der Fugger an die Inszenierungen
der
Habsburger vor allem an die maßstabsetzenden multimedialen Werke
Kaiser Maximilians
angelehnt (S. 444) und diese zuweilen auch übertroffen habe (S.
429).
Kagerer hat eine überaus anregende Studie geschrieben. Die
gleichzeitige
Untersuchung des maximilianeischen Hofes mit dem der Fugger
erweist sich als
konsequent und richtig; in beiden Höfen lassen sich in der
damaligen Zeit
bedeutende, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Richtungen
kommende Potenzen
sehen. Der Vergleich zwischen einer alten und einer neuen Familie
(bzw. neuen
Familien) hinsichtlich Selbstdarstellung und Legitimation geht auf
und führt zu
zahlreichen wichtigen Einordnungen, die die Mediävistik ebenso wie
die
Frühneuzeitforschung bereichern. Auch wenn solche Fragen bis zu
einem gewissen
Grad immer Geschmacksfragen bleiben: Störend an dem Buch ist eine
zuweilen
umständliche, geschwollen-geschraubte Ausdrucksweise, die
regelrechte Wort-
oder Satz-Ungetüme produziert – oder banale Sachverwalte
bedeutungsraunend
begrifflich aufdonnert (z. B.: „Medien sind substantielle
Konstituenten in den
Entwürfen von Macht“, S. 5). Vieles hätte sich, ohne auf eine
akkurate
Wissenschaftssprache verzichten zu müssen, einfacher und damit
klarer
ausdrücken lassen. Als holzschnittartig muss der Historiker den
allenfalls für
den Bereich der Antrags-Prosa tauglichen Ausdruck „Nicht-Moderne“
(S. 4)
empfinden – muss man wirklich so blockhaft Geschichte einteilen?
Stirnrunzeln
erweckt der Begriff „Gesellschaften zentraleuropäischer Prägung“
(S. 4) – was
sollen das für Gesellschaften sein? Ausdrücklich ist jedoch zu
bemerken, dass
sich diese Eindrücke nicht auf das gesamte Buch beziehen, sondern
lediglich an
bestimmten Stellen gehäuft auftreten. Dass der „Aetas
Maximilianea“ [5] für das Selbstverständnis
des
habsburgischen Herrscherhauses eine Schlüsselstellung zukommt und
dass sich
(mit Abwandlungen) neue Familien der Zeit an diese Modelle
angelehnt haben –
nach der Lektüre von Kagerers Buch glaubt man es gerne.
Anmerkungen: [1] Kagerer verweist auf hier auf
Peter
Strohschneider, Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen
Erzählens im
Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburgs Alexius, in:
Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung
institutioneller
Ordnungen, Köln 2002, S. 109–147. [2] Christine Reinle, Was
bedeutet Macht im
Mittelalter?, in: Claudia Zey (Hrsg.), Mächtige Frauen? Königinnen
und
Fürstinnen im europäischen Mittelalter, Ostfildern 2015, S. 35–72. [3] Jan-Dirk Müller, Gedechtnus.
Literatur und
Hofgesellschaft um Maximilian I., München 1982. [4] Vgl. auch Alexander Kagerer,
Medienmacher
Maximilian. Entwürfe von Macht um 1500, in: Lukas Madersbacher /
Erwin Pokorny
(Hrsg.), Maximilianus. Die Kunst des Kaisers, Berlin 2019, S.
144–132. [5] Vgl. zum Begriff Dieter
Mertens, Geschichte
und Dynastie – zu Methode und Ziel der Fürstlichen Chronik Jakob
Mennels, in:
ders., Humanismus und Landesgeschichte Humanismus und
Landesgeschichte.
Ausgewählte Aufsätze, hrsg. von Dieter Speck und Birgit Studt,
Stuttgart 2018,
S. 707–744 (Erstveröffentlichung 1988).
Rezensiert für H-Soz-Kult von Chantal Camenisch, Abteilung
Wirtschafts-,
Sozial- und Umweltgeschichte, Universität Bern
Die Umwelt bildet den Rahmen für alle gesellschaftlichen
Entwicklungen und
Prozesse. Sie stellt zusammen mit Politik, Kultur und Wirtschaft
die vier
Grundkategorien der Geschichtswissenschaften dar. Mit dieser
Feststellung führt
Thomas Wozniak die Leserschaft in die Thematik seines 2017 an der
Eberhard
Karls Universität Tübingen als Habilitationsschrift akzeptierten
Werkes ein. Im
Zentrum dieses mit fast tausend Seiten sehr umfangreichen Buches
stehen
Naturereignisse und die Frage, wie sie im Frühmittelalter
wahrgenommen,
dargestellt und gedeutet wurden, aber auch wie sie von den
Zeitgenossen zur
Durchsetzung von religiösen und moralischen Vorstellungen
instrumentalisiert
wurden. Die fraglichen Naturereignisse teilt Wozniak in drei
Gruppen, wobei die
erste astronomische, vulkanische, tektonische und
geomorphologische Phänomene
umfasst, die zweite Gruppe aus extremen Witterungsereignissen
besteht und die
dritte Gruppe aus den Folgen der zwei ersten Gruppen, womit
beispielsweise
Epidemien und Hungersnöte gemeint sind. Wozniak spart dabei
bewusst das Klima
aus, für das im Untersuchungszeitraum wegen der langwierigen und
deshalb vom
Menschen kaum wahrnehmbaren Veränderungen eine andere methodische
Herangehensweise nötig wäre, die nicht mehr im Bereich der
Geschichtswissenschaften liegen würde.
Wozniak verwendet für den Untersuchungszeitraum
nachvollziehbarerweise vorwiegend
annalistische und chronikalische Quellen, wobei diese gerade für
die fragliche
Epoche in großer Zahl als Quelleneditionen vorliegen. Der
geografische Rahmen,
den sich der Autor für seine Untersuchung gesteckt hat, umfasst
die Britischen
Inseln, Teile Mittel- und Nordeuropas sowie den Mittelmeerraum.
Der Schwerpunkt
der Quellen liegt dabei im Gebiet des heutigen Deutschlands und
der nördlichen
Hälfte Frankreichs.
In einem ersten Hauptkapitel behandelt Wozniak astronomische
Ereignisse wie
Supernovae oder Sonnen- und Mondfinsternisse sowie die Erscheinung
von Kometen,
Meteoriten, Sonnenflecken und Polarlichtern. Nach einer
Darstellung moderner
wissenschaftlicher Erklärungen für diese Phänomene folgt eine
Diskussion der im
Frühmittelalter beobachteten Beispiele dieser astronomischen
Ereignisse. Wie
Wozniak ausführt, können viele dieser Ereignisse mit modernen
mathematischen
Methoden exakt datiert werden – etwas, was bei politischen oder
ökonomischen
Ereignissen im Frühmittelalter nicht ohne weiteres möglich ist.
Diese exakte
Datierung erlaubt es Historikern, die Genauigkeit dieser Angaben
in
chronikalischen und annalistischen Texten insgesamt zu überprüfen.
Wozniak
interessiert sich aber nicht nur für die Datierungen, sondern auch
für die
frühmittelalterliche Wahrnehmung, Rezeption und Deutung dieser
Phänomene, wobei
ein Teil dieser Überlegungen auch im letzten Hauptkapitel zur
Bewältigung,
Instrumentalisierung und Darstellungspraxis von Naturereignissen
erscheint. Bei
Phänomenen, die in den Quellen häufig beschrieben werden, gliedert
der Autor
diese chronologisch in Kapiteln, welche jeweils ein Jahrhundert
umfassen. Es
folgen Unterkapitel zu Erdbeben und gravitativen Massenbewegungen
wie
Erdrutsche. Ebenfalls Teil dieses Kapitels sind Tsunamis und
vulkanische
Ereignisse. Die letzteren sind in ihrem Kapitel nach Vulkanen
geordnet.
Das zweite Hauptkapitel beschäftigt sich mit extremen
Witterungsereignissen,
beginnend mit Gewittern, Stürmen und Orkanen. Wozniak erläutert
dabei jeweils
einleitend die meteorologischen Eigenschaften und Merkmale der
einzelnen
Phänomene, bevor er den Bezug zu Beschreibungen derselbigen in der
Bibel
herstellt. Dieser Bezug zu biblischen und anderen antiken oder
kirchlichen
Texten ist deshalb sinnvoll und notwendig, weil Stürme, Blitze und
Hagel unter
anderem als göttliches Wirken verstanden wurden. Gerade in
frühmittelalterlichen Texten ist deshalb mit standardisierten und
instrumentalisierten Textstellen zu rechnen. Wozniak wägt deshalb
bei den
einzelnen Beispielen deren Plausibilität ab. Auf die Gewitter und
Stürme folgt
die Analyse der von Starkregen verursachten Überschwemmungen und
der
Sturmfluten, bevor sich der Autor den extremen Winterjahreszeiten
zuwendet.
Wozniak beschreibt dabei akribisch die möglichen Gründe für diese
extremen
Winter und das Ausmaß der Temperaturanomalien. Ein eigenes Kapitel
ist
ebenfalls den extremen Sommerjahreszeiten zugeordnet, wobei dieses
sich nicht
auf Temperaturanomalien beschränkt, sondern auch Dürren
beinhaltet. Auch hier
fließen wieder regelmäßig Aspekte der zeitgenössischen Wahrnehmung
und Deutung
von extremen Witterungsereignissen in die Darstellung mit ein.
Das nächste Hauptkapitel beschäftigt sich mit den Auswirkungen und
Folgen der
zuvor beschriebenen Naturereignisse. Darunter fallen zunächst
Heuschrecken- und
andere Tierplagen, aber auch Lebensmittelknappheit und
Hungersnöte, wobei die
theoretischen Ausführungen zu diesen sehr komplexen Prozessen eher
knapp
ausfallen. Mit den epidemischen Erkrankungen bei Menschen und
Tieren greift der
Autor im Anschluss einen sehr wichtigen und leider auch
hochaktuellen
Themenkomplex auf. In diesem Kapitel werden noch andere Folgen
besprochen,
darunter beispielsweise die Menge und die Qualität der Weinlese
und weiterer
agrarischer Erzeugnisse. Es ist dabei bemerkenswert, dass aufgrund
der
schlechten Überlieferungslage in den Quellen dieser Zeit eher
wenig darüber zu
erfahren ist, während Informationen dieser Art im Spätmittelalter
und in der
Frühen Neuzeit sehr verbreitet vorkommen.
In einem letzten Hauptkapitel stehen die in den einzelnen Kapiteln
bereits
angerissene Bewältigung extremer Naturereignisse und ihrer Folgen
im Zentrum
sowie deren Instrumentalisierung in einem moralischen, politischen
oder
religiösen Kontext und die Darstellung dieser Ereignisse. In
diesem Kapitel
erläutert Wozniak im Detail, mit welchen politischen Ereignissen
üblicherweise
die zeitgenössischen Chronisten und Annalisten das Auftreten von
bestimmten
Phänomenen in Verbindung brachten. So kündigen Himmelszeichen wie
Kometen
Herrscherwechsel an. Andere Ereignisse sind dagegen mit den
biblischen Plagen
des Alten Testaments assoziiert oder gelten als Vorzeichen für die
nahende
Apokalypse. Neben dieser bewussten Instrumentalisierung
hinterlassen viele
beschriebene Beobachtungen auch den Eindruck, dass die Chronisten
sie aus
persönlichem Interesse an den Phänomenen selbst aufgezeichnet
haben. Diese eher
beobachtenden Darstellungen und in Ansätzen "wissenschaftlichen"
Interpretationen existieren parallel zu religiösen,
übernatürlichen Deutungen.
So betont etwa Thietmar von Merseburg, dass Hexen keine
Mondfinsternisse
hervorrufen könnten, sondern dass der Mond deren Ursache sei. Er
deutet
Mondfinsternisse aber gleichwohl als Vorboten von politischen
Umbrüchen und
Herrscherwechseln (S. 713).
Insgesamt hat Thomas Wozniak eine sehr große Zahl an Quellen nicht
nur für
einen langen Zeitraum, sondern auch ein großes geografisches
Gebiet untersucht,
was sehr profunde Kenntnisse speziell dieser frühmittelalterlichen
Texte nötig
macht. Der Band ist außerdem ausgestattet mit einem 63 Seiten
umfassenden
Anhang, der aus zahlreichen Tabellen, Zusammenstellungen und
Übersichten
besteht. Diese und weitere Tabellen, die im Text eingestreut sind,
erleichtern
die Orientierung bei der Lektüre beträchtlich. Darüber hinaus
enthält der Band
15 Darstellungen und Karten sowie einen Orts- und Personenindex.
Thomas Wozniak gelingt es, mit seinem Werk einen sehr umfassenden
Beitrag an
die Umweltgeschichte zu leisten für eine Epoche, die bisher noch
in
ungenügendem Maße erforscht wurde. Dieser sehr umfangreiche Band
schließt damit
auch an die Ergebnisse von Christian Rohrs Forschung an, die sich
mit extremen
Naturereignissen im Spätmittelalter auseinandersetzten.[1]
Die
profunde Analyse der einzelnen Naturereignisse bietet aber auch
Erkenntnisse,
die weit über das Frühmittelalter Gültigkeit haben und die somit
auch für
Historikerinnen und Historiker späterer Epochen oder für
naturwissenschaftlich
orientierte Paläoklimatologinnen und -klimatologen lesenswert
sind. Der
weitgehend chronologische Aufbau in den thematischen Kapiteln
erlaubt es,
dieses Werk auch als Nachschlagewerk zu verwenden.
Anmerkung: [1]
Christian Rohr, Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum.
Naturerfahrung im
Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit, Köln 2007.
Date: 2021/01/29 15:53:29 From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Gestern fiel mir auf, daß heute der 29. Januar
ist. Da fing
ich wieder an zu rechnen - wie ich das an dem Tag immer tue -,
wieviele Jahre
seit dem gleichen Tag im Jahre 1944 vergangen sind. Damals war es
ein Samstag,
als die 8th AirForce der Amerikaner von England aus ihren ersten
Massenangriff
nach Deutschland flog. Über 800 viermotorige Flugzeuge waren
beteiligt. Das
Angriffsziel Frankfurt am Main flogen aber nur ein Teil der
Maschinen an, weil
wegen extrem schlechter Sicht (100 Prozent Wolkendecke) der
Navigator in der
Führungsmaschine vom Kurs abkam und die riesige Formation nach
Ludwigshafen
führte. Weiter hinten bemerkte man den Fehler, und so flog ein
Teil der
Streitmacht nach Frankfurt, warf seine Bomben ab und machte sich
auf den
Heimweg. Das tat die erste Formation auch, aber als sie an die
Stelle kam, wo
der Jägerbegleitschutz auf sie warten sollte, war niemand da, weil
die
Formation an der falschen Stelle war. Statt dessen wurden sie von
deutschen
Jagdflugzeugen angegriffen. Im folgenden Luftgefecht, das sich in
Laufe der
nächsten Stunden über die Pfalz, das heutige Saargebiet und den
Hunsrück in
Richtung Nordsee verlagerte, fielen mehr als 20 Bomber den
deutschen Angriffen
zum Opfer. Von den über 200 Männern, die sich an Bord befanden,
verloren mehr
als die Hälfte ihr Leben, als sie mit ihren Flugzeugen abstürzten.
In den
1990ern habe ich mit Klaus Zimmer diesen Angriff und die Kämpfe in
der Luft und
am Boden untersucht, und jedes Jahr am 29. Januar kommt die
Erinnerung wieder
hoch an Ereignisse, die geschahen, als wir beide noch lange nicht
am Leben
waren. Deshalb war ich fasziniert, als ich gerade heute auf die
nachstehende
Besprechnung stieß.
Roland Geiger
Die Lehren des Luftkriegs.
Sozialwissenschaftliche
Expertise in den USA vom Zweiten Weltkrieg bis Vietnam
Rezensiert für H-Soz-Kult von Cécile Stehrenberger,
Interdisziplinäres Zentrum
für Wissenschafts- und Technikforschung, Bergische Universität
Wuppertal
An welchem Punkt ist eine „Bevölkerung“ durch todbringende und
disruptive
Ereignisse derart „demoralisiert“, dass sich ihre Angehörigen
„irrational“ oder
„deviant“ verhalten oder sich gegen ihre Regierung auflehnen? Mit
solchen
Fragen beschäftigen sich wissenschaftliche „Experten“ nicht erst
seit der
COVID-19-Pandemie. Ihnen gingen schon von der US-Armee finanzierte
Sozialwissenschaftleren nach, die sich während des Zweiten
Weltkrieges, des
Koreakrieges und des Vietnamkrieges mit den sozialen und
psychischen
Auswirkungen von Brand- und Sprengbomben, Napalm und
Entlaubungsmitteln auf
Zivilisten befassten. Mit dem von diesen „Experten des Luftkriegs“
generierten
Wissen, seinen Ursachen und Produktionsmodi sowie mit seiner
Wirkungsgeschichte
setzt sich die auf ihrer Dissertation basierende Monographie von
Sophia
Dafinger auseinander. Die Studie leistet einen wichtigen Beitrag
zur Kultur-,
Wissens- und Erfahrungsgeschichte von Krieg im 20. Jahrhundert
sowie
spezifischer zu den neueren Cold War Studies und zur Geschichte
der
Sozialwissenschaften nach 1945.
Das Buch ist in sieben Kapitel unterteilt. Nach der Einleitung
behandeln
Kapitel 2 und 3 den United States Strategic Bombing Survey
(USSBS), ein
wissenschaftliches Großprojekt, das am 9. September 1944 ins Leben
gerufen
wurde. Ziel des USSBS war es, kurz vor Kriegsende in Europa Wissen
zu gewinnen,
das für die Gefechte im Pazifik einsetzbar sein sollte. Konkret
galt es, die
Bombardierungen deutscher Städte zu evaluieren, um zu eruieren, ob
für den
Krieg gegen Japan eine Strategieänderung angezeigt wäre. Von
besonderem
Interesse waren dabei die Folgen der Bomben auf den
Durchhaltewillen der
Bevölkerung. 1945 wurde das Projekt um eine Untersuchung der
Effekte der über
Japan abgeworfenen Bomben erweitert. Wie Dafinger demonstriert,
ging es dabei
letztlich um die Frage, ob sich der Luftkrieg „gelohnt“ hatte. Zur
Datenerhebung führten „field teams“ in den besetzten Gebieten
Interviews mit
gewöhnlichen Zivilisten, aber auch mit politischen
Entscheidungsträgern wie
Albert Speer durch. In der Datenerhebung und Auswertung bedienten
sich die
Mitarbeiteren der wichtigsten Methoden der modernen
Sozialforschung und trugen
zu deren Weiterentwicklung bei. In ihren Ergebnissen konstatierten
sie unter
anderem, dass die bekriegten Wirtschaftssysteme und Gesellschaften
erstaunlich
robust waren. Laut Dafinger konnten die Wissenschaftleren keine
eindeutige
Kausalverbindung zwischen einer etwaigen Schwächung der
„Kriegsmoral“ und den
Bombardierungen nachweisen. Dennoch behaupteten sie, der Luftkrieg
sei für den
alliierten Sieg zentral gewesen und die Air Forces müssten mit
Blick auf
zukünftige Bedrohungen ausgebaut werden. Wie Dafinger feststellt,
hatte der
USSBS einen nachhaltigen Einfluss auf die Debatten um den
Luftkrieg. Diverse
Abteilungsleiter des Projekts gelangten später in führende
politische
Positionen und als stellvertretender Verteidigungsminister
plädierte etwa Paul
Nitze im Vietnamkrieg dafür, dort wie im Zweiten Weltkrieg
Schlüsselindustrien
zu bombardieren. Der USSBS diente dabei als eine Art „Blaupause
für den
Luftkrieg“ (S. 128). Gleichzeitig stellte er den Auftakt für eine
langfristige
Kooperation zwischen Wissenschaft, Politik und Militär in der
Luftkriegsforschung dar. Weiter vorangetrieben wurde diese unter
anderem im
Human Resources Research Institute der US Air Force (HRRI) und der
„Research
and Development Corporation“ (RAND Corporation).
Mit den empirischen Untersuchungen, die an diesen
Forschungseinrichtungen zu
den Folgen der US-amerikanischen Bombardements im Koreakrieg und
im Vietnamkrieg
vorgenommen wurden, beschäftigt sich Dafinger in Kapitel 4 und 5
ihres Buches.
Sie zeigt darin, wie sich in der dynamischen Forschungslandschaft
des Kalten
Krieges die These, der Luftkrieg sei ein angemessenes Mittel der
(auch
„psychologischen“) Kriegsführung, lange halten konnte. Der Erfolg
von
Bombenangriffen ließ sich steigern, so die etablierte Meinung,
indem besonders
verletzliche Punkte im gesellschaftlichen Gefüge und den
Verhaltensmustern des
Feindes identifiziert wurden, um mit diesem Wissen seinen
Zusammenbruch präzise
herbeizuführen. Die hierfür generierten Erkenntnisse der
Wissenschaftleren von
HRRI und RAND reproduzierten oft ein (rassistisches) othering und
eine
Entmenschlichung des Feindes, die für die Rationalisierung und
Legitimierung
des Krieges selbst elementar war. Zwar gab es schon früh und auch
intern Kritik
an einer solchen Forschungsausrichtung. Erst nach 1964 kam es
innerhalb der
RAND Corporation jedoch zu regelrecht polarisierend divergierenden
Beurteilungen des Vietnamkrieges und zur Rolle von
Wissenschaftleren in ihm.
Diese führten allerdings zu keinem Ende der Luftkriegsexpertise,
sondern gingen
mit einem „Generationenwechsel“ (S. 315) und Umorientierungen
einher.
Das sechste und vor dem Resümee letzte Kapitel greift vorherige
Beobachtungen
zur grundsätzlichen „Logik“ von Expertise im Luftkrieg auf und
macht sie zum
Gegenstand weiterer abstrahierender Überlegungen. Behandelt wird
auch der
Umgang mit Protest (etwa aus der Friedensbewegung) und
Gegenwissen. Dafinger
zeigt hier erneut auf, wie zentral Außendarstellungen und das
(auch moralische)
Selbstverständnis der Wissenschaftleren für die Wissensproduktion
waren. Aber
auch die Denkfigur der „lessons learned“ sowie die Funktionsweise
des
„Vergessens“ (S. 304) von Wissensbeständen, die die
Luftkriegsführung in Frage
stellten, werden hier nochmals beleuchtet.
Die Lehren des Luftkriegs bestätigt viele der wichtigsten
Erkenntnisse, welche
die Forschungsliteratur zur Geschichte der Sozialwissenschaften
nach 1945 in den
letzten zehn Jahren vorgelegt hat.[1] Dazu gehört, dass der
Systemkonflikt die
Forschung zwar zutiefst geprägt, aber nicht völlig determiniert
hat und dass
Politik und Wissenschaft einander als „Ressourcen“ dienten. Auch
Dafinger
identifiziert für die Expertise zum Luftkrieg ein wechselseitig
produktives
Verhältnis zwischen beiden. Aus diesem ging nicht nur nützliches
Wissen für die
Luftkriegsführung hervor, sondern es führte auch zu einem
Erstarken gewisser
Forschungsansätze, etwa der Behavioral Sciences. Wie Dafinger
darlegt,
verstanden die Wissenschaftleren, die sich der Bombengewalt
widmeten, ihre
Gestaltungsansprüche trotzdem – oder gerade deshalb – als
unpolitisch und ihre
Tätigkeit als objektiv und wertneutral.
Ganz im Sinn der jüngeren Forschung zu den Cold War Sciences zeigt
Dafinger,
dass diese auch hinsichtlich des Luftkriegs von Zielkonflikten,
Ambivalenzen
und Ambiguitäten gekennzeichnet waren. Die Autorin arbeitet hier
ausgezeichnet
heraus, wie über Forschungsmethoden gestritten wurde, Experten oft
keine
eindeutigen Aussagen machten und dass just darum ihre
Forschungsresultate so
vielfältig nutzbar waren. Aber auch der rekonstruierte Umgang
dieser Experten
mit radikaler Kritik, die zwar Erschütterungen produzierte, aber
selten
Revolutionen, ist hochinteressant.
Das Buch macht deutlich, dass die starken methodischen und
inhaltlichen
Kontinuitäten der Forschung zum Luftkrieg viel mit personellen
Kontinuitäten zu
tun hatten. In ihren komplizierten Netzwerken gelang es einigen
Forscheren,
lange Zeit überaus einflussreich zu bleiben, ohne dabei von ihren
Grundannahmen
über Krieg, Gesellschaft und Wissenschaft substanziell abzurücken.
Dazu gehörte
auch, dass sie gewisse Innovationen zuließen oder gar beförderten.
Dass
Dafinger die Entwicklung der Luftkriegsforschung immer wieder
aufrollt, indem
sie den Geschichten solcher und anderer Akteure folgt, ist eine
große Stärke
ihres Buches. Sie situiert die Praktiken, Selbstverständnisse und
Habitus der
porträtierten Forscheren in ihren jeweiligen kulturellen
beziehungsweise
historischen Kontexten, wozu unter anderem die Erfahrung des
Zweiten
Weltkrieges gehört. Damit liefert sie für zukünftige Arbeiten sehr
anschlussfähige
Einblicke darin, wie Persönliches und Politisches miteinander
verschränkt im
Wissenschaftlichen wirkmächtig werden.
Dafingers sorgfältige und wohl formulierte Analyse des
reichhaltigen
Quellenmaterials überzeugt und macht ihr Buch zu einer
Bereicherung der oben
erwähnten Forschungsfelder. Bei vielen Aspekten der Geschichte der
Luftkriegsexpertise, die angesprochen werden, bestehen
Anknüpfungsmöglichkeiten
für weiterführende Forschungsvorhaben – etwa zu ihrer
geschlechtergeschichtlichen Dimension. Besonders spannend ist die
Lektüre des
Buches, wenn sie mit derjenigen von Studien kombiniert wird, die
sich diversen
„Forschungstechniken“ von RAND-Experten stärker
wissenschaftsanalytisch nähern
oder den Krieg/Wissenschafts-Nexus breiter bearbeiten.[2]
Insgesamt kann Die Lehren des Luftkriegs allen an der Geschichte
und Gegenwart
des Verhältnisses von Wissen, Politik und Massengewalt
interessierten Leseren
empfohlen werden. Dies allein schon wegen der Wirkung, welche die
rekonstruierten Fragestellungen und Wissensbestände bis heute auch
jenseits des
Militärischen entfalten. Zu denken ist hier nicht zuletzt an den
eingangs
angesprochenen (aktuellen) Umgang mit verschiedenen zivilen
Katastrophen und
Krisen.
Anmerkungen: [1] Vgl. Fabian Link,
Sozialwissenschaften im
Kalten Krieg. Mathematisierung, Demokratisierung und
Politikberatung, in:
H-Soz-Kult, 15.05.2018, https://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-3095
(14.01.2021). [2] Christian Dayé, Experts,
Social Scientists,
and Techniques of Prognosis in Cold War America, Cham 2020; M.
Susan Lindee,
Rational Fog. Science and Technology in Modern War, Cambridge,
Mass. 2020.
Zitation
Cécile Stehrenberger: Rezension zu: Dafinger, Sophia: Die Lehren
des
Luftkriegs. Sozialwissenschaftliche Expertise in den USA vom
Zweiten Weltkrieg
bis Vietnam. Stuttgart 2020. ISBN 978-3-515-12657-1, In: H-Soz-Kult,
29.01.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-93344>.
Rezensiert für H-Soz-Kult von Marcus Coesfeld, Bielefeld
Dieses Thema ist äußerst aktuell. Germanenbilder durchdringen
weite Kreise der
gegenwärtigen Geschichtskultur und sind präsent in den Medien. Auf
Netflix etwa
läuft die Serie „Barbaren“, in der es um die Varus-Schlacht geht.
Diese haben
allein in den ersten vier Wochen bereits über 37 Millionen
Zuschauer gesehen.[1] In Berlin präsentiert das
Museum für Vor-
und Frühgeschichte gerade die Sonderausstellung „Germanen. Eine
archäologische
Bestandsaufnahme“. Da die Ausstellung in die Coronakrise fällt,
lässt sich
zurzeit zwar kaum anhand der Besucherzahlen ablesen, wie groß das
Interesse in
der Öffentlichkeit für das Thema ist, doch deutet sich dieses in
einer großen
medialen Präsenz an. Und während die Ausstellung nicht nur den
aktuellen
Forschungsstand über Germanen wiedergeben will, möchte sie eben
auch mit
falschen Vorstellungen über die Thematik aufräumen.[2] Diese halten sich
teilweise, wie im Band
aufgezeigt wird, sehr hartnäckig.
Auf der Fachtagung „Odins Rückkehr – Ahnenkult und
Rechtsextremismus“[3] erläuterte Christian
Meyer-Heidemann,
Landesbeauftragter für politische Bildung in Schleswig-Holstein,
dass die
extreme Rechte Germanenbilder für zwei Zwecke missbrauche: Erstens
nutze sie
den ideologisch verfärbten Ahnenkult als positives
Identifikationsmittel,
zweitens bringe sie unter ihrem Deckmantel rechtsextremes
Gedankengut in eine
politische Mitte unter. Und genau hierin liegt eine präsente
Gefahr.
Dass Germanen „ein geschichtspolitisches Paradebeispiel für die
Indienstnahme
der Vergangenheit für gegenwärtige oder zukünftige politische
Ziele [sind],
ohne dass es vielen überhaupt bewusst“ ist (S. 9), darauf macht
auch
Herausgeber Martin Langebach in seiner Einleitung aufmerksam. Die
Fragestellungen des Bandes, so Langebach, zielen daher auf den
Ursprung, die
Entwicklung und gegenwärtige Formen der Germanenideologie. Und so
stellt die
Einleitung die folgenden sechs Aufsätze in Aufzeigung der
Zusammenhänge vor.
Mischa Meier erläutert in seinem Beitrag zunächst die Frage, ob es
überhaupt
eine Volksgruppe gegeben hat, die sich als Germanen bezeichnete,
und kommt auf
die durchaus nicht neue Antwort: Wir wissen es nicht, denn die
archäologischen
Funde geben uns keinen Beleg hierfür. Viel mehr spitzt die These,
Cäsar habe
die Germanen „erfunden“, den Fakt zu, dass der Germanenbegriff von
Anfang an
eine römische Fremd- und Sammelbezeichnung für eine Vielzahl
ethnischer Gruppen
gewesen ist.
Aufgrund mangelhaften Wissens über „die Germanen“ dienen ebendiese
seit jeher
als Projektionsfläche eigener Vorstellungen seitens der
Rezipienten. So war es
schon bei den Römern zur Abgrenzung der eigenen Identität – und
dies geschah,
wie Ingo Wiwjorra aufzeigt, insbesondere seit dem 19. Jahrhundert,
als man
durch die Gleichsetzung der Germanen mit dem zur Nation werdenden
Deutschland
eine historische Kontinuität zur Identitätsstiftung konstruierte.
Nationalistisch und rassistisch aufgeladen entstand hier die
Germanenideologie,
auf der die Völkische Bewegung fußen konnte.
Wie sich diese verbreitete, Netzwerke auf- und ausbaute und wie
sie sich
zunehmend radikalisierte, erläutert Uwe Puschner in seinem
Beitrag. Auf dem
Fundament eines teilweise rassistischen und antisemitischen
Gedankenguts
praktizierten einige Anhänger der unterschiedlichen völkischen
Gruppierungen
sogar eine neuheidnisch-religiöse Tiefe, die sich vornehmlich aus
der
nordischen Mythologie speiste und die der Politisierung und
weiteren
Radikalisierung im folgenden Nationalsozialismus den Weg
bereitete.
Wie dann im „Dritten Reich“ viele Archäologen weitestgehend
selbstständig ihre
Forschungen ideologisierten und dem NS-Regime anpassten, zeigt Uta
Halle
kritisch auf. Die Archäologen des SS-Ahnenerbes und des Amtes
Rosenberg
verbreiteten ein Germanenbild, das eine rassische Überlegenheit
der Deutschen
gegenüber anderen Völkern propagierte. Um auch die
Expansionsbestrebungen der
Nazis zu legitimieren, erweiterten die Forscher den
Germanenbegriff auf die
Wikinger und setzten die beiden gleich.
Diese völkisch/nationalsozialistisch geprägten Germanenbilder sind
medial so
umfassend in die Gesellschaft eingeflossen, dass sie in Teilen bis
heute
nachwirken. Miriam Sénécheau spricht von einem „lebendigen Wissen“
(S. 167)
über Germanen, das sich seit 1945 gehalten hat und ab der
Milleniumwende in den
populären Geschichtskulturen als „Germanenboom“ (S. 145) wieder
stärker ablesen
lässt. Dazu skizziert sie, wie teils stark veraltete, aber immer
noch gängige
Germanenbilder in Filmen, Wissensmagazinen und Schulbüchern
transportiert
werden.
Den Macherinnen und Machern in den Mainstream-Medien sei dies
meist gar nicht
bewusst. Sehr bewusst hingegen werden entsprechende Narrative in
der extremen
Rechten verbreitet. Wie und in welchen Organisationsformen dies
geschieht,
stellen schließlich Karl Banghard und Jan Raabe in ihrem Aufsatz
dar. Obgleich
schon die Nationalsozialisten Wikinger zu Germanen machten, wie
Halle aufzeigt,
und dieses Bild auch heute in den Medien zusammengelegt wird, wie
Sénécheau
erläutert, sind Wikinger heute immer noch weniger belastet als
„Germanen“.
Daher nutzt man im rechtsextremen Milieu tendenziell eher das Bild
des
Wikingers als das des Germanen.
Die Autoren des Bandes sind allesamt ausgewiesene Expertinnen und
Experten auf
ihren jeweiligen Gebieten. Ihre Aufsätze geben ihren
Forschungsstand wieder und
bieten daher nicht in erster Linie neue Erkenntnisse, sondern
einen breit
gefächerten Überblick über die Thematik. Sie bauen sinnvoll
aufeinander auf und
ergänzen sich dahingehend, dass sie unterschiedliche Episoden der
Germanenrezeptionsgeschichte von der Römerzeit bis heute unter
unterschiedlichen
Gesichtspunkten beleuchten. Es wird herausgestellt, dass das
Germanenbild seit
jeher eine identitätsstiftende Ebene hatte – zur römischen Zeit
zur Abgrenzung
der Römer von den Völkern jenseits des Rheins, in der Neuzeit zur
Konstruktion
einer nationaldeutschen Kontinuität. Wissenslücken über die unter
dem
Sammelbegriff gefassten Völker wurden seit jeher durch
ideologische Narrative
aufgefüllt und so der eigenen Weltanschauung angepasst. Darum wäre
vielleicht
auch ein Aufsatz wünschenswert gewesen, der die jüngeren und
gegenwärtigen
Perspektive(n) außerhalb des deutschsprachigen Raums näher
beleuchtet: Welches
Germanenbild oder welche Germanenbilder entwickelten sich in den
Geschichtskulturen der Länder, die sich nicht im gleichen Maße wie
die Deutschen
als Nachfolger der Germanen verstehen? Aber auch andere, etwa
komparatistische
oder medienpädagogische Ansätze hätten den Band bereichern können.
Eine
Aufzählung von Perspektiven, aus denen Germanenbilder noch
untersucht werden
müssten und teils ja auch werden, ist aber müßig. Das Thema ist
groß und die
Möglichkeiten sind vielfältig.
Insgesamt bietet der vorliegende Band nicht nur einen breiten
Überblick über
die Geschichte und aktuellen Tendenzen von Germanenbildern,
sondern wird auch
der Intention seines Herausgebers vollkommen gerecht, sich „auf
die Spurensuche
der Germanenideologie“ zu begeben und „entsprechende Bilder“ zu
hinterfragen
(S. 11). Dadurch sensibilisiert er in recht kompakter Weise dafür,
welche
politischen Dimensionen hinter scheinbar unpolitischen Narrativen
stehen
können.
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Date: 2021/01/30 08:13:02 From: Hans-Joachim Hoffmann via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Verkaufsstart der Lokalgeschichte „Verwirrende Wege -
Ottweiler 1918/19 - 1956 - Entstehung, Zerschlagung und
Neuaufbau demokratischer Strukturen“
Endlich ist es soweit: Ab dem 1. Februar 2021 kommt die
Darstellung „Verwirrende Wege – Ottweiler 1918/19–1956 –
Entstehung, Zerschlagung und Neuaufbau demokratischer Strukturen“
(ISBN 978-3-00-067119-7), verfasst von Hans-Joachim Hoffmann, in
den Verkauf.
In seinem Vorwort führt der Verfasser u.a. aus:
„Die vorliegende Darstellung zur Ottweiler Lokalgeschichte von
1918 bis 1956 richtet sich nicht in erster Linie an den
Fachhistoriker, sondern an historisch interessierte LeserInnen,
die sich die Frage stellen:
Wie kam es auf örtlicher Ebene zum Zerfall demokratischer
Strukturen und zur Machtergreifung durch den Nationalsozialismus?
Um diese Frage zu beantworten, bedurfte es der Recherchen, um
zunächst die Anfänge des politischen Lebens in Ottweiler nach dem
1. Weltkrieg zu ermitteln, also zu fragen:
- Wann erfolgte die Gründung der einzelnen Parteien nach dem 1.
Weltkrieg?
- Wie entwickelten sich die örtlichen Parteien nach ihrer
Gründung 1918/19 bis 1935?
Die Rückgliederung des Saargebietes an Deutschland 1935 bedeutete
einen radikalen Bruch mit den mühsam entwickelten demokratischen
Strukturen und die Durchsetzung der Diktatur. Es galt also zu
klären:
- Wie sicherte der Nationalsozialismus seine Macht auf örtlicher
Ebene?
Aufbau und Zerfall demokratischer Strukturen waren und sind stets
an Personen und ihr poltisch-gesellschaftliches Engagement
gebunden. Ihre Leistungen – im positiven wie negativen Sinn –
führte zu den Fragestellungen:
- Welche Personen prägten das politische Leben Ottweilers im
Zeitraum 1918/19–1956?
- Welche Lokalpolitiker verantworteten den demokratischen
Neuaufbau nach dem 2. Weltkrieg?
Die Abfassung der Lokalgeschichte Ottweilers für diesen Zeitraum
entwickelte sich in engem Zusammenhang mit den Recherchen der
Biographien politisch verfolgter Ottweiler BürgerInnen in der Zeit
des Nationalsozialismus. Dabei stellte sich heraus, dass keine
quellengestützte Ottweiler Lokalgeschichte für diesen
Zeitabschnitt vorliegt. Denn entsprechend der Zielsetzung bisher
verfasster Lokalgeschichten, die sich als Überblicksdarstellungen
verstehen, findet die politische Entwicklung in Ottweiler seit dem
Ende des 1. Weltkrieges sowie die Darstellung der NS-Zeit und der
Jahre nach dem 2. Weltkrieg nur in begrenztem Rahmen Beachtung.
Dies veranlasste mich, die politische Entwicklung in Ottweiler
während der Völkerbundzeit, der Zeit des Nationalsozialismus und
im Zeitraum von 1945 bis 1956 auf Quellenbasis nachzuzeichnen. Als
wichtigste Grundlage erachtete ich die Auswertung der vorliegenden
Protokolle der Ottweiler Stadtverordneten-Versammlung (bzw. des
Ottweiler Stadtrates) sowie die Berichte in der Lokalpresse,
insbesondere der „Ottweiler Zeitung“; des Weiteren zog ich
einschlägige Archivalien des Landesarchivs sowie der Stadtarchive
Ottweiler und Neunkirchen zu Rate. [...]
Keine Beachtung fanden die Vorgänge im Umfeld der
Reichspogromnacht 1938 sowie die Zeit des 2. Weltkrieges; zu
diesen Themen verweise ich auf „Die Kriegs- und Soldatenchronik
der Stadt Ottweiler“ (2005) von Dieter Robert Bettinger sowie auf
meine Darstellung „Seid vorsichtig mit der Obrigkeit...! – Beitrag
zur Erinnerungskultur und Lokalgeschichte Ottweilers“ (2015).
Ich versuchte die in den Quellen, der Literatur und in
Presseberichten erwähnten Personen zu identifizieren; dies geschah
nicht, um politisch und/oder gesellschaftlich handelnde Personen
zu diskreditieren, sondern um zu zeigen, dass in Ottweiler das
Gedankengut des Nationalsozialismus in allen gesellschaftlichen
Schichten Fuß fassen konnte, während die Gegenentwürfe der
Sozialdemokratie und des Kommunismus, getragen von der
Arbeiterschaft, bei den anderen Bevölkerungsschichten keine
ausreichende Unterstützung fanden. [...]
Nur gestreift wird die parteipolitische Entwicklung in Ottweiler
nach dem 2. Weltkrieg, da ihre ausführliche Darstellung den Rahmen
dieser Arbeit sprengen würde. Für die Ortsgruppen der CDU und SPD
liegen Festschriften vor, die eine erste Information ermöglichen;
eine Geschichte ihrer lokalen Vorläufer und der übrigen bis 1956
im Stadtrat Ottweiler vertretenen Parteien (CVP – DPS – SPS – KP)
fehlt. [...].“
Das Buch kann ab dem 1.2.2021 zum Preis von € 29.80 erworben
werden bei: Buchhandlung Köhler, Enggass 2, Pressefachgeschäft Fabio Vitello, Wilhelm-Heinrich-Straße
11 Tourist-Information, Rathausplatz 5 Geschäftsstelle Sparkasse Neunkirchen,
Wilhelm-Heinrich-Straße 39 Bücher König, Neunkirchen, Bahnhofstr. 43 Hans-Joachim Hoffmann, Adolf-Kolping-Weg 7, 66564 Ottweiler
(06824-7990) - bei Versand: plus € 5.00 (Verpackung/Porto)
Am 1. Februar bietet Hans-Joachim Hoffmann im neueröffneten
Pressefachgeschäft Fabio Vitello, Wilhelm-Heinrich-Straße
11 von 9.00–12.00 Uhr sowie von 16.00–18.00 Uhr
seine Darstellung persönlich an.
Neben der Sparkasse Neunkirchen, Saartoto und Tobias Hans,
Ministerpräsident des Saarlandes, unterstützen der H.-u.-V.
Ottweiler durch einen Druckkostenzuschuss und Irene Funk diese
Publikation.