Monatsdigest

Re: [Regionalforum-Saar] Warum wir uns einen "guten Rutsc h" wünschen

Date: 2021/01/04 16:50:09
From: Elmar Peiffer via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>


 
Elmar Peiffer
 
 
 
Gesendet: Donnerstag, 31. Dezember 2020 um 16:36 Uhr
Von: "Roland Geiger via Regionalforum-Saar" <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
An: "Regionalforum" <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Betreff: [Regionalforum-Saar] Warum wir uns einen "guten Rutsch" wünschen

Warum wir uns einen "guten Rutsch" wünschen

Von Leeor Engländer, veröffentlicht am 01.01.2012


Nur im deutschsprachigen Raum wünscht man sich zum Jahreswechsel einen "guten Rutsch". Doch was sich hinter diesem Wunsch verbirgt, weiß kaum jemand.


Meine Mutter kann Silvester nicht leiden: "Dus sennen gojische Majses" (das ist nichtjüdischer Blödsinn).

Mit Papst Silvester I., nach dem der Tag benannt ist, hat sie sowieso nichts am Hut und vom obligatorischen Fondue in der Neujahrsnacht (traditionell bei meiner Tante) hält sie nicht viel: "Wenn ich ein Steak will, lege ich ein anständiges Stück Fleisch in die Pfanne."

Feuerwerk?           "Zwar schön, aber Geldverschwendung."
Bleigießen?            "Macht Löcher in die Tischdecke."
Dinner for one?     "Die zwei Alten gehen mir auf die Nerven."
Champagner?        "Ich mag keinen Alkohol."

Und zu guter Letzt ist da noch dieser alberne Gruß.

Zwischen Weihnachten und dem ersten Januar "rutscht" eine ganze Nation kollektiv ins neue Jahr, obwohl es auch dieses Jahr größtenteils kein Schnee oder Glatteis gab. Wir wünschen weder Kindern auf dem Spielplatz einen guten Rutsch in die Sandkiste, noch dem besten Freund einen guten Rutsch ins neue Lebensjahr. Trotzdem vollziehen wir regelmäßig einen halsbrecherischen Rutsch über die Jahreswende hinweg.

"Einen guten Kopf" an Neujahr

Keine Nation, außer wir Deutschen (anscheinend auch manche Österreicher und Schweizer), wünscht sich einen "guten Rutsch". Was wohl damit zu tun hat, dass die meisten nicht wissen, woher der Begriff eigentlich stammt. Das jüdische Neujahr heißt „Rosch ha Schanah“, wörtlich übersetzt "Kopf des Jahres". Auf Jiddisch wünscht man sich in der Zeit vor und nach dem Feiertag "a git Rosch" (einen guten Kopf). Man kann davon ausgehen, dass der "gute Rutsch" aus einem weitläufig missverstandenen "git Rosch" entstand.

Und da wir an diesem Tag schon so sinnlos in der Gegend herumrutschen, schickt meine Mutter dem albernen "Rutsch" gerne noch ein "Hals- und Beinbruch" hinterher – wohl wissend, dass auch hier den meisten unbekannt ist, woher das eigentlich kommt.

"Hazlacha uwracha" (Erfolg und Segen) ist ein hebräischer Segen, mit dem man unter anderem Geschäftsabschlüsse oder Ehen besiegelt. Auf Jiddisch wurde daraus "hatsloche un broche", oder eben auf Deutsch "Hals- und Beinbruch". Im Übrigen sind Hochzeiten und Geschäftsabschlüsse gelegentlich gar nicht so weit voneinander entfernt und könnten ebenfalls verwechselt werden. Dazu aber mehr in ein paar Monaten, wenn mein Bruder heiratet. Zunächst wünsche ich Ihnen ein gutes, glückliches und gesundes neues Jahr – ganz ohne Rutschen und ohne Beinbruch.

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Quelle: https://www.welt.de/debatte/kolumnen/article13792702/Warum-wir-uns-einen-guten-Rutsch-wuenschen.html
 

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[Regionalforum-Saar] Ein Corona-Pandemie-Bekämpfun gs-Abfallprodukt

Date: 2021/01/06 21:30:31
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Guten Abend,

mein Ticker von der SZ informierte mich heut abend darüber, wie ich das Gebiet  15 km rund um meinen Wohnort ermittele, falls der Indizenzwert über 200 geht.

„Aktuell gibt es zwar noch keinen saarländischen Landkreis, der einen solchen Inzidenzwert von über 200 aufweist. Und dennoch, für den Fall der Fälle: Was liegt denn überhaupt in diesem 15-Kilometer-Radius? Sprich, wo darf ich noch hin, wenn die Regel angewandt wird? Das lässt sich unter anderem mit dem Webtool „Calcmaps“ herausfinden. Die SZ erklärt, wie das Online-Werkzeug funktioniert.


=> Rufen Sie das Tool über www.calcmaps.com/de/ auf.
=> Wählen Sie die Option „Radius auf Karte messen“.
=> Geben Sie Ihre Adresse oder Stadt im dafür vorgesehenen Feld ein.
=> Klicken Sie auf "Radius KM" und wählen Sie "15 km".
=> Der Kreis den Sie nun angezeigt bekommen zeigt den Bereich, den Sie besuchen dürfen.“

Tatsächlich hat diese Information sogar einen praktischen Nutzen - außer den, mich in meine geographischen Grenzen zu weisen (für die orthografischen Grenzen des Verfassers kann ich nichts; Kommas sind nicht jedermans Stärke.)

Denn das „Tool“ (spricht sich „Tuhl“ und ist das englische Wort für „Werkzeug“) kann noch einiges mehr. Schaut es Euch bitte über den Link doch einmal an.

Roland

[Regionalforum-Saar] Aufstand in den USA

Date: 2021/01/06 23:04:54
From: anneliese.schumacher(a)t-online.de <anneliese.schumacher(a)t-online.de>

Vor einigen Stunden haben Anhänger des Noch-Präsidenten den Senat in Washington gestürmt. Sie drangen gewaltsam bis in den Senatssaal vor. Eine posierte auf dem Stuhl der Vorsitzenden. 

Nie hätte ich gedacht, einmal solche Bilder sehen zu müssen. Nach Stunden löst sich der Mob jetzt vielleicht langsam auf.

 

Mir ist klar, dass die Vorgänge nicht bei uns stattfinden. Ich hoffe, sie haben keine Auswirkungen auf uns.

 

Grüße Anneliese Schumacher



[Regionalforum-Saar] Weltbildwechsel. Ideengeschichten geographischen Denkens und Handelns

Date: 2021/01/07 11:51:30
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Weltbildwechsel. Ideengeschichten geographischen Denkens und Handelns

Autor(en) Schlottmann, Antje; Wintzer, Jeannine
Erschienen Bern 2019: UTB
Anzahl Seiten 405 S.
Preis € 29,99
ISBN 978-3-8252-5218-2

Rezensiert für H-Soz-Kult von Sebastian Dorsch, Philosophische Fakultät, Universität Erfurt

Dieses Buch macht Spaß. Es macht Spaß, weil es ein kluges, zum Weiterdenken anregendes und gut geschriebenes Buch ist. Während die meisten Lehrbücher versuchen, Studierenden möglichst viel Wissen zu vermitteln, ist dieses Buch, wie es am Ende der Einleitung heißt, eine Einladung zum „Weiter- und Fortschreiben sowie zum Anders- und Neu-Erzählen“ (S. 35). Mit seinem praxeologisch-konstruktivistischen Ansatz bewegt sich das Buch auf dem aktuellen Stand der geographischen Forschung. Als Buch, das lehrt, selbst zu denken, und das den Leser/innen die entsprechenden Informationen vermittelt, richtet es sich damit sowohl an Studierende, an Raum-Wissenschaftler/innen als auch an allgemeiner für räumliche Fragestellungen Interessierte. Dabei ist schon der Titel „Weltbildwechsel“ Programm, er changiert zwischen den Alternativen Feststellung oder Aufforderung, abstrakter Singular (der Weltbildwechsel) oder konkreter Plural (die Weltbildwechsel): Die beiden Geographinnen Antje Schlottmann und Jeannine Wintzer werfen anregend-neue, vielfältige Blicke auf ihr Fach, „die Geographie“.

Die Autorinnen bieten in ihrem Buch also keine einheitliche Ideengeschichte der Geographie, sondern erzählen verschiedene, ineinandergreifende Geschichten und versuchen so, die von ihnen als „Falle der Geschichtsschreibung“ (S. 24) bezeichnete Linearität/Teleologie aufzubrechen. Schon hier wird deutlich, wie sie dabei die Subjektivität ihres Forschungsstandpunktes reflektieren: Sie machen deutlich, dass sie ihren eigenen „Kontext nicht vollständig beschreiben, offen- oder ablegen können“ (S. 23). Sie machen ihren „Sehepunkt“ (Johann Martin Chladenius, 1710–1759) kenntlich, kontextualisieren ihn und reflektieren die damit verbundenen Macht-Dynamiken: „Unsere Rekonstruktion ist […] elitär und eurozentrisch und aufgrund von Sprachbarrieren vor allem mitteleuropäisch. Es mangelt dem Buch an Hinweisen zu Errungenschaften von Seiten der Gesellschaften fast aller anderer Kontinente.“ (S. 23) Dass die Autorinnen nicht suggerieren, einen vollkommenen Überblick zu haben, lässt sich hervorheben. Eurozentrismus und Elitarismus sind für die Autorinnen eine zweite „Falle der Geschichtsschreibung“. Auch auf weitere Schwerpunktsetzungen und Auslassungen, beispielsweise im Bereich der physischen Geographie, weisen die Autorinnen zu Beginn explizit hin. Eng damit verbunden nennen die Autorinnen den Positivismus als dritte Falle für eine Geschichte der Geographie: die Vorstellung, man könne durch die genaue Beobachtung von empirisch wahrnehmbaren Phänomenen wertneutral-wissenschaftliche Erklärungen liefern und damit Lösungen für soziale Probleme. Diese Falle zu reflektieren, sei insbesondere für eine Geographie, die sich als Fach zwischen Natur- und Sozialwissenschaft versteht, wichtig.

Als Konsequenz aus der Auseinandersetzung mit den drei genannten Fallen (Eurozentrismus/Elitarismus – Linearität/Teleologie – Positivismus/Wertneutralität) entwickeln die Autorinnen eine Definition von Geographie „als eine wissenschaftliche Praxis, die sich mit sozialen Raumverhältnissen und räumlich situierten gesellschaftlichen Verhältnissen befasst.“ (S. 23) Geographie befasst sich, so formulieren die Autorinnen, mit verschiedenen Formen der Raum-Aneignung (wie Landwirtschaft oder Städtebau) ebenso wie mit deren Folgen für die natürliche Umwelt (wie Erosionen oder Klimawandel) und den daraus resultierenden sozialen Phänomenen wie Urbanisierung, Armut oder Migration. Mit ihrem praxeologischen Ansatz fokussieren sie selbstkritisch auf der Ebene von Beobachtungen zweiter Ordnung das Geographie-Machen und das Wie geographischen Handelns.

Geographie wird damit explizit als kritische und sozial interessierte Raum-Wissenschaft verstanden, nicht zuletzt um damit Verbindungen zwischen den natur- und sozialwissenschaftlichen Perspektiven des Fachs herzustellen. Für mich, der ich als Historiker seit vielen Jahren Raum- und Zeit-Fragen bearbeite, ist es interessant zu beobachten, dass der Raum-Fokus gerade in der deutschsprachigen Geographie noch immer nicht selbstverständlich ist. Für die Geschichtswissenschaft lässt sich mit wenigen Ausnahmen Analoges zum selbstreflektierenden Umgang mit dem Thema Zeit sagen, das erst jüngst wieder vermehrt in den Blick genommen wurde. Mit diesem Band ist also auch die Hoffnung verbunden, dass Geograph/innen mit ihrer sozial- und naturwissenschaftlichen Raum-Expertise die Debatten rund um den spatial turn, aber auch die konkrete Klima- und Globalisierungsforschung in Zukunft noch stärker bereichern.

Konkret heißt das für den Aufbau des Buches, dass die Autorinnen zehn Praktiken geographischen Denkens und Handelns in den Blick nehmen und anhand dieser zehn unterschiedliche, mit den Begriffen verbundene Geschichten mit je eigenen Akteuren und Konzepten beleuchten. Diese Begriffe klingen zunächst nicht spezifisch „geographisch“, sondern eher nach Alltagspraktiken: Vermessen – Erklären – Erobern – Vermitteln – Aufklären – Wahrnehmen – Gestalten – Differenzieren – Visualisieren – Modellieren. Gerade weil nicht geographische Fachbegriffe im Zentrum stehen, sondern deren spezifische Verwendung, werden nicht nur wesentliche Diskussionsgegenstände geographischer Forschung erfasst, sondern auch zahlreiche Grenzbewegungen zwischen dem Fach, anderen Disziplinen und dem Alltag. Konkret starten die Autorinnen jedes Kapitel mit einem aktuellen Aufhänger, sei es mit einer CIPRA-Demonstration gegen den Ausbau von Ski-Liften (Wahrnehmen), mit einem Geographen-Kongress-Thema (Gestalten), mit der Mondlandung (Erobern), Naturkatastrophen (Modellieren) oder Gedanken zu modernen Navigationsgeräten und Literaturverarbeitungen (Vermessen). Im Anschluss daran erklären sie, wie die jeweils benannten Praktiken über die verschiedenen Epochen hinweg unser Welt- und Raum-Verständnis so geprägt haben, dass diese aktuellen Auseinandersetzungen beziehungsweise Situationen und damit unsere Gegenwart in ihren räumlichen Dimensionen denkmöglich wurden. So verweisen sie mit Bezug auf das (räumliche) Erklären auf Homers hodologisches Vorgehen, das entlang von Wegen die je spezifische Natur erklärend beschreibt – eine Praxis, die sich in unterschiedlichen Formen in Reisebeschreibungen des Mittelalters genauso wiederfinden lässt wie bei Alexander von Humboldt und vor allem für die deutschsprachige Geographie sehr einflussreich in der Länderkunde, geprägt durch Alfred Hettner. Neben Ähnlichkeiten arbeiten sie neue Aneignungen heraus, beispielsweise wenn sie auf geodeterministische Konsequenzen dieser Praxis – spezifische, einzigartige Landschaften, Klimata etc. prägen menschliches Handeln – hinweisen. Unter dem Begriff „Erobern“ verweisen sie auf den Beginn der Militärgeographie im antiken Griechenland, aber auch (mit Verweis auf den eben behandelten Geodeterminismus) auf geopolitische Aneignungen im Kontext neuzeitlicher Nationalstaat- und Kolonialreichbildungen oder auf Raum-Konzeptionierungen im Rahmen der Area Studies (Container-Konzept): „Koloniales, imperiales und geopolitisches Denken verstehen Raum als etwas, das besetzt, in Besitz genommen, eingenommen, annektiert und mittels militärischer Macht demonstriert werden kann.“ (S. 142)

Kulturwissenschaftlicher Forschung wird häufig vorgeworfen, alte Gewissheiten zu hinterfragen, ohne selbst neu zu ordnen. Das hier vorgestellte Werk geht einen konsequenten Mittelweg, indem es das Produzieren räumlicher Weltbilder ins Zentrum rückt und damit unsere Gegenwart als nicht gesetzesmäßig vorherbestimmtes Produkt vergangenen Handelns versteht. Das „grundlegende Bedürfnis (westlicher) Menschen [zu verstehen], warum etwas genau so kam (und vielleicht auch kommen musste), wie es kam“ (S. 25), wird dadurch zumindest reflektiert. Durch Blicke über Mitteleuropa oder auch über die untersuchten deutschsprachigen Wissenschaftler wie Humboldt, Kant, Hettner und Haushofer hinaus hätte man dieses „Bestreben“ auch noch wesentlich stärker als kolonialistische Rationalität untersuchen können und – für ein weniger auf Mitteleuropa fokussiertes Verständnis von Geographie (gibt es das geographische Pendant zur Globalgeschichte?) – auch sollen. Der postkolonial orientierte Blick auf geographische Praktiken scheint in der englisch- und französischsprachigen Fachliteratur deutlich ausgeprägter als in der in diesem Werk explizit fokussierten deutschsprachigen Forschungslandschaft. Wie eingangs ausgeführt ist es eine Stärke dieses Buches, mit der vorgeschlagenen und überzeugend praktizierten Herangehensweise, das Weiterdenken in diese Richtungen anzuregen.

Zahlreiche in den Text eingebaute und farblich abgesetzte Exkurse und Definitionen zu zentralen Fachbegriffen und Sachverhalten erhöhen die Qualität des Buches als Lehrbuch ebenso wie am Schluss des Buches ein sorgfältiges ABC der Geographie. Zur Vertiefung findet sich am Ende jedes Kapitels neben den Zusammenfassungen ein umfangreiches Literaturverzeichnis und zur besseren Orientierung ein gut sortiertes Register.

Zitation

Sebastian Dorsch: Rezension zu: Schlottmann, Antje; Wintzer, Jeannine: Weltbildwechsel. Ideengeschichten geographischen Denkens und Handelns. Bern  2019. ISBN 978-3-8252-5218-2, In: H-Soz-Kult, 07.01.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-29880>.

[Regionalforum-Saar] Feldpost für Elsbeth. Eine Familie im Ersten Weltkrieg

Date: 2021/01/07 11:55:39
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Feldpost für Elsbeth. Eine Familie im Ersten Weltkrieg

Herausgeber Gunilla Budde
Erschienen Göttingen 2019: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten 576 S., 40 Abb.
Preis € 24,90
ISBN 978-3-8353-3526-4

Rezensiert für H-Soz-Kult von Silke Fehlemann, Historisches Seminar II, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Die hundertjährige Wiederkehr des Kriegsbeginns 1914 liegt jetzt schon einige Jahre zurück und nun wird doch deutlich, dass das „Centenaire“ zahlreiche Themenfelder der Weltkriegsforschung noch einmal neu akzentuiert hat. Vor allem die sogenannte Heimatfront hat – auch im Zeichen des emotional turn – große Aufmerksamkeit gefunden. Während die Feldpost von Soldaten schon seit einigen Jahrzehnten zum festen Quellenbestand der Weltkriegsforschung gehörte, sind die Familienkonstellationen, darunter vor allem Eltern-Sohn-Beziehungen erst seit Kurzem in den Blick der historischen Forschung gekommen. Briefe von Familienangehörigen sind allerdings seltener hinterlassen, da die Soldaten sie ja im Feld mit sich tragen mussten. Insofern macht es mehr Mühe, Korrespondenzen zwischen Soldaten und ihren Angehörigen zu finden, aber sie sind auch besonders aussagekräftig, berichten sie doch über den Austausch von Gefühlen, über die Dynamik der familiären Beziehungen im Verlaufe des Krieges, über das Sag- und das Nicht-Sagbare in der Kriegsgesellschaft.

Das gilt für den vorliegenden Band in besonderer Weise. Die Oldenburger Historikerin Gunilla Budde präsentiert hier den Briefwechsel der Arztfamilie Budde aus Herford während des Ersten Weltkriegs, also der Familie ihres Großvaters Gerhard, dessen Eltern Elsbeth und Karl sowie des älteren Bruders Ernst. Sie hat damit ein Andenken an ihre Familie als historische Quellensammlung publiziert. Es ist eine eigenwillige Quellenedition, ähnlich wie der einige Jahre zuvor kommentierte Briefwechsel der Familie Braun durch Dorothee Wierling.[1] Die Herangehensweise von Budde ist möglicherweise für die historische Forschung noch ertragreicher, da sie nur zurückhaltend kommentiert und sich jede Leser/in anhand der Briefe ein eigenes Bild machen kann. Die Verfasserin hat in begleitenden Texten einzelne Passagen aus den Briefen noch einmal eingehender eingeordnet und auf Unerwartetes verwiesen. Daneben sind historische Ereignisse, Eigennamen oder unverständliche Verweise in den Fußnoten erläutert und durch neuere Literatur zum Ersten Weltkrieg zurückhaltend ergänzt worden. Davon abgesehen lässt sie aber die Quellen für sich selbst sprechen.

Das Buch präsentiert nicht nur den Briefwechsel, sondern im Falle des ältesten Sohns Ernst auch noch ein zeitweise parallel geführtes Tagebuch. Dessen Inhalt offenbart an einigen Stellen, wie Ernst seine Erfahrungen für sich selbst formulierte und wie er sie wiederum an seine Eltern kommunizierte.

Was lernen wir über die Kriegserfahrungen der Familie Budde aus Herford? Die Buddes waren typische Vertreter des Bildungsbürgertums und wie viele in ihrer Schicht von der Notwendigkeit des Krieges überzeugt. Von einer bedingungslosen Kriegsbegeisterung ist aber in der Korrespondenz vergleichsweise wenig zu finden. Wie in vielen ähnlichen Selbstzeugnissen auch stand die Pflicht gegenüber dem Vaterland und die familiäre Ehre an erster Stelle. Der Briefwechsel ist Zeugnis eines lebhaften Austausches und einer innigen Verbindung zwischen dem älteren Sohn Ernst und seiner Mutter, zugleich dokumentiert er auch eine zunehmende Distanzierung zwischen den beiden. Diese Entfremdung war zum einen ganz profan durch die Widrigkeiten der Feldpostorganisation verursacht, zum anderen aber auch durch die unterschiedlichen Erfahrungswelten. Der Sohn imaginierte sein Zuhause weiterhin als heile Vorkriegswelt, während Vater und Mutter unter den Belastungen zunehmend litten und auch erkrankten. Immer wieder ging es in Ernsts Briefen um ausbleibende Pakete von zu Hause. Während Elsbeth der Ansicht war, keine Mutter könnte mehr schicken als sie selbst, schrieb der Sohn Ernst in einem ärgerlichen Brief nach Hause, da solle sie doch mal Zeugin bei der Paketausgabe sein, dann würde sie sehen, was die anderen Soldaten bekämen. Später stellte sich heraus, dass der Herforder Kutscher wohl zahlreiche Päckchen auf dem Weg zur Post unterschlagen hatte. Diese Korrespondenz mit den beiden Söhnen stärkt eigentlich die älteren Thesen der historischen Forschung über eine zunehmende Entfremdung zwischen Front und Heimat im Verlauf des Krieges. Darüber hinaus wird deutlich, wie Ernst Budde seine ersten lebensbedrohlichen Kriegserfahrungen an seine Eltern verharmlosend kommunizierte, aber in seinem Tagebuch dagegen durchaus seine Ängste und Albträume thematisierte. Die Erwartungen an eine militärische Männlichkeit wurden also nach außen erfüllt, aber nicht vollständig verinnerlicht.

Ernst Budde wurde schließlich im April 1915 in der Nähe von Warschau erschossen und nun wird die tiefe Trauer der Mutter in ihren verzweifelten Briefen deutlich, mit denen sie sich um die Heimführung des Leichnams bemühte. Das deckt sich mit den aktuellen Forschungen zur Kriegstrauer, in denen die Heimführung der toten Soldaten für die meisten Hinterbliebenen als besonders wichtig erkannt wurde. Kurz nach Ernsts Tod meldete sich auch der jüngere Sohn Gerhard zum Kriegsdienst, er kam damit einer Einziehung zuvor – auch das entspricht neueren Untersuchungen, die gezeigt haben, dass viele Freiwilligenmeldungen weniger aus überschäumender Kriegsbegeisterung stattfanden, sondern um einer Zwangsrekrutierung zuvorzukommen. Mit einem solchen Engagement eines Sohnes schuf sich die gesamte Familie soziales Kapital.

Im zweiten Teil des Buches sind schließlich die Briefe zwischen den Eltern und dem jüngeren Sohn Gerhard dokumentiert. Interessanterweise sind nun auch gelegentlich Briefe vom Vater an den Sohn zu finden, das war beim älteren Ernst nicht der Fall. Wie in vielen Familien üblich, hatte er zunächst die Korrespondenz mit dem Soldatensohn seiner Ehefrau überlassen. Ob er nun bereute, seinem ersten Sohn so wenig geschrieben zu haben, oder ob er zu Gerhard eine engere Bindung hatte, wird nicht deutlich, Gunilla Budde vermutet Letzteres. Obwohl die Mutter sich um diesen verbliebenen Sohn ganz furchtbar sorgte, eskalierten die Konflikte zwischen Mutter und Sohn über angemessenes Verhalten zunehmend – vor allem über eine respektvolle Kommunikation mit den Eltern –, manchmal standen beide kurz vor einem Abbruch der Beziehung. Dann griff der Vater vermittelnd ein. Gerhard überlebte den Krieg knapp, er wurde schwer verwundet und verlor die Sehkraft des linken Auges. Die Leserin erfährt am Schluss, dass er nach dem Krieg noch Medizin studierte, die Praxis des Vaters übernahm und mit seiner späteren Frau Gertrud vier Söhne bekam.

Die Familienkorrespondenz gibt einen vertieften Einblick in zahlreiche Themenfelder der Sozial- und Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs, von der Nahrungsmittelknappheit (die ländliche Arztfamilie hatte es vergleichsweise gut, da der niedergelassene Arzt oft mit Naturalien bezahlt wurde) über die Kriegstrauer bis hin zu den zunehmend „dick rot angehauchten“, also sozialdemokratisch orientierten, „Dienstmädchen“ (S. 540). Beide Söhne waren Einjährig-Freiwillige, waren also potentielle bürgerliche Offiziersanwärter, insofern geben die Briefe eher die Erfahrungen einer privilegierten Arztfamilie als die der sogenannten einfachen Soldaten wieder. Es sind Innenansichten aus dem Bürgertum und als solche müssen sie gelesen werden. Sie eignen sich besonders, um emotionale Normen und Regime in der Kriegsgesellschaft zu identifizieren.

Die Briefe sind weitgehend wortgetreu wiedergegeben, die Herausgeberin hat nach eigenen Angaben nur die Schreibweise etwas angepasst.

Insgesamt liegt hier sowohl ein historisches Lesebuch als auch eine kommentierte Quellensammlung vor, die Briefe sind gut lesbar präsentiert, die Korrespondenz wird durch Zeichnungen und Photographien der Familie und der verschiedenen Aufenthaltsorte illustriert. Dies ist ein sehr produktiver Umgang mit familiären Selbstzeugnissen und sogenannten Dachbodenfunden. Es ist zu hoffen, dass weitere kommentierte Editionen ähnlicher Art folgen werden.

Anmerkung:
[1] Dorothee Wierling, Eine Familie im Krieg. Leben, Sterben und Schreiben 1914–1918, Göttingen 2013.

Zitation

Silke Fehlemann: Rezension zu: Budde, Gunilla (Hrsg.): Feldpost für Elsbeth. Eine Familie im Ersten Weltkrieg. Göttingen  2019. ISBN 978-3-8353-3526-4, In: H-Soz-Kult, 07.01.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-29328>.

[Regionalforum-Saar] Einen Artikel in der SZ "Zum 200 . Todestag von „Lenchen“ Demuth" betref fend.

Date: 2021/01/08 14:08:40
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Am 4. Januar 2021 erschien in der Saarbrücker Zeitung (vermutlich Regionalausgabe Saarbrücken) dieser Artikel:

Zum 200. Todestag von „Lenchen“ Demuth

Saarbrücken Karl Marx’ Haushälterin half Verletzten in Saarbrücken.

Von Marco Reuther

Eine berühmte Saarländerin wäre am 31. Dezember 200 Jahre alt geworden: Helena „Lenchen“ Demuth, die tatkräftige Haushälterin der Familie von Karl Marx. „Lenchen“ war als junges Mädchen in den Haushalt der Eltern von Jenny von Westphalen eingetreten, der späteren Ehefrau von Karl Marx. 1845 wechselte Helena Demuth in den Dienst der Familie Marx, die gerade von Paris nach Brüssel gezogen war. Sie organisierte den Haushalt, kümmerte sich um die Kinder und um die Finanzen. Dass die auch politisch aufgeschlossene Frau wohl eher als Familienmitglied betrachtet wurde, zeigt sich daran, dass sie nach ihrem Tod 1890 im Grab an der Seite von Jenny und Karl Marx auf dem Highgate Friedhof in London bestattet wurde.

Heimatforscher Bernd Hartmann machte die SZ darauf aufmerksam, dass Helena Demuth offenbar auch beherzt helfend in Saarbrücken tätig war: Sie soll 1870 gemeinsam mit der Dudweiler Gastwirtin Freudenberger und anderen Frauen im Pflegedienst für Verwundete in der Schlacht bei Spichern tätig gewesen sein. Hartmann beruft sich dabei auf die Schrift „Karl Marx, Lenchen Demuth und die Saar“ von Heinz Monz, ehemals Leiter des Karl-Marx-Hauses in Trier. Helena Demuth wäre somit eigens für diesen Einsatz von Brüssel an die Saar gereist. Mit ihrem Leben beschäftigt sich auch die neuere Biografie „Helena Demuth“ von Marlene Ambrosi (Verlag Michael Weyand, Trier, 17,95 Euro).

=> https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/saarbruecken/200-todestag-von-lenchen-demuth-sie-wirkte-auch-in-saarbruecken_aid-55498557

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Dazu habe ich Herrn Reuther eben eine Email geschrieben:

"Hallo, Herr Reuther,

ich nehme Bezug auf Ihren Artikel in der SZ vom 4. oder 5. Januar 2021 über den 200. Todestag von Helena Demuth.

Leider sind in dem Artikel einige gravierende Fehler, was schon mit der Überschrift anfängt. Denn gemeint ist wohl der Geburtstag, wie es aus dem ersten Satz des Artikels hervorgeht. Aber ob der 31. Dezember 1820 der Geburtstag war ist auch nicht sicher: lt. Geburtseintrag im Standesamt geschah die Geburt um 1 Uhr morgens am 31. - übrigens in St. Wendel, was im Artikel völlig unterschlagen wird -, lt. Taufeintrag der Pfarrei St. Wendelin in St. Wendel war die Geburt am 30. Dezember, die Taufe am 31.

Natürlich war Helena Demuth keine Saarländerin, weil es das Saarland noch nicht gab. Es gab nicht einmal ein Deutschland. Sie wurde geboren im Fürstentum Lichtenberg, das dem Herzog von Sachsen-Coburg gehörte. Nach 1834 war sie Preußin, was sie bis zu ihrem Tod blieb. Denn in England ließ sie sich nicht einbürgern.

Dafür, daß Helene in Trier im Haushalt der von Westphalen als Hausmädchen diente, gibt es nur einen einzigen hiebfesten Beleg, das Einwohnerregister Triers von 1840. Davor und danach wird sie nicht genannt. 1842 zog die Witwe von Westphalen nach (Bad) Kreuznach und kehrt im Herbst 1843 nach Trier zurück - ohne Helena, aber mit einer Dienstmagd namens Maria Ensch. Am 18.12.1843 wohnte Helena  in ihrem Elternhaus in St. Wendel (Stadtarchiv St. Wendel, C2-18, Seite 30ff). In den Haushalt von Karl Marx kam sie vermutlich durch Vermittlung von dessen Schwiegermutter, bei der sie zu dem Zeitpunkt aber nicht mehr arbeitete.

Ihr Gewährsmann Heinrich Hartmann hat sich leider auf die Schrift von Heinz Monz verlassen - wie das auch Frau Ambrosi tat -, ohne die Sachlage kritisch zu untersuchen. Dann hätte er festgestellt (im Stadtarchiv Trier im Nachlaß von Dr. Monz) -, daß diese Vermutung auf Hörensagen-Vermuten beruht. Monz hat 1970 den 81-jährigen Jakob Demuth (1889-1973) interviewt. Jakob war ein Sohn von Jakob Demuth (1847-1892) und Elisabeth Riotte (1855-1932) und ein Enkel von Helenas älterer Schwester Katharina (1815-1873).

Jakob Demuth jr erzählt Dr. Monz, er wisse von seiner Mutter, daß Helena „oft“ nach Dudweiler kam und die Familie besuchte. Leider konnte sie nicht bei ihren Verwandten wohnen, sondern kam bei einer Witwe namens Freudenberger unter. Diese war als Marketenderin und im Pflegedienst tätig. Dr. Monz stellte sofort Recherchen an und kam über die Stadtverwaltung Dudweiler in Kontakt mit einem Herrn Baum aus Wahlschied, der erklärte, ein Verwandter von Frau Freudenberger zu sein. Er wußte zu berichten, daß die Witwe 1870 an der Front unterwegs gewesen sei.

Wenn Helena nun 1870 in Dudweiler war und des Krieges wegen nicht mehr nach England zurückkonnte, weil - ja, warum eigentlich? Wenn sie nicht durch Frankreich reisen konnte, stand ihr der Weg über Belgien oder Holland offen. Wenn sie also 1870 bei Frau Freudenberger in Dudweiler war, dann kann es gewesen sein, daß sie mit dieser an der Front oben auf den Spicherer Höhen geholfen hat, Verwundete zu pflegen. Das hätte sicher ihrer Natur entsprochen.

Im Trierer Stadtarchiv finden sich im Nachlaß Heinz Monz zwei Briefe des deutschen Historikers Herbert Friedrich Andréas (1914-1984) an den Trierer Marx-Forscher Heinz Monz. Seit 1968 war er am „Institut Universitaire de Hautes Études Internationales“ in Genf in der Schweiz angestellt, wo sich mit anderen Historikern der Erforschung des Lebens von Marx und Engels von 1844 bis 1848 widmete.

Am 5. Juni 1970 schreibt Andréas an Heinz Monz:
„Lenchen als Pflegerin im dtsch-frz Kriege kommt mir etwas unwahrscheinlich vor, oder beseser gesagt, sehr unerwartet. Es gibt allerdings ähnliche Fälle, so zog die Mehrzahl der Sektion der Internationale in Zürich ebenfalls als freiwillige Samariter los. Aber Lenchen hätte das doch nur mit Zustimmung der Marxens getan, und ich habe niemals eine Spur von dieser „aufsehenerregenden“ (im Familienkreise) Abenteuertour gesehen - und es ist doch beinahe unvorstellbar, dasz ein solches einschneidendes Ereignis im Familienkreise in den Briefen an Freunde unerwähnt geblieben wäre. Kann da keine Verwechslung oder Namensähnlichkeit vorliegen? Es könnte ja z.B. eine gleichnamige Base gewesen sein.“

Außerdem stellt sich die Frage, wo sich Helena im August 1870 überhaupt aufhielt -am 30. August 1870 war sie jedenfalls mit Karl Marx und Familie im englischen Ramsgate in Ferien. An diesem Tag schreibt Karl Marx in einem Brief an Friedrich Engels: „Morgen früh mit steamer nach London zurück. Erstens ist der Aufenthalt hier per 5 Mann sehr teuer, da die Engländer infolge des Kriegs alle Badeplätze überströmt haben.“ Die „5 Mann“ waren Karl Marx, seine Frau Jenny und ihre Töchter Jenny und Eleanor und Dienstmädchen Helena, denn Tochter Laura weilte zu diesem Zeitpunkt in Paris. Um den 10. September ist Helene auf jeden Fall wieder in London: sie besucht mit Jenny Marx sr. zusammen das neue Haus von Friedrich Engels, in das er mit Lizzy Burns einziehen will. Die beiden inspizieren u.a. die vorhandenen Tapeten.

„Brüssel“ ist in dem Zusammenhang natürlich unsinnig, Marxens wohnten schon seit 20 Jahren in London.

Oben habe ich „oft“ in Anführungszeichen gesetzt, denn nur nach ihrer Ankunft in London sind nur drei Reisen Helenas ins Saargebiet nachweisbar - 1863, 1873 und 1888.

Das Foto aus dem Stadtarchiv St. Wendel, das Sie abgedruckt haben, zeigt nicht Helena Demuth, sondern Mary Ellen Burns, eine Nichte von Friedrich Engels.

Diese Daten habe ich meinem eigenen Buch „Lenchen Demuth“ entnommen, das 2018 im Zuge von Recherchen während und nach den Dreharbeiten zum Film von Klaus Gietinger entstand.

Mit freundlichen Grüßen
 
Roland Geiger"


[Regionalforum-Saar] "Wer helfen kann, der helfe! ". Deutsche SklavereigegnerInnen und die atlantische Abolit ionsbewegung, 1780–1860

Date: 2021/01/09 10:58:28
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

"Wer helfen kann, der helfe!". Deutsche SklavereigegnerInnen und die atlantische Abolitionsbewegung, 1780–1860

Autor Sarah Lentz
Reihe Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 261
Erschienen Göttingen 2020: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten 456 S.
Preis € 85,00
ISBN 978-3-525-36099-6

Rezensiert für H-Soz-Kult von Saskia Geisler, Lehrgebiet Geschichte der Europäischen Moderne, FernUniversität in Hagen

Dass das alte Narrativ vom alten Reich oder den deutschen Staaten als sklavereifreien Gebieten kritischer wissenschaftlicher Prüfung nicht standhält, hat vor nicht allzu langer Zeit Rebecca von Mallinckrodt in einem vom Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands ausgezeichneten Aufsatz dargelegt.[1] Angesichts aktueller Entwicklungen wie der Black Lives Matter-Bewegung und einem auch in Deutschland zunehmenden Bewusstsein über das koloniale Erbe, wundert es nicht, dass die Thematik sich auch in hochkarätigen Forschungsprojekten wiederfindet.[2] Nun hat Sarah Lentz, Universität Bremen, eine umfassende und beeindruckende Studie vorgelegt, die sich mit Sklavereigegner/innen im ausgehenden 18. und dem 19. Jahrhundert beschäftigt. Mit ihrer Doktorarbeit räumt sie mit einigen Vorurteilen über deutsche Abolitionist/innen auf und kann wichtige Forschungsdesiderate erhellen.

Lentz stellt sich in ihrer Arbeit vor allem zwei bisher für die Forschung ausschlaggebenden Thesen entgegen. So hatte Seymour Drescher eine starke Dichotomie zwischen den Antisklavereibewegungen Großbritanniens und Nordamerikas einerseits sowie des europäischen Festlandes andererseits postuliert und dabei Letztere als gewissermaßen nicht-existent oder defizitär definiert (S. 23). Während für Großbritannien und Nordamerika zahlreiche detaillierte Studien vorliegen, die die Antisklaverei-Bewegungen dort untersuchen, schien dieser Bereich für Europa damit abgehakt. In jüngster Zeit jedoch erscheinen zunehmend Studien, die dieser These widersprechen, besonders hebt Lentz in diesem Zusammenhang zu Recht Maartje Janses Analyse der niederländischen Antisklavereibewegungen hervor, die deutlich macht, dass die jeweiligen Motivationen der Akteur/innen genauer betrachtet werden müssen und eine Differenz zum britischen Vorgehen nicht unbedingt als Defizit gedeutet werden muss (S. 24). Jürgen Osterhammel, der zweite Wissenschaftler, dessen These Lentz programmatisch widerlegt, bescheinigt gerade den deutschen Staaten ein solches moralisches Defizit, da es eben keine gemeinsame Bemühung zur „Befreiung von der eigenen Sklavenhaltervergangenheit“ gegeben habe (S. 35). Lentz hält dem ihre detailreiche Studie entgegen: Es gab durchaus Engagement gegen Sklaverei, das über reine akademische Interessen und Tätigkeiten hinausging.

Dennoch steigt Lentz zunächst mit dem akademischen Bereich ein. Sie teilt ihren Untersuchungszeitraum in drei Phasen ein – nicht ohne darauf hinzuweisen, dass daraus keineswegs auf eine Linearität der Bewegungsentwicklung geschlossen werden kann. Die erste Phase umfasst den Umbruch zum 19. Jahrhundert (1780–1810) und fokussiert auf Einzelakteure und deren Beiträge zur Antisklavereibewegung. Lentz kann bereits hier an Beispielen wie August von Kotzebue nachweisen, dass deutsche Publikationen durchaus in die transatlantische Bewegung eingebunden wurden. Dennoch blieb es zunächst bei rein intellektuellen Praktiken. Agitation oder andere Formen der Aktivierung blieben aus. Den Titel der Lehnstuhlaktivisten gibt sie ihnen keineswegs pejorativ, sondern zunächst einmal abgrenzend von den folgenden Phasen.

Die zweite von Lentz vorgeschlagene Phase umfasst die Jahre 1810 bis 1840. Erneut stellt Lentz ein einleitendes Kapitel zu allgemeinen Bewegungsverläufen vorweg, um dann auf Einzelakteur/innen, hier spezifisch Alexander von Humboldt sowie Therese und Victor Aimé Huber, einzugehen. Diese Phase kann gewissermaßen als Hybrid zwischen dem vollen Aktivismus der dritten Phase sowie dem rein intellektuellen Begleiten der ersten Phase gesehen werden. So ist Alexander von Humboldt zwar – wohl aus Sorge um seine wissenschaftliche Neutralität – nicht bereit, aktives Gründungsmitglied einer Antisklavereigesellschaft zu werden, gleichwohl liefert er Daten an Abolitionist/innen und nutzt umgekehrt Daten derselben für seine Forschungszwecke. In seinen Publikationen und Vorträgen stellt er sich immer wieder gegen die Sklaverei, gleichwohl macht Lentz hier auch das Problem der Handlungsspielräume deutlich: Zurück in Preußen schwieg Humboldt nach einem ersten Vortrag zum Thema, zu nah war der Komplex der Bauernbefreiung. Deutlich wird: Die Vernetzung wird enger, das gezielte Ansprechen des Publikums gegen die Sklaverei auch. Lentz schlägt hier den Begriff des Lobbyismus vor.

In der Phase 1840 bis 1860 dann stellt Lentz die Frage nach einer ersten deutschen Antisklavereibewegung. An zahlreichen Beispielen wie etwa dem „Nationalverein für Abschaffung der Sklaverei“ (1848–1853) macht sie deutlich, wie Bewegungsmomente in den deutschen Staaten entstanden, mit welchen Schwierigkeiten diese aber auch zu kämpfen hatten. Klar wird: Zwar ist Drescher und Osterhammel sicherlich in der Hinsicht Recht zu geben, dass in den deutschen Staaten keine Antisklavereibewegung im Sinne eines Massenprotestes wie in Großbritannien entstanden ist, dennoch gelingt Lentz der Nachweis zahlreicher Bewegungsformationen, die durchaus größere Handlungsmöglichkeiten und Heterogenität aufweisen, als dies bisher vermutet wurde. In diesem Rahmen kann sie auch Beispiele für black agency nachweisen.

Wirkt die Aufteilung in Phasen gelegentlich etwas absichtsvoll ordnend, so schafft es Lentz beeindruckend, die Kapitel durch übergreifende Muster zu verbinden. Immer wieder fragt sie nach individuellen Motivationsfaktoren. Deutlich wird dabei: Die Antisklavereibewegung trug durchaus auch zu einem imaginierten Deutschtum bei. So hielt sich das Narrativ, deutsche Bürger/innen hätten nichts mit Sklaverei zu tun, selbst unter den deutschen Abolitionist/innen und sorgte für eine imaginierte, einende moralische Überlegenheit. Auch die Kategorie moralischen Kapitals begegnet immer wieder, ist zentral für das Erkennen individueller Motivation. Monetäre Interessen werden dabei an keiner Stelle dem moralischen Impetus wertend gegenübergestellt. Wenn Lentz etwa beobachtet, dass sich die spendenden Handwerker für einen Antisklavereibasar in Boston wohl durchaus auch erhofften, mit der Entsendung ihrer Waren auch neue Absatzmärkte zu erschließen, schmälert das nicht ihren Einsatz oder ihre Überzeugung.

Wie hoch Lentz’ Rechercheaufwand einzuschätzen ist, zeigt ein Blick auf das Quellen- und Literaturverzeichnis: Die Autorin suchte zur Einsicht in die Nachlässe ihrer Akteur/innen zahlreiche Archive auf, um so Stück für Stück ein Gesamtbild zusammenzusetzen. Diese Diversität der genutzten Quellenbestände lässt jedoch auch vermuten, dass mit dieser Arbeit bei Weitem noch nicht alle Antisklavereivereine oder Antisklaverei-Aktivitäten des 19. Jahrhunderts in den deutschen Staaten aufgedeckt sind. Doch dieser Anspruch wird auch nicht erhoben, vielmehr weist Lentz selbst darauf hin, dass weitere Recherchen und Forschungen nötig und möglich sind.

So ist Lentz’ mit dem Dissertationspreis der Universität Bremen ausgezeichnete Doktorarbeit eine durch und durch lohnenswerte Lektüre, die mit zentralen Forschungsannahmen bricht und diesen detaillierte Mikrostudien entgegensetzt. Zukünftige Forscher/innen haben Raum, diese ersten Schlaglichter auf die deutschen Abolitionist/innen weiter zu ergänzen und etwa die von Lentz vorgeschlagene Periodisierung so zu stärken oder zu hinterfragen.

Anmerkungen:
[1] Rebekka von Mallinckrodt, Verhandelte (Un-)Freiheit. Sklaverei, Leibeigenschaft und innereuropäischer Wissenstransfer am Ausgang des 18. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 43 (2017), S. 347–380.
[2] So etwa im Cluster of Excellence „Beyond Slavery and Freedom“ am Bonn Center for Dependency and Slavery Studies (BCDSS), siehe: https://www.dependency.uni-bonn.de/en (28.11.2020).

Zitation
Saskia Geisler: Rezension zu: Lentz, Sarah: "Wer helfen kann, der helfe!". Deutsche SklavereigegnerInnen und die atlantische Abolitionsbewegung, 1780–1860. Göttingen  2020. ISBN 978-3-525-36099-6, In: H-Soz-Kult, 08.01.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-93740>.


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Roland Geiger

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[Regionalforum-Saar] „Was soll aus uns werden ?“. Zur Geschichte des Centralvereins deutscher Sta atsbürger jüdischen Glaubens im nationalsozialistisch en Deutschland

Date: 2021/01/09 10:59:13
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

„Was soll aus uns werden?“. Zur Geschichte des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens im nationalsozialistischen Deutschland

Herausgeber Regina Grundmann, Bernd J. Hartmann, Daniel Siemens;,;,
Erschienen Berlin 2020: Metropol Verlag
Anzahl Seiten 240 S.
Preis € 22,00
ISBN 978-3-86331-530-6

Inhalt meinclio.clio-online.de/uploads/media/book/toc_book-59152.pdf

Rezensiert für H-Soz-Kult von Hendrik Schemann, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV, 1893–1938), die mitgliederstärkste Organisation des deutschen Judentums, erregt seit dem Wiederauffinden des Archivs der Berliner CV-Zentrale in den 1990er-Jahren zunehmend die Aufmerksamkeit von internationalen Forscher/innen. Ein Großteil dieses Quellenkorpus lag den Autor/innen für diesen Sammelband digitalisiert vor. Das Interesse des Bandes richtet sich auf die letzte Phase der Existenz des CV und damit auf ein Spannungsfeld, das von dem Wunsch einer Symbiose von Deutschtum und Judentum auf der einen Seite und von zunehmender antisemitischer Repression auf der anderen Seite geprägt war. Die sechs Beiträge fokussieren auf verschiedenste Aspekte der Vereinsarbeit, die bisher in Arbeiten über das deutsche Judentum „vergleichsweise knapp abgehandelt oder ganz ausgelassen werden“ (S. 7). Programmatisch ist der Titel des Werkes, der auf das zunehmend relevant werdende Problem der prinzipiellen Zukunftsungewissheit der deutschen Jüdinnen und Juden sowie auf die zahlreichen Gestaltungsentwürfe und -versuche verweist.

Daniel Siemens beleuchtet das angesprochene Spannungsfeld, den Wandel der CV-Ideologie und ihrer Bedeutung ab dem Jahr 1933. Siemens plädiert dafür, die Geschichte des CV weder teleologisch noch ausschließlich ideologisch-politisch zu betrachten. Vielmehr müssten programmatische Positionen mit den „praktischen Fragen der alltäglichen Arbeit des Vereins“ (S. 22) in Beziehung gesetzt und die Frage gestellt werden, was zu welchem Zeitpunkt sinnvoll und möglich schien. Damit formuliert Siemens die gewinnbringende Perspektive des Bandes. Ihm gelingt es, durch Zuschriften von der Vereinsbasis die Differenzen und Wechselwirkungen zwischen öffentlich kommunizierten Positionen, praktischer Handlung und internen Debatten aufzuzeigen. Die ursprüngliche Vereinsidee geriet zunehmend unter Druck und dies führte dazu, dass der CV kaum noch Anerkennung für „seine programmatisch-visionären Stellungnahmen“ (S. 41), sondern eher für die praktische Arbeit erhielt. Hieran lässt sich erkennen, dass die CV-Verantwortlichen Perspektiven ablehnten, die auf eine Unmöglichkeit jüdischer Zukunft in Deutschland verwiesen. Trotzdem verschob sich die Arbeit zunehmend in Richtung eines eher pragmatischen Gegenwartsmanagements.

Anna Ullrich hinterfragt die Dichotomie von „Abwehr- oder Gesinnungsverein“[1] anhand der Analyse des Erwartungsmanagements des Vereins im Hinblick auf Kontakte mit der christlichen Mehrheitsbevölkerung im CV-Rahmen. Es gelingt ihr aufzuzeigen, dass dieses Verhältnis innerhalb des Vereins als hoch fragil wahrgenommen wurde. Das kritische Bewusstsein der Vereinsakteur/innen um Chancen und Grenzen solcher Kontakte spiegelte sich dabei in der kommunizierten niedrigen Erwartungshaltung der CV-Zentrale gegenüber seinen Mitgliedern. Besonders aufschlussreich sind ihre Betrachtungen über die Boykotte in der Provinz aus den Berichten der Ortsgruppen. Diese zeichneten oftmals ein Bild einer lokalen Bevölkerung, die gegenüber den Boykotten eine Ablehnungshaltung kommunizierte, ohne jedoch selbst aktiv für die Betroffenen einzutreten. All diese Berichte legten aus CV-Sicht den Schluss nahe, dass von der nichtjüdischen Bevölkerung trotz aller Solidaritätsbekundungen keine Hilfe zu erwarten war. Dennoch wurden diese Kontakte nicht grundsätzlich in Frage gestellt, weshalb es, so Ullrich, keinen Widerspruch darstellte, „gleichzeitig als ‚Abwehrverein‘ und ‚Gesinnungsverein‘ zu agieren“ (S. 79).

Thomas Reuß konzentriert sich in seiner Mikrostudie auf den CV im oberschlesischen Beuthen, welches 1922 bis 1937 in den Geltungsbereich des „Genfer Abkommens“ fiel. Der Weg von der Gründung eines lokalen Aktionsausschusses, der die Einhaltung des „Abkommens überwachen“ (S. 88) und gegebenenfalls Maßnahmen einleiten sollte, bis hin zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Zionist/innen und CV-Mitgliedern, dessen Höhepunkt die Errichtung einer gemeinschaftlichen Wirtschaftsberatungsstelle darstellte, wird anhand von Beispielen aus der praktischen Tätigkeit beleuchtet. Reuß weist darauf hin, dass sich die lokalen CV-Mitglieder, „dem eigenen Selbstverständnis treu bleibend“ (S. 123), nicht auf die im Abkommen verankerten Minderheitenrechte beriefen. Vielmehr waren ähnliche Strategien, wie sie der CV im gesamten Reich anwandte, zu beobachten und verdeutlichen damit die entschlossene Vertretung programmatischer CV-Positionen in einem hochspezifischen Handlungskontext.

Ein Beispiel der Abwehrarbeit des Vereins bearbeitet Regina Grundmann mit Blick auf zwei apologetische Schriften, die sich gegen Angriffe auf jüdische Traditionsliteratur richteten. Ausgehend vom „Stürmer-Prozess“ 1929, betritt sie dabei ein Feld, welches von scheinbar ambivalenten Positionen innerhalb des CV geprägt war: Einerseits sollte die religiöse Gesinnung eine individuelle Entscheidung bleiben, aber andererseits erkannten die Verantwortlichen im Verein auch einen direkten Angriff auf die Emanzipation. Demnach herrschte zwar in der Berliner Zentrale Einigkeit über den Handlungsbedarf, aber Uneinigkeit über die Form und Umsetzung, was mitunter auch an mangelnder Kenntnis der Materie durch die Mitglieder festzumachen war. Ihr gelingt es nachzuweisen, dass im Verein zwar entschlossen gehandelt wurde, man sich aber wiederkehrend die Frage stellte, ob diese Abwehr- und Aufklärungsarbeit den gewünschten Nutzen überhaupt erzielen könnte, wodurch sich der Wechsel des Verwendungszwecks der Schriften nachvollziehen lässt. Diese richteten sich ab 1933 nicht mehr primär gegen antisemitische Angriffe und auf die Aufklärung der christlichen Bevölkerung, sondern vielmehr auf eine Konstituierung einer „positive[n] jüdische[n] Identität“ (S. 153). Grundmann trifft den Kern einer Debatte, die den CV prägte und zu einer Doppelstrategie führte: Abwehr nach außen und Aufklärung nach innen unter Reflexion der gegenwärtigen Verhältnisse. Demnach erkennt Grundmann einen wesentlichen Beitrag des CV zur „jüdischen Renaissance“ (S. 153).

Martin Herholz stellt die Jugendarbeit des CV in das Zentrum seines Interesses, indem er den Bund deutsch-jüdischer Jugend, sein Entstehen und seine Entwicklung nachzeichnet. Hier werden die anhaltenden Bemühungen, Zukunftsperspektiven zu bieten, anhand der Jugendarbeit greifbar. Es ist bezeichnend, dass sich die Verantwortlichen einerseits früh der Notwendigkeit dieses Arbeitsfeldes bewusst waren, jedoch andererseits erst verhältnismäßig spät die Einsetzung eines Jugendausschusses beschlossen; dies hingegen nicht als Reaktion auf die erstarkenden zionistischen Jugendbewegungen, sondern vielmehr aufgrund einer drohenden „roten Assimilation“ (S. 164) der Jugend. Die Jugendarbeit verdeutlicht dabei den Rückzug in Handlungsräume, die sich durch zunehmende staatliche Verfolgung verkleinerten.

Der letzte Beitrag von Frank Wolff beschäftigt sich mit dem nicht-zionistischen Auswanderungsgut Groß-Breesen, welches unter Federführung des CV entstand. Wolff geht dabei der Frage nach, inwiefern die Emigrationspolitik des CV als verspätet betrachtet und der Verein seinen ideologischen Ansprüchen im Lehrplan gerecht wurde beziehungsweise werden konnte. Er weist auf die frühen Versuche hin, Zionist/innen mit in die Schaffung der Schule einzubeziehen, was ablehnende Verlautbarungen durch sie nicht verhindern konnte. Wolff gelangt über die Gründungsgeschichte des Gutes zu dem Kernproblem des Lehrplans, welches in dem Verständnis eines deutschen Judentums lag, das sich „nicht mehr auf das Deutschsein beziehen konnte und durfte“ (S. 220) und dessen jüdische Komponente keineswegs so selbsterklärend war, wie von seinen Vereinsgründern gedacht. Die Hoffnungen derjenigen, die in dem Projekt die Chance einer „Rettungskapsel der deutsch-jüdischen Identität“ (S. 211) sahen, wie es Kurt Bondy, Leiter der Schule formulierte, verdeutlichen das komplizierte Dilemma. Dies, die Fehleinschätzung im Hinblick auf potenzielle Emigrationsziele und das Fehlen einer „Vision der jüdischen Zukunft, wie sie der Hechaluz vorlebte“ (S. 222), seien die gravierendsten Schwächen des Gutes gewesen.

Durch die Zusammenstellung der Beiträge gelingt es den Herausgeber/innen, das Bild einer entschlossenen deutsch-jüdischen Interessensvertretung in Zeiten größter Bedrängnis zu zeichnen, in welcher sich der Bewahrungswille des deutschen Judentums manifestierte. Die im Band vertretene Doppelperspektive auf Praxis und Ideologie kann auch aufgrund des neuen Quellenmaterials besonders gewinnbringend entfaltet werden. Hiermit werden Forschungspositionen revidiert, die sich oftmals zu sehr am öffentlichen Diskurs und weniger an den vereinsinternen Aushandlungsprozessen orientierten. Es wäre in diesem Zusammenhang wünschenswert gewesen, das in den Beiträgen omnipräsente Problem der Selbstzensur auch explizit zu thematisieren, da sich hieraus generelle quellenmethodische Konsequenzen für die Historiographie im Themenzusammenhang von Verfolgung ergeben. Es wäre zudem gewinnbringend gewesen, die juristisch-wirtschaftlichen Beratungen des Vereins und ihre institutionelle Rahmung mit einzubeziehen, da zumindest die juristische Komponente bereits seit der Vereinsgründung zum Kernhandwerk gehörte und ab 1933 unter neuen Vorzeichen ausgebaut wurde. Sie wäre ein hervorragendes Beispiel für die Verbindung von programmatischen Positionen mit praktischen Alltagsfragen gewesen und hätte das Verständnis für den Wandel dieses Verhältnisses vertiefen können. Diese Kritikpunkte schmälern in keiner Weise den äußerst positiven Eindruck des vorliegenden Sammelbands. Vielmehr reizt er zu weiteren Fragen, die auf einen (deutsch-)jüdischen Umgang mit der Verfolgung, die Konstituierung einer jüdischen Identität und die historischen Gegenwartswahrnehmungen abzielen.

Anmerkung:
[1] Avraham Barkai, „Wehr dich!“. Der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893–1938, München 2002, S. 51.

Zitation
Hendrik Schemann: Rezension zu: Grundmann, Regina; Hartmann, Bernd J.; Siemens, Daniel (Hrsg.): „Was soll aus uns werden?“. Zur Geschichte des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens im nationalsozialistischen Deutschland. Berlin  2020. ISBN 978-3-86331-530-6, In: H-Soz-Kult, 08.01.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-50513>.


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Roland Geiger

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[Regionalforum-Saar] Genealogica 2021 - etwas mehr als ein Onlineseminar für Familienforschung

Date: 2021/01/14 12:41:30
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Genealogica 2021

=> https://genealogica.online/

Die Genealogica 2021 ist ein virtuelles Festival rund um die Ahnenforschung.

Sie bietet 7 Tage lang eine Plattform zum Mitmachen, auf der Hobby-Familienforscher und Familienforscherinnen, genealogische Vereine, öffentliche und private Institutionen, genealogische Dienstleister aller Art sowie Anbieter mit genealogischem und historischem Bezug virtuell zusammenkommen können.

Die Corona-bedingten Einschränkungen im Hinblick auf persönliche Treffen und genealogische Veranstaltungen vor Ort haben die Idee zu einem virtuellen Raum in uns reifen lassen. So können wir weiter im Austausch bleiben und uns über die vielfältigen Angebote und Entwicklungen rund um unsere faszinierendes Hobby informieren.

Das Veranstaltungsgelände ist vom 12. bis 19. Februar 2021 für 7 Tage lang zugänglich.

Die „belebtesten“ Tage werden das Wochenende vom 12. bis 14. Februar sein, und das Vortragsprogramm gibt es vor allem am Samstag, 13. Februar, und Sonntag, 14. Februar.


Was Sie auf der Genealogica erwartet

Vorträge
In zahlreichen Live-Vorträgen präsentieren Expertinnen und Experten aus der Branche innovative Produkte, hilfreiche Use-Cases und wertvolles Wissen. Sie nehmen bequem von überall aus teil

Infostände
An den virtuellen Messeständen besteht die Möglichkeit, Videos anzuschauen, Broschüren und Infos herunterzuladen oder sogar Vereinsmitglied zu werden

Austausch
An den zahlreichen Messeständen können Sie mit den Ansprechpartnerinnen und -partnern der Aussteller ins persönliche Gespräch zu kommen. Und tauschen Sie sich mit anderen Genealogie-Interessierten an virtuellen Treffpunkten aus

Unsere Mission
Mit dieser Veranstaltung wollen wir einen nachhaltigen Beitrag für eine vielseitige, lebendige & innovative Ahnenforscher-"Szene" im deutschsprachigen Raum leisten.

Machen Sie mit!
Die Genealogica ist ein Festival zum Mitmachen. Nutzen Sie alle Angebote und tauschen Sie sich im ungezwungenen Rahmen aus. Oder präsentieren Sie selbst Ihr Wissen und Ihre Angebote!

Lernen Sie Neues kennen!
Entdecken Sie Wissenswertes rund um die Ahnenforschung, lernen Sie andere Familienforscher kennen und holen Sie sich Impulse zu Ihren Forschungsgebieten.

Veranstalter:
Anja Kirsten Klein, 1973 in Berlin geboren, ist Computerlinguistin und Ahnenforscherin aus Leidenschaft. Seit 20 Jahren erforscht sie mit Begeisterung ihre Vorfahren und entfernten Verwandten in aller Welt und bloggt seit 2015 darüber auf ihrem Blog "Welt der Vorfahren". Mit ihren digitalen Angeboten verbindet sie zwei Welten: Vergangenheit und Gegenwart. Alles mit dem Ziel, die technischen Möglichkeiten von Heute zu nutzen, um Historisches greifbar zu machen

Barbara Schmidt, geboren 1973 in Lübeck, ist seit 25 Jahren Ahnenforscherin mit Leib und Seele. Beruflich als Kommunikationsspezialistin mit Schwerpunkt „Social Media“ vorbelastet, hat sie schon sehr früh angefangen, diese Kanäle für ihre eigene Ahnenforschung zu nutzen, sowie diese Medien auch anderen zugänglich zu machen und teilt ihre Erfahrungen auf ihrem Blog "Die Welten verbinden".


[Regionalforum-Saar] ZWÖLF Kirchen

Date: 2021/01/18 15:49:23
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Eine Weiterleitung aus einem anderen Forum:


Liebe Kollegen,

da ich um das rege Interesse bei euch und Ihnen weiß, möchte ich auf
eine Veranstaltung mit Dr. Martin Hahn vom Landesamt für Denkmalpflege
in Baden-Württemberg hinweisen. Am 21.1. um 19 Uhr gibt es via Zoom die
Gelegenheit zum Austausch über das Projekt ZWÖLF Kirchen. Vielleicht
interessiert es Sie/ euch oder jemanden im Umfeld. Über eine
Weiterleitung wäre ich dankbar. So nutzt man die Möglichkeit
deutschlandweiter Beteiligung gleich mehr.

Einladung:

"kulturschicht online" ZWÖLF Kirchen mit Dr. Martin Hahn, 21.1. um 19
Uhr

Sehr geehrte Kirchenbauinteressierte,

 herzlich darf ich Sie mit dem dritten Gespräch der Reihe
„kulturschicht online" nach Baden-Württemberg einladen. Dort pausiert
derzeit die Wanderausstellung ZWÖLF Kirchen.

 Am 21. JANUAR 2021 UM 19 UHR haben wir Herrn Dr. Martin Hahn zu Gast.
Er erzählt über das Projekt:
 ZWÖLF KIRCHEN(BAUTEN DER NACHKRIEGSMODERNE IN BADEN-WÜRTTEMBERG)

 Sakralbauten der Nachkriegszeit hängen oft reichlich
kreativ-despektierliche Umschreibungen an. Begriffe wie „Betonbunker"
oder „Vater unser-Garage" werden jedoch der vielfach auftretenden
Qualität und Innovation dieser Architekturen nicht gerecht. Daher
veranstaltet das Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium
Stuttgart gemeinsam mit den (Erz-)Diözesen Freiburg und
Rottenburg-Stuttgart sowie den evangelischen Landeskirchen Baden und
Württemberg eine Wanderausstellung. Diese begegnet den verbreiteten
Vorbehalten und wirbt für Bauwerke von erstaunlicher Qualität und
Vielfalt. Denn: _„Keine Mauerblümchen erwarten den Besucher, sondern
ein opulentes Bouquet aus ZWÖLF beispielhaften Blüten einer reichen
architektonischen Flora!" (Text zur Ausstellung auf
www.denkmalpflege-bw.de [1])_

 Der Landeskonservator, Dr. Martin Hahn, berichtet über das Werden, die
Durchführung und Präsenz des Projekts auch während der
Corona-Auszeit. Anschließend gibt es Gelegenheit zum Austausch anhand
wunderbarer Beispiele.

 Mit der Reihe „kulturschicht online" nähern wir uns in digitaler
Kürze unterschiedlichen Themen aus dem Bereich Kultur-, Kunst- und
Kirchengeschichte.

 Eine ANMELDUNG per E-Mail bis zum 20.1.2021 UM 12 UHR unter
information(a)katholische-akademie-berlin.de ist zwingend erforderlich.
Angemeldete Teilnehmer erhalten den Link zur Teilnahme an der
Zoom-Videokonferenz als Bestätigung spätestens am Veranstaltungstag
per E-Mail.

 Da wir derzeit in der Erprobung von Online-Formaten sind, bitte ich
vorab um Ihr Verständnis, sollte es zu technischen Problemen kommen.
Für angemeldete Teilnehmer gibt es kurz zuvor die Möglichkeit für
eine Testverbindung sowie technische Hinweise. Weiteres dazu wird
ebenfalls mit der Bestätigungsmail mitgeteilt.

 Ich freue mich auf einen interessanten Austausch.

 Nur Gutes für Ihr 2021 und bleiben Sie uns gewogen!

 Ihr
 Konstantin Manthey

 P.S.: Weiteres zu dem Projekt erfahren Sie hier:
https://www.denkmalpflege-bw.de/index.php?id=2635 [2]

 Übrigens steht seit kurzem unsere aktuelle Kirchenführung in St.
Marien Liebfrauen, Berlin-Kreuzberg als Video zur Verfügung:
https://youtu.be/WVh3SZ2vZII [3]



Links:
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[1] http://www.denkmalpflege-bw.de
[2] https://www.denkmalpflege-bw.de/index.php?id=2635
[3] https://youtu.be/WVh3SZ2vZII
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Roland Geiger

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[Regionalforum-Saar] Johann Meyer geb. ca. 1782 in Merlebach

Date: 2021/01/18 22:48:21
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Sohn von Johann Meyer und Christina Kosmann

Hallo,
Johann Meyer ausm Betreff heiratet 1807 in St. Wendel Marg. Juncker, die aus Baltersweiler stammt und gut 26 Jahre älter ist als er.

Hat jemand ein Geburtsdatum von ihm?


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Roland Geiger

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[Regionalforum-Saar] Stadtbücher als Medien admini strativer Schriftlichkeit im Spätmittelalter

Date: 2021/01/22 10:07:40
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Stadtbücher als Medien administrativer Schriftlichkeit im Spätmittelalter

 

Ort Halle (Saale)

Veranstalter  Jessica Back / Hanna Nüllen, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Geschichte, Projekt „Index Librorum Civitatum“

Datum 22.09.2020 - 23.09.2020

 

Von Jessica Back, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

 

Ziel des ersten DoktorandInnen-Workshops des DFG-Langfristvorhabens „Index Librorum Civitatum“ war es, Einblicke in laufende Forschungen zur pragmatischen Schriftlichkeit zu bieten, den wissenschaftlichen Austausch zu fördern und die wechselseitige Vernetzung zu erleichtern. Im Zentrum der Veranstaltung standen vor allem Fragen nach den Medien, Kontexten und Trägern kommunalen Schriftguts sowie den Mechanismen von Aneignung, Umformung und Weiterentwicklung administrativer Schriftlichkeit als kultureller Praxis.

Nach der Begrüßung durch Andreas Ranft, Christian Speer (beide Halle) und die beiden Organisatorinnen eröffnete JESSICA BACK (Halle) die erste Sektion, die der Stadtbuchproduktion gewidmet war. Sie sprach zunächst über den Entstehungskontext des ältesten Ratsprotokollbuchs der Stadt Soest, das 1417/18 im Zusammenhang mit innerstädtischen Unruhen angelegt wurde, und die an der Führung des Ratsbuchs beteiligten Schreiber. Anschließend stellte sie eine eigens für diesen Band entwickelte Methode der Wasserzeichenanalyse vor, mithilfe derer die Lagenstruktur des im 19. Jahrhundert restaurierten Kodex rekonstruiert werden konnte. Auf diese Weise war es der Referentin möglich, die ursprüngliche Konzeption des Kodex sowie spätere Neukonzeptionen nachzuzeichnen. Da sich ein zuerst angedachtes sachliches Gliederungsschema als zu komplex und unpraktikabel erwiesen habe, sei es schließlich zugunsten einer primär chronologischen Reihung der Einträge aufgegeben worden.

Den Produzenten administrativer Schriftlichkeit widmete sich VICKY KÜHNOLD (Halle) ganz konkret am Beispiel der schlesischen Stadtschreiber. Sie zeigte auf, wie sich das Stadtschreiberamt im spätmittelalterlichen Schlesien entwickelte, welche Vergünstigungen mit ihm verbunden waren und welches Aufgabenspektrum die Schreiber wahrzunehmen hatten. Neben Tätigkeiten für den Rat führten sie u.a. Dienstleitungen für Bürger und gerichtliche Aufgaben aus, wodurch die herausgehobene Bedeutung des Amts nicht nur in Bezug auf die Stadtbuchführung, sondern in viel breiteren kommunalen und herrschaftsrelevanten Kontexten deutlich wurde. Auf der Grundlage prosopographischer Untersuchungen zahlreicher Stadtschreiberbiographien legte Kühnold zudem dar, welche Wege ins Stadtschreiberamt führen konnten. Während sich ein Universitätsstudium dabei erst seit dem 15. Jahrhundert verstärkt beobachten lasse, seien vor allem eine Herkunft aus dem wohlhabenden städtischen Bürgertum, persönliche Beziehungen zum Stadtrat sowie vormalige Tätigkeiten im Rahmen des öffentlichen Notariats zu konstatieren.

Im Rahmen der zweiten, dem „Ordnen“ gewidmeten Sektion stellte PATRIZIA HARTICH (Stuttgart) die reichsstädtischen Kommunikationspraktiken am Beispiel der Missivenbücher der Stadt Esslingen vor. Anhand der 44 überlieferten Bände, die eine Laufzeit von 1434 bis 1598 abdecken, konnte Hartich für das 15. Jahrhundert nachweisen, dass die Führung der Korrespondenzregister in erster Linie von den jeweiligen Schriftproduzenten abhing. Während einige Schreiber vorwiegend Konzepte ausgehender Schreiben in die Bücher eintrugen, notierten andere Abschriften bereits versandter Briefe oder beschränkten sich auf die Wiedergabe des wesentlichen Missiveninhalts. Zum Teil lasse sich zudem eine Kooperation der verschiedenen Akteure der städtischen Kanzleien beobachten, wenn mehrere Schreiber an der Produktion eines Eintrags beteiligt waren. Die Funktion der Esslinger Missivenbücher sei mithin primär die eines schriftlichen Gedächtnisses der ausgehenden städtischen Korrespondenz.

Die Praktiken des Recht-Schreibens in den Stadtbüchern der wetterauischen Reichsstädte Friedberg und Gelnhausen standen im Zentrum des Vortrags von HANNA NÜLLEN (Halle). Auf der Basis einer Untersuchung von Charakteristiken wie Sprachusus, Formulargebrauch und Temporalität arbeitete sie zum einen schreiberspezifische Verschriftlichungsmodi und zum anderen akteursunabhängige Sprachstrukturen der Bücher heraus. Darauf aufbauend entwickelte sie ein Modell dreier distinkter Verschriftlichungsformen von Rechtszusammenhängen: das Kompilieren, das Protokollieren und das Kodifizieren. Die jeweiligen Praktiken unterschieden sich primär durch die zugrundeliegenden Selektions- und damit Produktionsmechanismen von Information, was sich zudem in ihrer sprachlichen Gestaltung ausdrücke. Das Kompilieren bestehe in einer Auswahl und Neuanordnung bereits schriftlich vorliegenden Materials, welches so ausgedeutet, angeeignet und zur Konstruktion einer städtischen Rechtsvergangenheit genutzt werde. Strukturbildend für das Protokollieren sei die Selektion aus Anwesenheitskommunikation, die die Protokolle durch diverse sprachliche Mittel zu referenzieren und zu reproduzieren versuchten. Dem Kodifizieren liege ein komplexer Vorgang der Aushandlung unterschiedlicher Formen des Rechtswissens zugrunde, dessen Basis sowohl bestehende Schriftlichkeit als auch implizites wie explizites Wissen der Träger und Produzenten darstellten.

In der Sektion „Visualisieren“ erweiterte DAVID GNIFFKE (Münster/Darmstadt) mit seinem Beitrag zur Heberegisterserie des Augustiner-Chorherrenstifts Frenswegen das Blickfeld des Workshops nicht nur um administrative Schriftlichkeit aus monastischen Kontexten, sondern auch um einen alternativen methodischen Zugriff. Er stellte die Frage nach der Wirksamkeit spezifischer Eigenschaften schrifttragender Artefakte auf soziale Interaktionen ins Zentrum seiner Untersuchung. Dabei fokussierte er insbesondere die Interdependenzen der materiellen, visuellen, textuellen und räumlichen Charakteristika administrativer Schriftlichkeit. Er modellierte diese Beziehungen in einem methodischen Dreischritt aus der Realienkunde, bestehend aus 1. der genauen Beschreibung, 2. der Analyse der Verwendungszusammenhänge und 3. der Rückwirkungen auf die Anwendungspraxis des Objektes. Dabei demonstrierte er, wie sich die Bedingungen materieller und zweidimensionaler Begrenzung des Schriftraums unter den Herausforderungen grundherrlicher Informationsverarbeitung auf die Wandlung tabellarischer Strukturen und Ergänzung von Schedulae in der Heberegisterserie während des 15. und 16. Jahrhunderts auswirkten. Es gelang ihm so schließlich, die den Objekten eigene Agentialität in der grundherrlichen Verwaltungspraxis abzustecken.

In der vierten Sektion ging es um Praktiken des Wirtschaftens und ihren Niederschlag in städtischer Schriftlichkeit. MONIKA GUSSONE (Mannheim) widmete sich der Schuldenwirtschaft und insbesondere informellen Kreditpraktiken als Faktoren sozialer Kohäsion im spätmittelalterlichen Kalkar. Anhand der schriftlichen Belege für niedrigschwellig und auf Vertrauensbasis gewährte Kredite in Stadtrechnungen, Mahnbüchern, Zinslisten, Gerichtsprotokollen, Inventaren und Testamenten demonstrierte sie, wie die städtische Gesellschaft von Schulden durchsetzt war. Diese seien von Personen aus sämtlichen Schichten oftmals auf Vertrauensbasis aufgenommen und teilweise über längere Zeiträume oder gar niemals zurückbezahlt worden. Trotz der Informalität, wenn auch nicht Formlosigkeit dieser Kreditpraktiken tauchten diese unter anderem im städtischen Schriftgut beispielsweise bei Pfandsetzungen, Stundungen oder verzögerten Zahlungen auf. Besonderes Interesse weckten dabei sowohl die Fortnutzung der Kerbholznotierung in den buchförmigen Zinslisten als auch die zeitgenössische Benennung der Stadtrechnungskonzepte als „Carffstock“.

Die Frage, unter welchen Umständen welche Geschäfte überhaupt in Stadtbüchern verschriftlicht wurden, beschäftigte MAX GRUND (Kiel) in seinem Vortrag zur Absicherung kleinstädtischer Wirtschaft im Stadtbuch. In den Stadtbüchern von Weimar, Kamenz und Lübben untersuchte er nicht nur, welche Typen von Geschäften eingetragen wurden, sondern zeigte am Beispiel von Zinszahlungen, dass sich die Formen der Einträge deutlich voneinander unterscheiden konnten. So seien sowohl in Weimar als auch im älteren Kamenzer Stadtbuch nur ein Bruchteil der Einträge vollständig bzw. überhaupt hinsichtlich des Geschäfts- und Zinswerts auswertbar. Darüber hinaus hob er hervor, dass zahlreiche Geschäfte aufgrund der geringen Höhe der betreffenden Beträge und der im Vergleich dazu höheren Gebühren, die für einen Eintrag im Stadtbuch anfallen konnten, nie Eingang in die städtische Buchschriftlichkeit fanden. Dennoch ließen sich in den untersuchten Städten unterschiedliche Gruppen feststellen, welche die den Geschäften nachgeordnete Schriftlichkeit nutzten, um diese zusätzlich abzusichern.

Im abschließenden Vortrag untersuchte LUISE CZAJKOWSKI (Leipzig) die Varianz und den Wandel der Schreibsprachen im niederdeutsch-ostmitteldeutschen Übergangsraum. Auf der Basis eines acht Stadtbücher und 39 Urkunden umfassenden Quellenkorpus legte sie den genauen raumzeitlichen Verlauf der Verdrängung des Niederdeutschen aus dem nördlichen ostmitteldeutschen Sprachraum in der Zeit von 1365 bis 1490 dar. Dabei sei es möglich, zwischen dem (im Schriftlichen festgehaltenen) Sprachwandel in der gesprochenen Sprache und dem seit dem 16. Jahrhundert ausschließlich im Schriftlichen vollzogenen Sprachwechsel zu unterscheiden. Da Czajkowski die besonders signifikanten sprachlichen Merkmale und Wortformen für verschiedene Zeitabschnitte kartiert hat, stehe nunmehr für den untersuchten Raum ein interdisziplinär nutzbares Hilfsmittel zur Datierung von Schriftstücken zur Verfügung.

Die meisten Vorträge und Diskussionsbeiträge beleuchteten neben der spezifischen Materialität buchförmiger Schriftlichkeit auch die Bedeutung exogener Faktoren für Aufbau, Inhalt und Funktion von Stadtbüchern aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Während einige Vortragende akteurszentrierte Analysen vorschlugen, machten andere die Objekte selbst oder städtische Gesellschaften im Allgemeinen zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen. Trotz der daraus resultierenden Themenvielfalt bildeten sich einige gemeinsame Fragen heraus. Als besonders relevant erwies sich die quellentypologische Abgrenzung von Stadtbüchern zu nicht-buchförmiger Schriftlichkeit sowie zum Schriftgut monastischen oder fürstlichen Verwaltens. Darüber hinaus wurden vor allem die Nutzungs- und Funktionalitätsspektren buchförmigen Verwaltungsschriftgutes in vormodernen städtischen Gesellschaften, vor allem im Hinblick auf Vergesellschaftung und Herrschaftsausübung, diskutiert. Damit knüpfte der Workshop an zentrale Fragestellungen der Stadtbuchforschung an, deren interdisziplinäre Erörterung durch eine weitere Vernetzung künftig ermöglicht werden sollte.

Konferenzübersicht:

Begrüßung

Sektion 1: Produzieren

Moderation: Mathias Franc Kluge (Augsburg)

Jessica Back (Halle): Deus Assit. Zur Genese des ältesten sogenannten Ratsprotokollbuchs der Stadt Soest (1414–1509)

Vicky Kühnold (Halle): „Eyn ouge und eyn munt des rates“. Das Stadtschreiberamt im spätmittelalterlichen Schlesien

Sektion 2: Ordnen

Moderation: Marc von der Höh (Rostock)

Patrizia Hartich (Stuttgart): Mit Brief und Buch. Reichsstädtische Kommunikationspraxis im ausgehenden Mittelalter

Hanna Nüllen (Halle): Recht Schreiben. Praktiken der administrativen Wissensproduktion in Friedberg und Gelnhausen

Sektion 3: Visualisieren

Moderation: Marc von der Höh (Rostock)

David Gniffke (Münster/Darmstadt): Listen, Tabellen, Zettel. Beobachtungen zur Visualität und Materialität der Heberegisterserie des Chorherrenstifts Frenswegen (1415–1580)

Sektion 4: Abrechnen

Moderation: Andreas Ranft (Halle)

Monika Gussone (Mannheim): Pragmatisches Schriftgut als Quelle für informelle Kreditpraktiken in spätmittelalterlichen Städten am Niederrhein

Max Grund (Kiel): „Zu mehrer Sicherheit in unser Stat Buch vorschreiben lassin“. Die Absicherung kleinstädtischer Wirtschaft im Stadtbuch

Sektion 5: Kommunizieren

Moderation: Andreas Ranft (Halle)

Luise Czajkowski (Leipzig): Varianz und Wandel historischer Schreibsprachen Ostmitteldeutschlands

Abschlussdiskussion

Zitation

Tagungsbericht: Stadtbücher als Medien administrativer Schriftlichkeit im Spätmittelalter, 22.09.2020 – 23.09.2020 Halle (Saale), in: H-Soz-Kult, 22.01.2021, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8858>.

 

[Regionalforum-Saar] Gräberfeld X. Zugänge – Schwerpunkte – Perspektiven

Date: 2021/01/22 20:45:22
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Gräberfeld X. Zugänge – Schwerpunkte – Perspektiven

Ort Tübingen
Veranstalter  Projekt „Gräberfeld X", Institut für Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften, Universität Tübingen
Datum 15.10.2020 - 16.10.2020

Von  Shaheen Gaszewski, Institut für Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften, Eberhard Karls Universität Tübingen

Das Gräberfeld X des Tübinger Stadtfriedhofs ist die ehemalige Begräbnisstätte des Anatomischen Instituts. Im „Dritten Reich“ wurden dort vorrangig Hingerichtete, ZwangsarbeiterInnen, Kriegsgefangene und andere Opfer des nationalsozialistischen Regimes beigesetzt, deren Leichen zuvor Lehr- und Forschungszwecken gedient hatten. Nachdem Benigna Schönhagen in den 1980-er Jahren einen grundlegenden Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte des Gräberfeldes X in der NS-Zeit geleistet hatte und das Stadtarchiv Tübingen 2018/19 neue Leichenlisten erschließen konnte, nahm im Januar 2020 ein von Stadt und Universität getragenes Forschungsprojekt unter Schönhagens Leitung die Arbeit auf. Seine Ziele liegen in der Aufarbeitung und Kontextualisierung weiterer Opferbiographien, der Verortung der Tübinger Anatomie im Spektrum anderer anatomischer Institute im deutschsprachigen Raum in der NS-Zeit sowie in der Diskussion, wie das Gedenken an diese Opfer zukünftig in der lokalen Erinnerungskultur verankert werden kann. Nachdem der für Mai geplante Auftaktworkshop aufgrund der Corona-Pandemie entfallen musste, kamen im Oktober ExpertInnen zur Entwicklung Anatomischer Institute und zu einzelnen Opfergruppen des Gräberfeldes X zu einer zweitägigen Tagung zusammen. Aufgrund der zeitlichen Verschiebung konnte das Team um Schönhagen bereits erste Forschungsergebnisse präsentieren.

Den Workshop eröffneten der Rektor der Universität Tübingen, Bernd Engler, und die Tübinger Bürgermeisterin für Soziales, Ordnung und Kultur, Daniela Harsch, mit Grußworten. Sie betonten die Bedeutung der Auseinandersetzung mit dem im Gräberfeld X greifbaren nationalsozialistischen Unrecht und unterstrichen die Besonderheit eines gemeinsamen Projekts von Stadt und Universität.

BENIGNA SCHÖNHAGEN und STEFAN WANNENWETSCH (beide Tübingen) führten in das aktuelle Forschungsprojekt ein. Sie schlüsselten die Verstorbenen des Gräberfeldes X der Jahre 1933-1945 nach unterschiedlichen Kriterien auf und konstatierten eine Zäsur durch kriegsbedingte Veränderungen. Zu Anfang habe es sich bei den Toten aus der Anatomie vor allem um mittellose deutsche Männer gehandelt. Während des Krieges habe sich die Anatomie dann überwiegend ausländischer Männer bedient, die fast alle Opfer der NS-Gewaltherrschaft geworden waren. Anschließend erläuterten Schönhagen und Wannenwetsch die Zugänge und Schwerpunkte ihrer Arbeit. Als produktiv erachteten sie die Spannung zwischen dem Gräberfeld X als physischem und symbolischem Ort. Ersterer umfasse alle dort Begrabenen, während der symbolische Ort die erinnerungskulturelle Dimension repräsentiere, die sich bislang ausschließlich auf die dort bestatteten NS-Opfer beziehe. Diese Spannung gelte es für den weiteren Erinnerungsdiskurs produktiv zu nutzen. Eine Problematisierung des Opferbegriffs ermögliche es, auch die „normalen“ Anatomietoten in den Blick zu nehmen, denn auch über ihre Leichname wurde ohne ihre Zustimmung verfügt. Als weitere Perspektive für ihre Arbeit diene Schönhagen und Wannenwetsch die Rolle der Anatomie als universitär verflochtene Institution. Da es sich bei der Anatomie um eine medizinische Hilfs- und Grundlagenwissenschaft handelt, seien die Grenzen zu anderen medizinischen Einrichtungen fließend. Zusätzlich sei die Verflechtung mit einer Wehrmachtseinrichtung, der Marineärztlichen Akademie, als Tübinger Spezifikum hinzugetreten. Sie habe möglicherweise dazu beigetragen, dass die Tübinger Anatomie frühzeitig und in großem Umfang auf die Leichen sowjetischer Kriegsgefangener Zugriff erlangte.

MATHIAS SCHÜTZ (München) lieferte einen Überblick über die Entwicklung des Faches Anatomie während des Nationalsozialismus, wobei er seinen Fokus auf die strukturellen Bedingungen dieser Wissenschaft sowie auf persönliche und ideologische Motive der Anatomen legte. Ein Vergleich verschiedener Anatomen wie Max Clara (Leipzig/München), Walther Vogt (München) und August Hirt (Greifswald/Frankfurt/Straßburg) zeige, dass deren Handeln und ihre etwaigen ethischen Grenzüberschreitungen oft weniger auf ideologische Überzeugungen als auf wissenschaftliche Forschungsinteressen in Kombination mit persönlichen Karriereambitionen zurückzuführen seien. So habe der Münchener Anatom Titus von Lanz, der 1938 wegen seiner halbjüdischen Ehefrau entlassen wurde, seine Forschungen dennoch in den Dienst der „Rassenhygiene“ gestellt, während der Tübinger Ordinarius und NS-Funktionär Robert Wetzel als Leiter der Anatomie keine dezidiert rassenhygienischen Forschungen betrieben habe, sondern nur um die Beschaffung von Leichen für Lehrzwecke bemüht gewesen sei. Die vermehrte Nutzung von Leichen Hingerichteter im Krieg könne als Versuch gesehen werden, das strukturelle Problem des Leichenmangels zu beseitigen. Da die Hingerichteten unmittelbar nach dem Eintritt ihres Todes seziert werden konnten, hätten die Anatomen auf diese Weise zugleich versucht, ihre Disziplin näher „ans Leben“ zu rücken.

ROLF KELLER (Celle) gab einen umfassenden Überblick zu den sowjetischen Kriegsgefangenen und kontrastierte die völkerrechtlichen Normen mit der Praxis. So hätten Kriegsgefangenenlager eigentlich unter internationaler Aufsicht gestanden, welche die Einhaltung des Völkerrechts sicherstellen sollte. Die Wehrmacht habe dies jedoch bei den sowjetischen Kriegsgefangenen verweigert und diesen damit grundlegende Menschenrechte verwehrt. Formal wurde dies mit der Nichtunterzeichnung der Genfer Konvention durch die UdSSR gerechtfertigt. Dies betrachtete Keller jedoch als Vorwand der Wehrmacht, da auch die Haager Landkriegsordnung einen solchen Umgang mit den sowjetischen Kriegsgefangen verbot. Einen besonderen Fall habe die Auslieferung von toten Kriegsgefangenen an Anatomische Institute dargestellt. Keller problematisierte diese Auslieferungen. Zwar thematisiere die Genfer Konvention das Sezieren der Leichen nicht, doch schreibe sie eine würdevolle Beisetzung der Kriegsgefangen vor, was die Verwendung in Anatomien ausschließe. Mit Verweis auf die Universität Göttingen, die zahlreiche verstorbene Kriegsgefangene aus der Umgebung bezogen habe, relativierte Keller den von Schönhagen und Wannenwetsch vermuteten Sonderstatus der Tübinger Anatomie in Bezug auf den frühen Zeitpunkt des Bezugs von Leichen sowjetischer Kriegsgefangener.

Am Ende des ersten Tages besuchten die TeilnehmerInnen gemeinsam das Gräberfeld X.

CHRISTINE GLAUNING (Berlin) sprach über Zwangsarbeit in der NS-Gesellschaft, wobei sie deren Dynamik, Fluidität und Allgegenwärtigkeit herausarbeitete. So seien im Verlauf des Krieges annähernd 1,1 Millionen Kriegsgefangene aus der Wehrmacht entlassen und in den Zivilarbeiterstatus überführt worden, damit sie in formaler Hinsicht legal in der Kriegsindustrie eingesetzt werden konnten. Glauning beleuchtete die Spannung zwischen Ökonomie und Ideologie, die sich auf die Zwangsarbeit im „Dritten Reich“ ausgewirkt habe. So sei Zwangsarbeit durch den großflächigen Einsatz zu einem unübersehbaren Phänomen geworden, was die von SS, Reichssicherheitshauptamt und Gestapo gewünschte strikte Trennung der rund 13 Millionen ausländischen ArbeiterInnen von der deutschen Gesellschaft, vor allem im ländlichen Raum, unmöglich gemacht habe. Die Kontakte, die hier zwischen ausländischen ZwangsarbeiterInnen und Deutschen entstanden, führten einerseits zu einer Verbesserung des Rufs der von der NSDAP als „Untermenschen“ dargestellten Osteuropäer. Andererseits provozierte dieser „verbotene Umgang“, den nicht wenige Deutsche mit den Ausländern pflegten, auch viele Denunziationen. Die Bestrafung des „verbotenen Umgangs“, so Glauning, wurde folglich von großen Teilen der deutschen Bevölkerung begrüßt und durch aktive Mitwirkung begünstigt. Die hingerichteten ZwangsarbeiterInnen kamen wiederum zumeist in das nächstgelegene Anatomische Institut.

SABRINA MÜLLER (Stuttgart) befasste sich mit der Strafjustiz in Stuttgart im Nationalsozialismus. Im Fokus stand die Urteilspraxis des Sondergerichts Stuttgart (142 Todesurteile) und der Strafsenate des Oberlandesgerichts Stuttgart (14 Todesurteile). Bei ihren Recherchen hat Müller festgestellt, dass sich diese Gerichte seit dem Kriegsbeginn 1939 erkennbar radikalisierten. Das Sondergericht ahndete vor allem Eigentumsdelikte von „gefährlichen Gewohnheitsverbrechern“ und „Volksschädlingen“ im Namen des „gesunden Volksempfindens“ mit hohen Zuchthaus- und Todesstrafen. Die Richter hätten den Ermessensspielraum, den selbst die NS-Gesetze boten, nicht zugunsten der Angeklagten genutzt, sondern dezidiert drakonische Urteile gefällt. Somit seien die Richter selbst zu einem erheblichen Maß für die Radikalisierung der Strafjustiz verantwortlich gewesen. 1943 kam es zu einer deutlichen Zunahme von Todesurteilen und Hinrichtungen in Stuttgart. Müller sah darin nach der Wende in Stalingrad einen Versuch, die Schuld für den Kriegsverlauf auf „innere Feinde“ zu lenken. Kein einziger der Staatsanwälte und Richter, die Todesurteile beantragt oder gefällt haben, wurde nach 1945 von einem westdeutschen Gericht rechtskräftig verurteilt. Die meisten Stuttgarter NS-Juristen waren vielmehr ab 1950 wieder im Justizdienst der BRD tätig.

ANNETTE EBERLE (München/Benediktbeuren) widmete sich den Feindkategorien „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“. Da die Opfer auch in der Forschung hinter diesen Fremdbezeichnungen zu verschwinden drohen, fasste sie die Betroffenen unter den Begriff „Verfolgte der NS-Gesundheitspolitik“. Damit machte sie zugleich deutlich, dass Psychiater und Mediziner im Verbund mit Fürsorgern und Juristen bei der Konstruktion dieser Feindkategorien eine zentrale Rolle gespielt hatten, und zwar schon in der frühen Weimarer Republik, wie das Beispiel Gustav Aschaffenburg zeige. Er hatte den Begriff „asozial“ 1922 für Menschen geprägt, die sich in seinen Augen infolge ihrer Charaktermerkmale „kriminell“ oder „antisozial“ verhielten. Trotz dieser Kontinuitätslinien stelle das Jahr 1933 einen Wendepunkt dar. So forderte Reichsinnenminister Wilhelm Frick laut Eberle einen „Krieg“ gegen „die rassisch Minderwertigen“. Denn ihre Pflege bürde dem deutschen Volk nicht nur unerträgliche Kosten auf, sondern schwäche auch dessen „Erbmasse“. Rechtlich hätten die Einführung von Zwangssterilisation und Sicherungsverwahrung die Weichen neu gestellt. In der Folge hätten die Einweisungen in „Arbeitshäuser“ und Fürsorgeeinrichtungen rapide zugenommen. Zugleich seien als „asozial“ Stigmatisierte immer öfter in Polizeihaft oder Konzentrationslager gekommen. Das Konstrukt „Gewohnheitsverbrecher“ zielte auf eine ähnliche Klientel, da es sich in der Praxis laut Eberle vor allem gegen Kleinkriminelle und Prostituierte richtete. Im Krieg wurde für diese Gruppe die Todesstrafe eingeführt. Die als „asozial“ Verfolgten seien durch Vernachlässigung oder Zwangsarbeit im Krieg in sehr großer Zahl zu Tode gekommen.

BERND REICHELT (Ulm/Zwiefalten) und THOMAS MÜLLER (Ulm/Weißenau) präsentierten erste Forschungsergebnisse zur Heilanstalt Zwiefalten und ihrer Beziehung zur Tübinger Anatomie im Nationalsozialismus. Ausgehend vom Beispiel des Patienten Johannes Hilzinger, der nach 24 Jahren Aufenthalt in Zwiefalten starb, nach Tübingen verbracht und im Gräberfeld X bestattet wurde, beschrieben die Referenten die Lebens- und Unterbringungsbedingungen der Patienten in Zwiefalten. Dabei vermerkten sie, dass dort auffallend viele Langzeitpatienten, vor allem aus unteren sozialen Schichten, untergebracht waren. Anhand von Statistiken zeigten Reichelt und Müller auf, dass der quantitative Höhepunkt an Überweisungen zwischen 1937 und 1940 lag und dass 1940 die Anzahl der Kurzzeitpatienten (max. 1 Jahr) stark überwog. Generell stieg im Krieg, insbesondere ab 1941, die Mortalitätsrate in der Heilanstalt Zwiefalten deutlich. Sie erreichte 1945 ihren Höhepunkt. Als Ursache dafür nannten die Referenten eine gezielte Verwahrlosung der Patienten. Nachgewiesen sind auch vereinzelte Krankenmorde. Die Leichenüberführungen aus Zwiefalten nach Tübingen hingegen sanken ab 1940 stetig, 1944 habe der letzte Transport stattgefunden. Mit Auszügen aus Krankenakten ergänzten Reichelt und Müller die Statistik um die individuelle Perspektive der Betroffenen.

HANS-JOACHIM LANG (Tübingen) beschäftigte sich mit dem „Paradigmenwechsel“ bei der Leichenbeschaffung in deutschen Anatomien während des Nationalsozialismus. Um den allgegenwärtigen Leichenmangel zu beheben, habe ein Großteil der deutschen Anatomen zunächst die neuen Möglichkeiten genutzt, die das NS-Regime unter Kriegsbedingungen eröffnete. Sie nutzten fortan die Leichen von verstorbenen Kriegsgefangenen, ZwangsarbeiterInnen und Hingerichteten. Einen „Paradigmenwechsel“ habe dann die Anatomen-Tagung des NS-Reichsdozentenbundes im November 1942 in Tübingen eingeleitet. Unter dem unscheinbar klingenden Programmpunkt „Pläne für später“ sei hier der Vorschlag aufgekommen, dass die Anatomen, so der Straßburger Anatom August Hirt, „Material sammeln und verarbeiten sollen, wie wir es im Auftrag Beger schon festgelegt haben“. Der „Auftrag Beger“, so erklärte Lang, bezog sich auf die damals schon geplante jüdische Skelettsammlung Hirts, für welche die Anthropologen Bruno Beger und Hans Fleischhacker dann im Juni 1943 jüdische Häftlinge in Auschwitz selektierten. Dass diese Häftlinge zum Zeitpunkt des Leichenbeschaffungsauftrags noch lebten und allein für Forschungszwecke im KZ Natzweiler ermordet wurden, bezeichnete Lang als Paradigmenwechsel. Hirt habe diesen Paradigmenwechsel vollzogen. Wenn Langs Eindruck von der Tübinger Tagung 1942 richtig ist, waren auch andere Anatomen dazu grundsätzlich bereit.

Eine Podiumsdiskussion unter der Leitung des Tübinger Kreisarchivars Wolfgang Sannwald über die Zukunft des Gräberfeldes X in der Tübinger Erinnerungskultur beschloss die Tagung. Die Debatte kreiste unter anderem um eine mögliche Einbindung von Nachfahren der Opfer in die Erinnerungskultur. Inwiefern sich ein Friedhof als arbeitende Gedenkstätte eigne, war ein weiterer Diskussionspunkt. Alternativ wurden die Errichtung eines Dokumentationszentrums im städtischen Raum, aber auch eine verstärkte Präsenz des Gräberfeldes X in der universitären Lehre – insbesondere bei der Ausbildung von Anatomen und Medizinern – diskutiert.

Die Tagung ermöglichte einen Austausch über sehr unterschiedliche NS-Opfergruppen, die in der Forschung zumeist getrennt behandelt werden. Hier zeigt sich die Rolle der Anatomien als Spiegel der NS-Gewaltherrschaft. Aufgrund des weitgehenden Fehlens jüdischer Opfer repräsentieren die Anatomien eine spezifische „Normalität“ der NS-Herrschaft im Deutschen Reich, die es weiter zu erklären gilt. Denn die Geschichten der Anatomien lassen sich nicht bruchlos in gängige Narrative zur NS-Herrschaft einfügen. Erinnerungskulturell stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von traditionellen Anatomieleichen und NS-Opfern und einem angemessenen Umgang mit beiden.

Konferenzübersicht:

Bernd Engler / Daniela Harsch (beide Tübingen): Grußworte

Benigna Schönhagen / Stefan Wannenwetsch (beide Tübingen): Einführung in das Projekt

Mathias Schütz (München): Anatomie im Nationalsozialismus. Strukturelle Bedingungen, ideologische Anreize, persönliche Motive

Rolf Keller (Celle): Wehrmacht und Kriegsgefangene. Forschungsstand und Forschungsperspektiven

Christine Glauning (Berlin): Zwangsarbeit in der NS-Gesellschaft

Sabrina Müller (Stuttgart): Radikalisierung der Strafjustiz in Stuttgart

Annette Eberle (München/Benediktbeuren): Verfolgte der NS-Gesundheitspolitik. Die Feindkategorien „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“

Bernd Reichelt (Ulm/Zwiefalten) / Thomas Müller ( Ulm/Weißenau): Vermerk „Anatomie“. Überführte verstorbene Patientinnen und Patienten der Heilanstalt Zwiefalten in das Anatomische Institut der Universität Tübingen in der Zeit des Nationalsozialismus

Hans-Joachim Lang (Tübingen): „Pläne für später“. Der Straßburger Anatom August Hirt und der Paradigmenwechsel bei der Leichenbeschaffung

Helen Ahner / Bernd Grewe / Bernhard Hirt / Wolfgang Sannwald / Dagmar Waizenegger (alle Tübingen): Der Ort des Gräberfelds X in der Erinnerungskultur von Stadt und Universität

Zitation
Tagungsbericht: Gräberfeld X. Zugänge – Schwerpunkte – Perspektiven, 15.10.2020 – 16.10.2020 Tübingen, in: H-Soz-Kult, 23.01.2021, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8860>.

[Regionalforum-Saar] Juristen als Experten: Eine Unte rsuchung der Wissensbestände und Diskurse der Juristen im 16. und 17. Jahrhundert

Date: 2021/01/25 18:19:45
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Juristen als Experten: Eine Untersuchung der Wissensbestände und Diskurse der Juristen im 16. und 17. Jahrhundert

Veranstalter Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung; Justus-Liebig-Universität Gießen
Datum 19.11.2020 - 20.11.2020


Von Annalina Benner / Lena Frewer / Julia Carolin Hinze / Filip Emanuel Schuffert, Justus-Liebig-Universität Gießen, Historisches Institut

Der Workshop sollte dazu dienen, Juristen als Experten auf verschiedenen Wissensgebieten näher zu betrachten. Dabei ging es vor allem um Diskurse und Diskursmodi der Juristen in unterschiedlichen Zusammenhängen und um die Grundlagen und die Verbreitung ihres Wissens. In drei Themenkomplexen sollte untersucht werden, ob und wie sich aktuelle Denkmodelle über Wissen, Wissensgenerierung und Experten für die Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts fruchtbar machen lassen.

ANETTE BAUMANN (Wetzlar/Gießen) stellte in der Einleitung erste Definitionsansätze für die Rolle des Richters als Experten zur Verfügung, u.a. von Luckmann/Berger, Ludwik Fleck und Cornel Zwierlein. Unter Nutzung zahlreicher Beispiele stellte sie heraus, welche Aufgaben und Funktionen der Justiz im 16. und 17. Jahrhundert zufielen und in welcher Verbindung und Verantwortung juristische Experten zu und gegenüber anderen Akteuren der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft standen. Entscheidend ist, dass dem juristischen Experten eine Rolle zukam, in der er die Öffentlichkeit entlastete, da er unter der Verwendung von rechtseigener Sprache, Gesetzestexten und Rechtstheorien die Komplexität der Welt erklärte und so zur Orientierung beitrug. Es wird angenommen, dass dieser im steten Austausch mit weiteren Angehörigen seiner Profession stand, um diese Kompetenzen zu erlangen und den Rang eines Experten zu erreichen. Dabei entstand ein Denkstil, der die Anschauung der Mitglieder des Kollektivs prägte und zu einer Verbindlichkeit in richterlichen Entscheidungen beitrug. Diesem Ansatz stellte Baumann die Verbindung zahlreicher Juristen der frühen Neuzeit zu weiteren Disziplinen wie Kartografie, Mathematik und Optik gegenüber. Sie zeigte, dass die Richter im 16. Jahrhundert ein Bewusstsein für die Abhängigkeit der Erkenntnis von verschiedenen Standorten und Standpunkten besaßen.

In der Sektion Juristisches Wissen und Gesellschaft verwies TOBIAS SCHENK (Wien/Göttingen) wiederholt auf die Quellenlage zur juristischen Praxis im 16. und 17. Jahrhundert hin und betonte das methodische Potential der genetischen Aktenkunde. In der Erforschung und Beschreibung frühneuzeitlicher Entscheidungsprozesse fehlt eine epochenübergreifende Aktenkunde der Justiz und es mangelt an einer methodischen Auseinandersetzung, die das Zusammenspiel zwischen Prozessakten und -protokollen berücksichtigt. Eine besondere Schwierigkeit besteht außerdem darin, dass die mündliche Abstimmung der Richter nicht ersichtlich ist. Schenk wies außerdem darauf hin, dass bei den Kollegialgerichten nicht davon ausgegangen werden kann, dass alle Akteure eine gleichmäßige Aktenkenntnis besaßen, sondern angenommen werden muss, dass die Einsichtnahme nur durch die Berichterstatter erfolgte.

DAVID VON MAYENBURG (Frankfurt am Main) referierte über die Rolle und Bedeutung von Juristen und juristischem Fachwissen bei Pestepidemien. Dabei sei zwischen der Bedeutung der Expertise von Juristen und der Rolle von Juristen als Experten zu differenzieren. Da auch Theologen und Mediziner als Experten angesehen wurden, habe zwischen den Disziplinen ein ständiger Wettstreit geherrscht. Am Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit seien zunächst die Mediziner diskursbestimmend gewesen, während die Juristen untereinander über die (zivil-)rechtlichen Folgen der Pest gestritten hätten. Mit der Ablösung der Miasmentheorie (Übertragung von Krankheitserregern durch Fäulnisprozesse in der Atemluft) und der Delegitimierung der Mediziner im 16. Jahrhundert hätten sich aber zunehmend die Juristen durchgesetzt. Ausschlaggebend, so Mayenburg, sei dabei aber weniger das juristische Fachwissen als die juristische Denkweise, Methodik und Kompetenz gewesen, wodurch die Verwaltung erst befähigt wurde, ordnungspolitische Maßnahmen wie Quarantänen durchzusetzen.

Die Entstehung und Verbreitung juristischer Expertendiskurse im Reich zeichnete KARL HÄRTER (Frankfurt am Main) nach. Juristische Gutachten und Prozessschriften, also juristische Expertise, blieben kein intradisziplinäres Geheimwissen, sondern wurden im 16. Jahrhundert durch Publikationen verbreitet. Praktiken der Wissensdistribution zielten jedoch nicht allein auf das Fachpublikum ab, sondern fanden auch Eingang in die populären Medien. Durch die Rezeption dieser Schriften konnten sich auch juristische Laien Fachwissen aneignen. Zusätzlich konnte juristische Expertise auch empirisch, z.B. durch Prozessbeobachtungen, gewonnen werden. Dieser Vorgang beschränkte sich nicht nur auf professionelle Juristen (Volljuristen). Die Rezeption juristischer Diskurse und die Teilnahme an Gerichtsprozessen sei auch nichtstudierten praktischen Juristen und Laien möglich gewesen. Damit habe sich juristische Expertise präventiv auch auf alltägliche Probleme ausweiten und -wirken können. Baumann resümierte abschließend, juristisches Wissen sei kein ausschließliches Elitenwissen gewesen.

SABINE HOLTZ (Stuttgart) zeigte am Beispiel der Tübinger Rechtsprofessoren, wie die Rechtsprechung professionalisiert wurde. Im 17. Jahrhundert seien die Stadtgerichte in Württemberg bei komplizierten oder besonders schwerwiegenden Fällen verpflichtet gewesen, sich an die Tübinger Juraprofessoren zu wenden und deren Rechtsgutachten anzufordern. Diese Expertise der Tübinger Professoren hätten im Laufe der Zeit auch andere Stände und Territorien in Anspruch genommen. Das Erstellen von Gutachten sei damit eine zentrale Aufgabe der Tübinger Professoren geworden. Die Fällung des endgültigen Urteils blieb dabei aber immer den örtlichen Gerichten vorbehalten. Holtz sieht die Konsiliarpraxis als eine Modernisierung der Prozessführung, da die Hinzuziehung der Rechtsgelehrten den Prozess verschriftlicht und mögliche Befangenheiten vor Ort verhindert habe. So sei kein Fall einer versuchten Einflussnahme einer Konfliktpartei auf die Professoren bekannt.

In der Sektion Möglichkeiten der Generierung von Wissensbeständen sprach STEPHAN BRAKENSIEK (Trier) über die Bedeutung von Sammlungstätigkeiten für die akademische Öffentlichkeit der Frühen Neuzeit im Allgemeinen und für Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts im Besonderen. Er stellte dabei zunächst den semiotischen Charakter von Objekten in Kunst- und Wunderkammern sowie die Funktionsweise von Ordnungssystemen im Sinne der Mnemotechnik als grundlegende Charakteristika dieser Sammlungskontexte heraus. Durch die Ordnungsstrukturen, die es ermöglichen, den Verweischarakter von Objekten durch ihre Anordnung sichtbar zu machen, entsteht nach Brakensiek ein Gedächtnisraum, der Wissensbestände zugleich abruft wie neu verknüpft. Die Kunstkammer als theatrum sapientiae vermittelte dabei weder Expertenwissen noch konnte der Sammler als Experte gelten – vielmehr konzentrierte sich der Erkenntnisgewinn auf die Metaebene der Objektbeziehungen. Die Sammlungstätigkeiten von Juristen sind im Vergleich zu anderen Berufsgruppen keineswegs exklusiv; wie andere Akteure auch erweiterten sie durch Sammlungen ihren Horizont der Welterkenntnis, vor dessen Hintergrund sie für ihre Berufspraxis notwendige Wissensbestände ableiteten.

Eine buchhistorische Perspektive auf juristisches Expertenwissen nahm ARMIN SCHLECHTER (Speyer) ein. Sein Beitrag befasste sich mit den Werken Reichskammergerichtsangehöriger, die nach der Zerstörung Speyers Ende des 17. Jahrhunderts erneut angekauft bzw. neu aufgelegt wurden. Schlechter beobachtet im 16. und 17. Jahrhundert eine erhöhte Nachfrage juristischer Standardwerke, die sich aus Auflagen und Druckorten ablesen lässt. Am Beispiel ausgewählter Ankäufe der Landesbibliothek Speyer legte er Dynamiken des Wissenstransfers, der Bedarfe und Rezeptoren juristischer Fachliteratur dar. Ein noch einzulösendes Desiderat liegt in der Beschreibung von Netzwerken und Rezeptionskanälen innerhalb des juristischen Buchmarktes. Schlechter verspricht sich davon tiefere Einblicke in die Mechanismen der Wissensdistribution der Epoche und die damit verbundenen Austauschprozesse.

Den inhaltlichen Aufschlag in der Sektion Theorie und Praxis der Juristen machte HORST CARL (Gießen), der die Rolle von Landfriedensexperten im Schwäbischen Bund genauer untersuchte. Mit Blick auf die Schiedsgerichtsbarkeit steckte er für diese Experten drei Entwicklungsphasen eines Prozesses der Justizialisierung anhand der Bundesbriefe ab. Dabei sei die „Institutionalisierung einer ohnehin schon institutionalisierten Schiedsgerichtsbarkeit“ zu beobachten. Juristen, so Carl mit Verweis auf das Restitutionsverfahren als vorläufiges Verfahren zum Landfriedensschutz, seien dabei „Experten der Entdramatisierung“. Dies führte dazu, dass in heiklen Rechtskonflikten nicht vorab Entscheidungen getroffen werden mussten. In der anschließenden Diskussion wurde unter anderem über die Rolle der Untertanenkonflikte für die Ausgestaltung der Rechtsförmigkeit sowie die Rolle von Juristen als „Experten für Entschleunigung“ gesprochen. Außerdem wurde die Integrationskraft der Juristen durch die Versachlichung von Streitigkeiten betont.

Anschließend lenkte WIM DECOCK (Leuven) den Blick auf die iberische Halbinsel. Er setzte sich mit Theologen als Experten in Wirtschaftsfragen auseinander und nahm dabei besonders die Theologen der Schule von Salamanca als „Väter der modernen Wirtschaftsanalyse“ in den Blick. Im Fokus des Vortrags stand eine Diskussion über die staatliche Regulierung des Getreidepreises. Decock arbeitete die herausragende Rolle von Theologen, und besonders des Jesuiten Luis de Molina, in wirtschaftlichen und politischen Fragen heraus und konnte zeigen, dass die Theologen das Wirtschaftsproblem besser verstanden als die Juristen. Es sei sogar eine Art Konkurrenz des Wissens zwischen Theologen und Juristen entstanden, ähnlich wie Mayenburg dies in der ersten Sektion geschildert hat. Zudem zeige sich, dass insbesondere die Jesuiten zu dieser Zeit über ein großes empirisches Wissen verfügten, was sich auf ihre Argumentation und ihren Denkstil auswirkte. Damit unterstrich Decock die normative Expertenrolle von Theologen in diesem Diskurs.

Weiterführend widmete sich CORNEL ZWIERLEIN (Berlin) dem Juristen Georg Obrecht (1547-1612), der als Begründer des jus publicum und als einer der frühen Kameralisten wahrgenommen wird. Zwierlein stellte die These auf, dass frühe kameralistische Projekte enge personelle Verknüpfungen mit den Akteuren des Straßburger Kapitelstreits aufwiesen, und zeigte weiterführende Verbindungen mit den Ereignissen am Vorabend des 30-jährigen Krieges auf. So beobachtete er im Lichte eines verdichteten theologisch-politischen Diskurses die Verschränkung zwischen führenden Vertretern des kameralistischen Projekts einerseits und den Beteiligten des Hagenauer Vertrages andererseits: Leitende Köpfe der protestantischen Partei waren häufig auch im Bereich des Protokameralismus publizistisch tätig. Zwierlein untermauerte dies, indem er Korrespondenznetzwerke zwischen protestantischen Kapiteln, Handelsstädten und transkonfessionellen Akteuren aufdeckte. Obrecht spielte dabei eine zentrale Rolle. Die konfessionellen Antagonismen der unmittelbaren Vorkriegszeit gepaart mit den Finanznöten seien für die Genese kameralistischer Ideen zentral gewesen und eröffneten einen Imaginationsraum für diese Denkweisen.

Abschließend referierte ALAIN WIJFFELS (Leuven) über die Konsiliarpraxis der juristischen Fakultät der Universität Löwen in den burgundisch-habsburgischen Niederlanden und schloss damit thematisch an Holtz an. Eine Aufgabe der Rechtsexperten im ausgehenden Mittelalter sei das Erstellen von Rechtsgutachten gewesen. Um solche Rechtsgutachten lokal anfertigen zu können, sei die Universität Löwen gegründet worden. Anhand mehrerer Quellenzitate zeigte Wijffels, dass die Expertise der Juristen und ihre Gutachten nicht nur bei Rechtsfragen, sondern auch als Legitimation bei wirtschaftlichen oder politischen Fragen eine Rolle gespielt hätte. Juristen wirkten somit bis ins 18. Jahrhundert als frühe „Lobbyisten“, bevor die Konsiliarpraxis allmählich verschwand. Das habe aber nicht bedeutet, dass Juristen aus politischen Prozessen verdrängt worden seien. Vielmehr hätten sie mit ihrer anhand der juristischen Methodik geschulten Denkweise aufgrund des Bedürfnisses nach politischer und praktischer Ordnung den Weg von der Universität direkt in die Verwaltungsorgane gefunden. Dies habe den Rechtsstaatlichkeitsprozess und die Bürokratisierung der Verwaltung befördert.

In der Abschlussdiskussion verwies Anette Baumann noch einmal auf die Rolle von Juristen als Experten für Entschleunigung und die parallel zu beobachtende Verrechtlichung vormals gewaltsamer Konflikte. Zudem sei die Differenzierung von rechtlichen Experten als Mediatoren und akademischen Juristen deutlich hervorgetreten. Dabei sei auch eine Konkurrenz zwischen Experten unterschiedlicher Art (beispielsweise Juristen, Mediziner oder Theologen) zu beobachten. Alain Wijffels lenkte den Fokus auf die Frage, ob sich der Juristenstand insbesondere im deutschsprachigen Raum sozial mehr behauptet habe als im europäischen Ausland. Für Thorsten Kaiser (Gießen) bestand die Quintessenz des Workshops in der Erzeugung von Legitimität durch eine bestimmte Art von Rationalität, dessen Basis die Inanspruchnahme der eigenen Kenntnisse der Rechtsmaterie bildet. Ausgehend von dieser These stellte er die Frage, ab wann Juristen eigentlich die eigene Sachkenntnis für eine bestimmte Rechtsfrage als ausreichend bewerten würden. Cornel Zwierlein betonte den Inklusionsprozess anderer Experten im Juristentum und die fragliche Exklusivitätsfunktion von Experten. Horst Carl verwies im Hinblick auf die Frage der Inklusion von Expertenwissen auch auf die aktuelle Rolle von HistorikerInnen als ExpertInnen in den Hohenzollernprozessen. Karl Härter hingegen schlug abschließend vor, am Satzende des Veranstaltungstitels „Juristen als Experten“ ein Fragezeichen zu setzen, da für ihn der Fokus besonders auf der Frage lag, wie Expertenwissen in der Justizpraxis benutzt wird. Mehrere Teilnehmende thematisierten zudem die Außenwahrnehmung von Expertentum, die in mehreren Vorträgen und Diskussionen des Workshops angeführt wurde. Tobias Schenk befürwortete eine intensive Ausbreitung der Praktikabilität der juristischen Praxis, da diese auch an soziologische Dimensionen gebunden sei. Dabei sei auch der Blick in Prozessschriftgut lohnenswert, da sich so die Akten in einen größeren Kontext des gerichtlichen Entscheidungsprozesses einordnen lassen könnten. Dies unterstrich auch Anette Baumann und sprach von „vielen ungehobenen Schätzen“ im Bundesarchiv.

Konferenzübersicht:

Anette Baumann (Wetzlar/Gießen): Juristen als Experten – erste Überlegungen

Sektion I: Juristisches Wissen und Gesellschaft

Tobias Schenk (Wien/Göttingen): Methodisch-empirische Probleme bei der Analyse vormoderner Gerichtspraxis

David von Mayenburg (Frankfurt am Main): Juristen als Experten im Kontext der Pest und anderer Seuchen im 16. Jahrhundert

Karl Härter (Frankfurt am Main): Kollektive Gewaltdelikte und Reichsgerichtsbarkeit als Thema juridisch-politischer Diskurse – juristisches Expertenwissen und populäre Narrative

Sabine Holtz (Stuttgart): Tübinger Juristen als Garanten gesellschaftlicher Ordnung. Zur Konsiliarpraxis in Süddeutschland

Sektion II: Möglichkeiten der Generierung von Wissensbeständen

Stephan Brakensiek (Trier): Die Welt in der Stube – Sammlungen als Orte der Welterkenntnis im 17. Jahrhundert

Armin Schlechter (Speyer): Werke von Reichskammergerichtsjuristen im Landesbibliothekszentrum und in der Bibliothek des Gymnasiums am Kaiserdom in Speyer

Sektion III: Theorie und Praxis der Juristen

Horst Carl (Gießen): Landfriedensexperten des Schwäbischen Bundes

Wim Decock (Leuven): Experten der experientia – empirisches Wissen als juristisches Argument in der Schule von Salamanca

Cornel Zwierlein (Berlin): Zwischen früher Jus Publicum-Lehre und Frühkameralismus – zu Georg Obrecht (1547-1612) und den protestantischen Netzwerken am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges

Alain Wijffels (Leuven): Die juristische Konsilienpraxis in den burgundisch-habsburgischen Niederlanden: Herbst der Rechtswissenschaft als Kunst des guten Regiments?

Zitation
Tagungsbericht: Juristen als Experten: Eine Untersuchung der Wissensbestände und Diskurse der Juristen im 16. und 17. Jahrhundert, 19.11.2020 – 20.11.2020 digital, in: H-Soz-Kult, 26.01.2021, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8862>.


[Regionalforum-Saar] Livre des familles d'Ormersville r de 1680 à 1905

Date: 2021/01/25 21:03:55
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Guten Abend,

hat jemand das "
Livre des familles d'Ormersviller de 1680 à 1905"?

Laut Heiratseintrag vom 11.11.1804 in St. Wendel wurde der Bräutigam Johann Baptist Michels am 19.05.1779 in Ormesviller (wörtlich: Ormechville), Departement de la Moselle, geboren, Sohn von Wendel Michels und Johanna Recktenwald. Vermutlich haben die Eltern auch dort geheiratet. Sie stammen aber beide aus der Pfarrei St. Wendel, wo sie schon im August 1780 ihr nächstes Kind taufen ließen. Die Familie ist katholisch.

Könnte das jemand nachschauen?

Herzlichen Dank.
--
Mit freundlichen Grüßen

Roland Geiger

--------------------

Roland Geiger
Historische Forschung
Alsfassener Straße 17, 66606 St. Wendel
Tel. 06851-3166
email alsfassen(a)web.de
www.hfrg.de

[Regionalforum-Saar] Aufruf: Kirchenbücher als h istorische Quellen

Date: 2021/01/26 21:44:11
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Kirchenbücher als historische Quellen

Veranstalter Michael Hecht (Halle) und Eva Marie Lehner (Duisburg-Essen/Berlin) in Kooperation mit dem Exzellenzcluster „Religion und Politik“ in Münster

Ort 48143 Münster

Vom - Bis 18.11.2021 - 19.11.2021

Deadline 15.02.2021

Von Michael Hecht, Institut für Landesgeschichte, Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt

Erbeten werden Beiträge für eine Tagung, die sich mit dem Quellenwert von Kirchenbüchern für geschichtswissenschaftliche Fragestellungen beschäftigt.

Kirchenbücher, d.h. die von Pfarrern verfassten Register der Taufen, Eheschließungen und Begräbnisse, gehören zu den meistgenutzten historischen Quellen. Das kirchliche Verwaltungsschriftgut erfreut sich vor allem bei Laien großer Beliebtheit, die genealogische Interessen verfolgen. In der Geschichtswissenschaft spielen Kirchenbücher hingegen eher selten eine herausgehobene Rolle. Lediglich als Grundlage für quantitative Auswertungen zu bevölkerungsgeschichtlichen Fragestellungen in der Historischen Demografie kommt ihnen traditionell eine größere Bedeutung zu. Dabei halten Kirchenbücher zu sehr viel mehr Themen Auskünfte bereit. Sie geben Einblicke in historische Lebenswelten, Sinndeutungen, Erinnerungskulturen und Verwaltungspraktiken. Die in den letzten Jahren enorm vorangetriebene Digitalisierung historischer Kirchenbuchbestände eröffnet zudem neue Möglichkeit für der Nutzung.

Vor diesem Hintergrund möchte sich die Tagung der Bedeutung von Kirchenbüchern als historische Quellengattung widmen. Es soll diskutiert werden, welche Perspektiven für ihre Verwendung für aktuelle Fragen der historischen Forschung zur Frühen Neuzeit und zur Moderne bestehen. Dabei soll sowohl ein grundsätzlicher Blick auf Charakteristika und Forschungspotenziale von Kirchenbüchern geworfen als auch anhand exemplarischer Sondierungen ausgeleuchtet werden, wie sie für konkrete Themenbereiche produktiv gemacht werden können.

Neben den Vorträgen eingeladener Referent/innen gibt es die Möglichkeit, Vorschläge für Beiträge einzureichen. Diese können aus allen Bereichen der Geschichtswissenschaft oder ihrer Nachbardisziplinen (z.B. Kunstgeschichte, Kirchengeschichte, Rechtsgeschichte, Kulturanthropologie) erfolgen und zum Beispiel die Möglichkeiten von Kirchenbüchern für folgende Themen behandeln:

- religiöse und konfessionelle Zugehörigkeiten, Religions- und Konfessionswechsel sowie damit einhergehende Ambiguitäten
- Alltagsgeschichte, Kriegserfahrungen, Verarbeitung von Epidemien
- Geschlechterverhältnisse, Ehrvorstellungen, sexuelle Devianz
- Körpergeschichte (z.B. Schwangerschaften, Geburtsrisiken, Krankheiten, embodied differences)
- Totengedenken, Trauervorschriften und Trauerpraktiken
- Vorstellungen und Praktiken von Abstammung, Familie und Verwandtschaft, Bedeutung von Taufpatenschaften
- Orts- und Gemeindechronistik, lokale und regionale Erinnerungskulturen
- Verwaltungspraktiken, (Nach-)Nutzung von Kirchenbüchern für administrative Belange
- Potentiale und Perspektiven der Digitalisierung von Kirchenbüchern

Bitte senden Sie bei Interesse ein Exposé (max. 300 Wörter) für einen Vortrag von ca. 20-30 Minuten sowie einen kurzen Lebenslauf bis zum 15.2.2021 an:

eva.lehner(a)uni-due.de
MHecht(a)lda.stk.sachsen-anhalt.de

Die Tagung soll, sofern dies möglich sein wird, als Präsenzveranstaltung in Münster stattfinden. Ein Tagungsband ist geplant.

Kontakt
eva.lehner(a)uni-due.de
MHecht(a)lda.stk.sachsen-anhalt.de

Zitation
Kirchenbücher als historische Quellen. In: H-Soz-Kult, 26.01.2021, <www.hsozkult.de/event/id/event-95464>.

[Regionalforum-Saar] A. Kagerer: Macht und Medien

Date: 2021/01/26 21:46:02
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Macht und Medien um 1500. Selbstinszenierungen und Legitimationsstrategien von Habsburgern und Fuggern

Autor Alexander Kagerer

Reihe Deutsche Literatur. Studien und Quellen 23
Erschienen München 2017: de Gruyter
Anzahl Seiten XI, 526 S.
Preis € 99,95
ISBN 978-3-11-053911-0

Inhalt meinclio.clio-online.de/uploads/media/book/toc_book-55924.pdf

Rezensiert für H-Soz-Kult von Jörg Schwarz, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Ausgangspunkt des Buches, das eine Reihe von Studien zusammenfasst, die in Verbindung mit dem Münchener Teilprojekt „Herrschernatur(en). Verkörperungen von Herrschaft im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit“ stehen, ist die Überlegung, dass sich Machtsysteme nicht aus sich selbst heraus erklären, sondern sich vielmehr begründen müssten.[1] Sie seien prinzipiell labil und, diachron wie synchron betrachtet, dem steten historischen Wandel ausgesetzt. Auch trügen sie Unfertiges in sich oder wie Kagerer sagt: „den Moment des Entwurfs“. Deswegen bedürften sie sogenannter „Selbstsymbolisierungen“ (S. 3). Erst in unterschiedlichen textuellen wie visuellen Entwürfen – oder der Kombination beider mit je eigenen Schwerpunktsetzungen – sowie in kulturell je spezifischen Mechanismen und narrativen Dispositiven, wie beispielsweise Geltungsgeschichten, könnten Machtsysteme für sich Legitimität generieren. Eine besondere Rolle im Rahmen der Machtsicherung komme dabei dem in Text und Bild zur Schau gestellten Körper des Mächtigen zu. Er sei zur „Realisierung von Macht das entscheidende Instrument“ (S. 18). Auch der kranke oder beschädigte königliche Körper habe in diesem Sinne auf wichtige Weise funktionalisiert werden können (S. 120f.).

An diese anspruchsvollen Überlegungen anknüpfend, will Kagerer anhand exemplarischer Untersuchungen zweier Machtdemonstrationen um 1500 den Versuch einer Spezifizierung unternehmen. Dabei stehen für ihn zum einen die Entwürfe „uralten“ Blutes unter Kaiser Maximilian I. im Mittelpunkt. Zweitens geht es ihm um die Entwürfe des „frischen“ Blutes der Fugger aus Augsburg. Kagerer will dabei untersuchen, wie das „alte“ Blut der Dynastie und das „neue“ Blut der aufgestiegenen Kaufmannsfamilie „konstituiert“ werden (vielleicht hätte man besser gesagt: als Argument gebraucht und anerkannt werden). Die ambitionierte Einleitung – und konsequenterweise die gesamte weitere Arbeit – leidet ein wenig daran, dass der Begriff Macht nicht eigentlich definiert, sondern von Anfang an eher unreflektiert vorausgesetzt wird; das aber wird der Komplexität des Phänomens nicht gerecht. In angemessener Berücksichtigung der aktuellen Forschungsliteratur – es genüge ein kurzer Hinweis auf Christine Reinles grundlegenden Aufsatz von 2015[2] – hätte diese definitorische Unschärfe oder richtiger: Nicht-Definition umgangen werden können.

Dennoch ist die Lektüre des Buches ein Gewinn. Nach Vorüberlegungen, die um die Themen Macht und Herrschaft im Übergang sowie um Spezifika der Dynastie der Habsburger kreisen, untersucht Kagerer im ersten Kapitel die berühmten Bücher Kaiser Maximilians, den Weißkunig, den Teuerdank und den Freydal. Kagerer knüpft an die wegweisende Deutung dieser Texte durch Jan-Dirk Müller von vor 40 Jahren an.[3] Er kann dabei, vor allem, was den konkreten Entstehungsprozess dieser Texte und die von der Forschung intensiv diskutierte Einbeziehung des schillernden Mitarbeiterkreises des Kaisers anbelangt, wichtige eigenständige Akzente setzen. Hilfreich und gut sind die immer wieder in den fortlaufenden Text eingebauten Bildbeigaben, die Reproduktionen einzelner Abschnitte der originalen Handschriften und die geschickt ausgewählten Quellenzitate. Ebenfalls untersucht in diesem Kapitel werden herausragende Monumente wie das Innsbrucker Goldene Dachl mit seinem vielschichtigen Fresken- und Figurenprogramm (S. 168–176), der farbenfrohe Habsburger-Stammbaum auf Schloss Tratzberg bei Jenbach in Tirol (S. 176–184), das Holzschnittwerk "Ehrenpforte" (S. 184–195), das monumentale Druckwerk "Triumphzug" (S. 195–205) und das Torso gebliebene Grabmalsprojekt (S. 206–213).

Überzeugend insbesondere sind die Ausführungen Kagerers darüber, wie der Leichnam des Kaisers selbst zum Medium wurde (S. 214). Zurecht einbezogen in dieses Kapitel, das in treffenden Beobachtungen die große Medienvielfalt der Herrschaftsrepräsentation Maximilians und ihre Ausdrucksformen eindrucksvoll dokumentiert[4], werden auch die Fürstliche Chronik und der Zaiger (S. 215–266), zwei Werke des gebürtigen Bregenzers Jakob Mennel, neben Ladislaus Sunthaym der wichtigste Genealoge des Kaisers. Alle diese Quellenzeugnisse gelten Kagerer zu Recht als „besonders leuchtende Beispiele für Entwürfe von Macht um 1500“, als multimedial angelegte Werke, die sich in Schrift, Bild und Monument manifestiert hätten (S. 267).

Es ist richtig und gut, dass in diesem Zusammenhang mehrfach auf die Rolle Friedrichs III. hingewiesen wird, der im dynastisch-genealogischen Programm der Habsburger um 1500 tatsächlich vieles von dem, was Maximilian weiter ausführen ließ, vorweggenommen hat, auch wenn wichtige Erörterungen dazu von Kagerer unnötigerweise in die Fußnoten herabgedrückt worden sind (S. 50 Anm. 30). Falsch ist es zu sagen, dass es bis in die neueste Forschung hinein „große Vorbehalte“ gegenüber Friedrich III. gäbe (S. 57). Über das negative, durch borussische Historiographie des 19. Jahrhunderts vergiftete Friedrich-Bild vergangener Tage braucht heute niemand mehr ernsthaft zu reden. Was die neueste Forschung anbelangt, so ist „Vorbehalte“ nicht der richtige Ausdruck. Wenn die neueste Forschung klug urteilt, dann hat sie keine „Vorbehalte“, sondern nimmt bestimmte Züge an der Figur als Defizite wahr, derer sich Friedrich selbst bewusst gewesen ist, was etwas grundlegend anderes ist. Natürlich hat es bei allen Gemeinsamkeiten zwischen Friedrich III. und Maximilian in den Inhalten der Politik und den Formen ihrer Inszenierung erhebliche Unterschiede zwischen den beiden gegeben. Es ist jedoch falsch, diese Unterschiede in der anders gearteten „Inszenierung“ des Kaisertitels zu sehen (S. 59 Anm. 34), da der Verzicht auf den Romzug, von Friedrich III. repräsentativ ausgeführt, bei Maximilian nicht freiwillig erfolgte.

Im dritten Kapitel, überschrieben mit „Das frische Blut der Fugger“, geht es um entsprechende Macht-Inszenierungen und Selbstdarstellungen bei der Augsburger Kaufmannsfamilie in ihren Zweigen. Immer wieder im Mittelpunkt der Untersuchung steht das Ehrenbuch der Fugger, das Kagerer von einem Spannungs- oder gar einem Konkurrenzverhältnis von Text und Bild bestimmt sieht (S. 428). Überzeugend arbeitet Kagerer heraus, dass vor allem das Bedürfnis, sich als neue Macht im adeligen Umfeld zu etablieren, als Motivation für die Kaufmannsfamilien erscheine derartig aufwändige Projekte anfertigen zu lassen. Festzustellen sei dabei ein Ineinanderfließen von alten und neuen Begründungsfiguren – Blut und Geld – und es dabei, durchaus spannungsreich, zu einem Changieren beider komme, wobei Ehre und Gut dabei mehr amalgamierten, als dass sie wirklich „entgegengesetzt“ gedacht worden sind. In diesem Zusammenhang habe sich gezeigt, wie sich das Handelshaus der Fugger an die Inszenierungen der Habsburger vor allem an die maßstabsetzenden multimedialen Werke Kaiser Maximilians angelehnt (S. 444) und diese zuweilen auch übertroffen habe (S. 429).

Kagerer hat eine überaus anregende Studie geschrieben. Die gleichzeitige Untersuchung des maximilianeischen Hofes mit dem der Fugger erweist sich als konsequent und richtig; in beiden Höfen lassen sich in der damaligen Zeit bedeutende, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommende Potenzen sehen. Der Vergleich zwischen einer alten und einer neuen Familie (bzw. neuen Familien) hinsichtlich Selbstdarstellung und Legitimation geht auf und führt zu zahlreichen wichtigen Einordnungen, die die Mediävistik ebenso wie die Frühneuzeitforschung bereichern. Auch wenn solche Fragen bis zu einem gewissen Grad immer Geschmacksfragen bleiben: Störend an dem Buch ist eine zuweilen umständliche, geschwollen-geschraubte Ausdrucksweise, die regelrechte Wort- oder Satz-Ungetüme produziert – oder banale Sachverwalte bedeutungsraunend begrifflich aufdonnert (z. B.: „Medien sind substantielle Konstituenten in den Entwürfen von Macht“, S. 5). Vieles hätte sich, ohne auf eine akkurate Wissenschaftssprache verzichten zu müssen, einfacher und damit klarer ausdrücken lassen. Als holzschnittartig muss der Historiker den allenfalls für den Bereich der Antrags-Prosa tauglichen Ausdruck „Nicht-Moderne“ (S. 4) empfinden – muss man wirklich so blockhaft Geschichte einteilen? Stirnrunzeln erweckt der Begriff „Gesellschaften zentraleuropäischer Prägung“ (S. 4) – was sollen das für Gesellschaften sein? Ausdrücklich ist jedoch zu bemerken, dass sich diese Eindrücke nicht auf das gesamte Buch beziehen, sondern lediglich an bestimmten Stellen gehäuft auftreten. Dass der „Aetas Maximilianea“ [5] für das Selbstverständnis des habsburgischen Herrscherhauses eine Schlüsselstellung zukommt und dass sich (mit Abwandlungen) neue Familien der Zeit an diese Modelle angelehnt haben – nach der Lektüre von Kagerers Buch glaubt man es gerne.

Anmerkungen:
[1] Kagerer verweist auf hier auf Peter Strohschneider, Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburgs Alexius, in: Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln 2002, S. 109–147.
[2] Christine Reinle, Was bedeutet Macht im Mittelalter?, in: Claudia Zey (Hrsg.), Mächtige Frauen? Königinnen und Fürstinnen im europäischen Mittelalter, Ostfildern 2015, S. 35–72.
[3] Jan-Dirk Müller, Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I., München 1982.
[4] Vgl. auch Alexander Kagerer, Medienmacher Maximilian. Entwürfe von Macht um 1500, in: Lukas Madersbacher / Erwin Pokorny (Hrsg.), Maximilianus. Die Kunst des Kaisers, Berlin 2019, S. 144–132.
[5] Vgl. zum Begriff Dieter Mertens, Geschichte und Dynastie – zu Methode und Ziel der Fürstlichen Chronik Jakob Mennels, in: ders., Humanismus und Landesgeschichte Humanismus und Landesgeschichte. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. von Dieter Speck und Birgit Studt, Stuttgart 2018, S. 707–744 (Erstveröffentlichung 1988).

Zitation

Jörg Schwarz: Rezension zu: Kagerer, Alexander: Macht und Medien um 1500. Selbstinszenierungen und Legitimationsstrategien von Habsburgern und Fuggern. München  2017. ISBN 978-3-11-053911-0, In: H-Soz-Kult, 27.01.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28696>.

[Regionalforum-Saar] Naturereignisse im frühen Mit telalter. Das Zeugnis der Geschichtsschreibung vom 6. bis 1 1. Jahrhundert

Date: 2021/01/26 21:49:14
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

T. Wozniak: Naturereignisse im frühen Mittelalter

Naturereignisse im frühen Mittelalter. Das Zeugnis der Geschichtsschreibung vom 6. bis 11. Jahrhundert

Autor Thomas Wozniak,

Reihe Europa im Mittelalter 31
Erschienen Berlin 2020: de Gruyter
Anzahl Seiten XXIII, 970 S.
Preis € 149,95
ISBN 978-3-11-057231-5

Inhalt meinclio.clio-online.de/uploads/media/book/toc_book-58643.pdf

Rezensiert für H-Soz-Kult von Chantal Camenisch, Abteilung Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte, Universität Bern

Die Umwelt bildet den Rahmen für alle gesellschaftlichen Entwicklungen und Prozesse. Sie stellt zusammen mit Politik, Kultur und Wirtschaft die vier Grundkategorien der Geschichtswissenschaften dar. Mit dieser Feststellung führt Thomas Wozniak die Leserschaft in die Thematik seines 2017 an der Eberhard Karls Universität Tübingen als Habilitationsschrift akzeptierten Werkes ein. Im Zentrum dieses mit fast tausend Seiten sehr umfangreichen Buches stehen Naturereignisse und die Frage, wie sie im Frühmittelalter wahrgenommen, dargestellt und gedeutet wurden, aber auch wie sie von den Zeitgenossen zur Durchsetzung von religiösen und moralischen Vorstellungen instrumentalisiert wurden. Die fraglichen Naturereignisse teilt Wozniak in drei Gruppen, wobei die erste astronomische, vulkanische, tektonische und geomorphologische Phänomene umfasst, die zweite Gruppe aus extremen Witterungsereignissen besteht und die dritte Gruppe aus den Folgen der zwei ersten Gruppen, womit beispielsweise Epidemien und Hungersnöte gemeint sind. Wozniak spart dabei bewusst das Klima aus, für das im Untersuchungszeitraum wegen der langwierigen und deshalb vom Menschen kaum wahrnehmbaren Veränderungen eine andere methodische Herangehensweise nötig wäre, die nicht mehr im Bereich der Geschichtswissenschaften liegen würde.

Wozniak verwendet für den Untersuchungszeitraum nachvollziehbarerweise vorwiegend annalistische und chronikalische Quellen, wobei diese gerade für die fragliche Epoche in großer Zahl als Quelleneditionen vorliegen. Der geografische Rahmen, den sich der Autor für seine Untersuchung gesteckt hat, umfasst die Britischen Inseln, Teile Mittel- und Nordeuropas sowie den Mittelmeerraum. Der Schwerpunkt der Quellen liegt dabei im Gebiet des heutigen Deutschlands und der nördlichen Hälfte Frankreichs.

In einem ersten Hauptkapitel behandelt Wozniak astronomische Ereignisse wie Supernovae oder Sonnen- und Mondfinsternisse sowie die Erscheinung von Kometen, Meteoriten, Sonnenflecken und Polarlichtern. Nach einer Darstellung moderner wissenschaftlicher Erklärungen für diese Phänomene folgt eine Diskussion der im Frühmittelalter beobachteten Beispiele dieser astronomischen Ereignisse. Wie Wozniak ausführt, können viele dieser Ereignisse mit modernen mathematischen Methoden exakt datiert werden – etwas, was bei politischen oder ökonomischen Ereignissen im Frühmittelalter nicht ohne weiteres möglich ist. Diese exakte Datierung erlaubt es Historikern, die Genauigkeit dieser Angaben in chronikalischen und annalistischen Texten insgesamt zu überprüfen. Wozniak interessiert sich aber nicht nur für die Datierungen, sondern auch für die frühmittelalterliche Wahrnehmung, Rezeption und Deutung dieser Phänomene, wobei ein Teil dieser Überlegungen auch im letzten Hauptkapitel zur Bewältigung, Instrumentalisierung und Darstellungspraxis von Naturereignissen erscheint. Bei Phänomenen, die in den Quellen häufig beschrieben werden, gliedert der Autor diese chronologisch in Kapiteln, welche jeweils ein Jahrhundert umfassen. Es folgen Unterkapitel zu Erdbeben und gravitativen Massenbewegungen wie Erdrutsche. Ebenfalls Teil dieses Kapitels sind Tsunamis und vulkanische Ereignisse. Die letzteren sind in ihrem Kapitel nach Vulkanen geordnet.

Das zweite Hauptkapitel beschäftigt sich mit extremen Witterungsereignissen, beginnend mit Gewittern, Stürmen und Orkanen. Wozniak erläutert dabei jeweils einleitend die meteorologischen Eigenschaften und Merkmale der einzelnen Phänomene, bevor er den Bezug zu Beschreibungen derselbigen in der Bibel herstellt. Dieser Bezug zu biblischen und anderen antiken oder kirchlichen Texten ist deshalb sinnvoll und notwendig, weil Stürme, Blitze und Hagel unter anderem als göttliches Wirken verstanden wurden. Gerade in frühmittelalterlichen Texten ist deshalb mit standardisierten und instrumentalisierten Textstellen zu rechnen. Wozniak wägt deshalb bei den einzelnen Beispielen deren Plausibilität ab. Auf die Gewitter und Stürme folgt die Analyse der von Starkregen verursachten Überschwemmungen und der Sturmfluten, bevor sich der Autor den extremen Winterjahreszeiten zuwendet. Wozniak beschreibt dabei akribisch die möglichen Gründe für diese extremen Winter und das Ausmaß der Temperaturanomalien. Ein eigenes Kapitel ist ebenfalls den extremen Sommerjahreszeiten zugeordnet, wobei dieses sich nicht auf Temperaturanomalien beschränkt, sondern auch Dürren beinhaltet. Auch hier fließen wieder regelmäßig Aspekte der zeitgenössischen Wahrnehmung und Deutung von extremen Witterungsereignissen in die Darstellung mit ein.

Das nächste Hauptkapitel beschäftigt sich mit den Auswirkungen und Folgen der zuvor beschriebenen Naturereignisse. Darunter fallen zunächst Heuschrecken- und andere Tierplagen, aber auch Lebensmittelknappheit und Hungersnöte, wobei die theoretischen Ausführungen zu diesen sehr komplexen Prozessen eher knapp ausfallen. Mit den epidemischen Erkrankungen bei Menschen und Tieren greift der Autor im Anschluss einen sehr wichtigen und leider auch hochaktuellen Themenkomplex auf. In diesem Kapitel werden noch andere Folgen besprochen, darunter beispielsweise die Menge und die Qualität der Weinlese und weiterer agrarischer Erzeugnisse. Es ist dabei bemerkenswert, dass aufgrund der schlechten Überlieferungslage in den Quellen dieser Zeit eher wenig darüber zu erfahren ist, während Informationen dieser Art im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit sehr verbreitet vorkommen.

In einem letzten Hauptkapitel stehen die in den einzelnen Kapiteln bereits angerissene Bewältigung extremer Naturereignisse und ihrer Folgen im Zentrum sowie deren Instrumentalisierung in einem moralischen, politischen oder religiösen Kontext und die Darstellung dieser Ereignisse. In diesem Kapitel erläutert Wozniak im Detail, mit welchen politischen Ereignissen üblicherweise die zeitgenössischen Chronisten und Annalisten das Auftreten von bestimmten Phänomenen in Verbindung brachten. So kündigen Himmelszeichen wie Kometen Herrscherwechsel an. Andere Ereignisse sind dagegen mit den biblischen Plagen des Alten Testaments assoziiert oder gelten als Vorzeichen für die nahende Apokalypse. Neben dieser bewussten Instrumentalisierung hinterlassen viele beschriebene Beobachtungen auch den Eindruck, dass die Chronisten sie aus persönlichem Interesse an den Phänomenen selbst aufgezeichnet haben. Diese eher beobachtenden Darstellungen und in Ansätzen "wissenschaftlichen" Interpretationen existieren parallel zu religiösen, übernatürlichen Deutungen. So betont etwa Thietmar von Merseburg, dass Hexen keine Mondfinsternisse hervorrufen könnten, sondern dass der Mond deren Ursache sei. Er deutet Mondfinsternisse aber gleichwohl als Vorboten von politischen Umbrüchen und Herrscherwechseln (S. 713).

Insgesamt hat Thomas Wozniak eine sehr große Zahl an Quellen nicht nur für einen langen Zeitraum, sondern auch ein großes geografisches Gebiet untersucht, was sehr profunde Kenntnisse speziell dieser frühmittelalterlichen Texte nötig macht. Der Band ist außerdem ausgestattet mit einem 63 Seiten umfassenden Anhang, der aus zahlreichen Tabellen, Zusammenstellungen und Übersichten besteht. Diese und weitere Tabellen, die im Text eingestreut sind, erleichtern die Orientierung bei der Lektüre beträchtlich. Darüber hinaus enthält der Band 15 Darstellungen und Karten sowie einen Orts- und Personenindex.

Thomas Wozniak gelingt es, mit seinem Werk einen sehr umfassenden Beitrag an die Umweltgeschichte zu leisten für eine Epoche, die bisher noch in ungenügendem Maße erforscht wurde. Dieser sehr umfangreiche Band schließt damit auch an die Ergebnisse von Christian Rohrs Forschung an, die sich mit extremen Naturereignissen im Spätmittelalter auseinandersetzten.[1] Die profunde Analyse der einzelnen Naturereignisse bietet aber auch Erkenntnisse, die weit über das Frühmittelalter Gültigkeit haben und die somit auch für Historikerinnen und Historiker späterer Epochen oder für naturwissenschaftlich orientierte Paläoklimatologinnen und -klimatologen lesenswert sind. Der weitgehend chronologische Aufbau in den thematischen Kapiteln erlaubt es, dieses Werk auch als Nachschlagewerk zu verwenden.

Anmerkung:
[1] Christian Rohr, Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit, Köln 2007.

Zitation
Chantal Camenisch: Rezension zu: Wozniak, Thomas: Naturereignisse im frühen Mittelalter. Das Zeugnis der Geschichtsschreibung vom 6. bis 11. Jahrhundert. Berlin  2020. ISBN 978-3-11-057231-5, In: H-Soz-Kult, 27.01.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-29789>.

[Regionalforum-Saar] Kardinal war Sotzweiler stets verbunden : Eusebio Scheid ist an Corona gestorben

Date: 2021/01/29 15:33:55
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

am Dienstag in der SZ:

[Regionalforum-Saar] Die Lehren des Luftkriegs. Sozialwissenschaftliche Expertise in den USA vom Zweiten Weltkrieg bis Vietnam

Date: 2021/01/29 15:53:29
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Gestern fiel mir auf, daß heute der 29. Januar ist. Da fing ich wieder an zu rechnen - wie ich das an dem Tag immer tue -, wieviele Jahre seit dem gleichen Tag im Jahre 1944 vergangen sind. Damals war es ein Samstag, als die 8th AirForce der Amerikaner von England aus ihren ersten Massenangriff nach Deutschland flog. Über 800 viermotorige Flugzeuge waren beteiligt. Das Angriffsziel Frankfurt am Main flogen aber nur ein Teil der Maschinen an, weil wegen extrem schlechter Sicht (100 Prozent Wolkendecke) der Navigator in der Führungsmaschine vom Kurs abkam und die riesige Formation nach Ludwigshafen führte. Weiter hinten bemerkte man den Fehler, und so flog ein Teil der Streitmacht nach Frankfurt, warf seine Bomben ab und machte sich auf den Heimweg. Das tat die erste Formation auch, aber als sie an die Stelle kam, wo der Jägerbegleitschutz auf sie warten sollte, war niemand da, weil die Formation an der falschen Stelle war. Statt dessen wurden sie von deutschen Jagdflugzeugen angegriffen. Im folgenden Luftgefecht, das sich in Laufe der nächsten Stunden über die Pfalz, das heutige Saargebiet und den Hunsrück in Richtung Nordsee verlagerte, fielen mehr als 20 Bomber den deutschen Angriffen zum Opfer. Von den über 200 Männern, die sich an Bord befanden, verloren mehr als die Hälfte ihr Leben, als sie mit ihren Flugzeugen abstürzten. In den 1990ern habe ich mit Klaus Zimmer diesen Angriff und die Kämpfe in der Luft und am Boden untersucht, und jedes Jahr am 29. Januar kommt die Erinnerung wieder hoch an Ereignisse, die geschahen, als wir beide noch lange nicht am Leben waren. Deshalb war ich fasziniert, als ich gerade heute auf die nachstehende Besprechnung stieß.

Roland Geiger



Die Lehren des Luftkriegs. Sozialwissenschaftliche Expertise in den USA vom Zweiten Weltkrieg bis Vietnam


Autor Sophia Dafinger

Reihe Transatlantische Historische Studien 59
Erschienen Stuttgart 2020: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten 362 S.
Preis € 66,00
ISBN 978-3-515-12657-1

Rezensiert für H-Soz-Kult von Cécile Stehrenberger, Interdisziplinäres Zentrum für Wissenschafts- und Technikforschung, Bergische Universität Wuppertal

An welchem Punkt ist eine „Bevölkerung“ durch todbringende und disruptive Ereignisse derart „demoralisiert“, dass sich ihre Angehörigen „irrational“ oder „deviant“ verhalten oder sich gegen ihre Regierung auflehnen? Mit solchen Fragen beschäftigen sich wissenschaftliche „Experten“ nicht erst seit der COVID-19-Pandemie. Ihnen gingen schon von der US-Armee finanzierte Sozialwissenschaftleren nach, die sich während des Zweiten Weltkrieges, des Koreakrieges und des Vietnamkrieges mit den sozialen und psychischen Auswirkungen von Brand- und Sprengbomben, Napalm und Entlaubungsmitteln auf Zivilisten befassten. Mit dem von diesen „Experten des Luftkriegs“ generierten Wissen, seinen Ursachen und Produktionsmodi sowie mit seiner Wirkungsgeschichte setzt sich die auf ihrer Dissertation basierende Monographie von Sophia Dafinger auseinander. Die Studie leistet einen wichtigen Beitrag zur Kultur-, Wissens- und Erfahrungsgeschichte von Krieg im 20. Jahrhundert sowie spezifischer zu den neueren Cold War Studies und zur Geschichte der Sozialwissenschaften nach 1945.

Das Buch ist in sieben Kapitel unterteilt. Nach der Einleitung behandeln Kapitel 2 und 3 den United States Strategic Bombing Survey (USSBS), ein wissenschaftliches Großprojekt, das am 9. September 1944 ins Leben gerufen wurde. Ziel des USSBS war es, kurz vor Kriegsende in Europa Wissen zu gewinnen, das für die Gefechte im Pazifik einsetzbar sein sollte. Konkret galt es, die Bombardierungen deutscher Städte zu evaluieren, um zu eruieren, ob für den Krieg gegen Japan eine Strategieänderung angezeigt wäre. Von besonderem Interesse waren dabei die Folgen der Bomben auf den Durchhaltewillen der Bevölkerung. 1945 wurde das Projekt um eine Untersuchung der Effekte der über Japan abgeworfenen Bomben erweitert. Wie Dafinger demonstriert, ging es dabei letztlich um die Frage, ob sich der Luftkrieg „gelohnt“ hatte. Zur Datenerhebung führten „field teams“ in den besetzten Gebieten Interviews mit gewöhnlichen Zivilisten, aber auch mit politischen Entscheidungsträgern wie Albert Speer durch. In der Datenerhebung und Auswertung bedienten sich die Mitarbeiteren der wichtigsten Methoden der modernen Sozialforschung und trugen zu deren Weiterentwicklung bei. In ihren Ergebnissen konstatierten sie unter anderem, dass die bekriegten Wirtschaftssysteme und Gesellschaften erstaunlich robust waren. Laut Dafinger konnten die Wissenschaftleren keine eindeutige Kausalverbindung zwischen einer etwaigen Schwächung der „Kriegsmoral“ und den Bombardierungen nachweisen. Dennoch behaupteten sie, der Luftkrieg sei für den alliierten Sieg zentral gewesen und die Air Forces müssten mit Blick auf zukünftige Bedrohungen ausgebaut werden. Wie Dafinger feststellt, hatte der USSBS einen nachhaltigen Einfluss auf die Debatten um den Luftkrieg. Diverse Abteilungsleiter des Projekts gelangten später in führende politische Positionen und als stellvertretender Verteidigungsminister plädierte etwa Paul Nitze im Vietnamkrieg dafür, dort wie im Zweiten Weltkrieg Schlüsselindustrien zu bombardieren. Der USSBS diente dabei als eine Art „Blaupause für den Luftkrieg“ (S. 128). Gleichzeitig stellte er den Auftakt für eine langfristige Kooperation zwischen Wissenschaft, Politik und Militär in der Luftkriegsforschung dar. Weiter vorangetrieben wurde diese unter anderem im Human Resources Research Institute der US Air Force (HRRI) und der „Research and Development Corporation“ (RAND Corporation).

Mit den empirischen Untersuchungen, die an diesen Forschungseinrichtungen zu den Folgen der US-amerikanischen Bombardements im Koreakrieg und im Vietnamkrieg vorgenommen wurden, beschäftigt sich Dafinger in Kapitel 4 und 5 ihres Buches. Sie zeigt darin, wie sich in der dynamischen Forschungslandschaft des Kalten Krieges die These, der Luftkrieg sei ein angemessenes Mittel der (auch „psychologischen“) Kriegsführung, lange halten konnte. Der Erfolg von Bombenangriffen ließ sich steigern, so die etablierte Meinung, indem besonders verletzliche Punkte im gesellschaftlichen Gefüge und den Verhaltensmustern des Feindes identifiziert wurden, um mit diesem Wissen seinen Zusammenbruch präzise herbeizuführen. Die hierfür generierten Erkenntnisse der Wissenschaftleren von HRRI und RAND reproduzierten oft ein (rassistisches) othering und eine Entmenschlichung des Feindes, die für die Rationalisierung und Legitimierung des Krieges selbst elementar war. Zwar gab es schon früh und auch intern Kritik an einer solchen Forschungsausrichtung. Erst nach 1964 kam es innerhalb der RAND Corporation jedoch zu regelrecht polarisierend divergierenden Beurteilungen des Vietnamkrieges und zur Rolle von Wissenschaftleren in ihm. Diese führten allerdings zu keinem Ende der Luftkriegsexpertise, sondern gingen mit einem „Generationenwechsel“ (S. 315) und Umorientierungen einher.

Das sechste und vor dem Resümee letzte Kapitel greift vorherige Beobachtungen zur grundsätzlichen „Logik“ von Expertise im Luftkrieg auf und macht sie zum Gegenstand weiterer abstrahierender Überlegungen. Behandelt wird auch der Umgang mit Protest (etwa aus der Friedensbewegung) und Gegenwissen. Dafinger zeigt hier erneut auf, wie zentral Außendarstellungen und das (auch moralische) Selbstverständnis der Wissenschaftleren für die Wissensproduktion waren. Aber auch die Denkfigur der „lessons learned“ sowie die Funktionsweise des „Vergessens“ (S. 304) von Wissensbeständen, die die Luftkriegsführung in Frage stellten, werden hier nochmals beleuchtet.

Die Lehren des Luftkriegs bestätigt viele der wichtigsten Erkenntnisse, welche die Forschungsliteratur zur Geschichte der Sozialwissenschaften nach 1945 in den letzten zehn Jahren vorgelegt hat.[1] Dazu gehört, dass der Systemkonflikt die Forschung zwar zutiefst geprägt, aber nicht völlig determiniert hat und dass Politik und Wissenschaft einander als „Ressourcen“ dienten. Auch Dafinger identifiziert für die Expertise zum Luftkrieg ein wechselseitig produktives Verhältnis zwischen beiden. Aus diesem ging nicht nur nützliches Wissen für die Luftkriegsführung hervor, sondern es führte auch zu einem Erstarken gewisser Forschungsansätze, etwa der Behavioral Sciences. Wie Dafinger darlegt, verstanden die Wissenschaftleren, die sich der Bombengewalt widmeten, ihre Gestaltungsansprüche trotzdem – oder gerade deshalb – als unpolitisch und ihre Tätigkeit als objektiv und wertneutral.

Ganz im Sinn der jüngeren Forschung zu den Cold War Sciences zeigt Dafinger, dass diese auch hinsichtlich des Luftkriegs von Zielkonflikten, Ambivalenzen und Ambiguitäten gekennzeichnet waren. Die Autorin arbeitet hier ausgezeichnet heraus, wie über Forschungsmethoden gestritten wurde, Experten oft keine eindeutigen Aussagen machten und dass just darum ihre Forschungsresultate so vielfältig nutzbar waren. Aber auch der rekonstruierte Umgang dieser Experten mit radikaler Kritik, die zwar Erschütterungen produzierte, aber selten Revolutionen, ist hochinteressant.

Das Buch macht deutlich, dass die starken methodischen und inhaltlichen Kontinuitäten der Forschung zum Luftkrieg viel mit personellen Kontinuitäten zu tun hatten. In ihren komplizierten Netzwerken gelang es einigen Forscheren, lange Zeit überaus einflussreich zu bleiben, ohne dabei von ihren Grundannahmen über Krieg, Gesellschaft und Wissenschaft substanziell abzurücken. Dazu gehörte auch, dass sie gewisse Innovationen zuließen oder gar beförderten. Dass Dafinger die Entwicklung der Luftkriegsforschung immer wieder aufrollt, indem sie den Geschichten solcher und anderer Akteure folgt, ist eine große Stärke ihres Buches. Sie situiert die Praktiken, Selbstverständnisse und Habitus der porträtierten Forscheren in ihren jeweiligen kulturellen beziehungsweise historischen Kontexten, wozu unter anderem die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges gehört. Damit liefert sie für zukünftige Arbeiten sehr anschlussfähige Einblicke darin, wie Persönliches und Politisches miteinander verschränkt im Wissenschaftlichen wirkmächtig werden.

Dafingers sorgfältige und wohl formulierte Analyse des reichhaltigen Quellenmaterials überzeugt und macht ihr Buch zu einer Bereicherung der oben erwähnten Forschungsfelder. Bei vielen Aspekten der Geschichte der Luftkriegsexpertise, die angesprochen werden, bestehen Anknüpfungsmöglichkeiten für weiterführende Forschungsvorhaben – etwa zu ihrer geschlechtergeschichtlichen Dimension. Besonders spannend ist die Lektüre des Buches, wenn sie mit derjenigen von Studien kombiniert wird, die sich diversen „Forschungstechniken“ von RAND-Experten stärker wissenschaftsanalytisch nähern oder den Krieg/Wissenschafts-Nexus breiter bearbeiten.[2]

Insgesamt kann Die Lehren des Luftkriegs allen an der Geschichte und Gegenwart des Verhältnisses von Wissen, Politik und Massengewalt interessierten Leseren empfohlen werden. Dies allein schon wegen der Wirkung, welche die rekonstruierten Fragestellungen und Wissensbestände bis heute auch jenseits des Militärischen entfalten. Zu denken ist hier nicht zuletzt an den eingangs angesprochenen (aktuellen) Umgang mit verschiedenen zivilen Katastrophen und Krisen.

Anmerkungen:
[1] Vgl. Fabian Link, Sozialwissenschaften im Kalten Krieg. Mathematisierung, Demokratisierung und Politikberatung, in: H-Soz-Kult, 15.05.2018, https://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-3095 (14.01.2021).
[2] Christian Dayé, Experts, Social Scientists, and Techniques of Prognosis in Cold War America, Cham 2020; M. Susan Lindee, Rational Fog. Science and Technology in Modern War, Cambridge, Mass. 2020.
Zitation
Cécile Stehrenberger: Rezension zu: Dafinger, Sophia: Die Lehren des Luftkriegs. Sozialwissenschaftliche Expertise in den USA vom Zweiten Weltkrieg bis Vietnam. Stuttgart  2020. ISBN 978-3-515-12657-1, In: H-Soz-Kult, 29.01.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-93344>.


[Regionalforum-Saar] Germanenideologie. Einer vö lkischen Weltanschauung auf der Spur

Date: 2021/01/29 17:03:12
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Germanenideologie. Einer völkischen Weltanschauung auf der Spur

Herausgeber Martin Langebach

Reihe Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung 10589
Erschienen Bonn 2020: Bundeszentrale für politische Bildung
Anzahl Seiten 208 S.
Preis € 4,50
ISBN 978-3-7425-0589-7

Inhalt meinclio.clio-online.de/uploads/media/book/toc_book-59564.pdf

Rezensiert für H-Soz-Kult von Marcus Coesfeld, Bielefeld

Dieses Thema ist äußerst aktuell. Germanenbilder durchdringen weite Kreise der gegenwärtigen Geschichtskultur und sind präsent in den Medien. Auf Netflix etwa läuft die Serie „Barbaren“, in der es um die Varus-Schlacht geht. Diese haben allein in den ersten vier Wochen bereits über 37 Millionen Zuschauer gesehen.[1] In Berlin präsentiert das Museum für Vor- und Frühgeschichte gerade die Sonderausstellung „Germanen. Eine archäologische Bestandsaufnahme“. Da die Ausstellung in die Coronakrise fällt, lässt sich zurzeit zwar kaum anhand der Besucherzahlen ablesen, wie groß das Interesse in der Öffentlichkeit für das Thema ist, doch deutet sich dieses in einer großen medialen Präsenz an. Und während die Ausstellung nicht nur den aktuellen Forschungsstand über Germanen wiedergeben will, möchte sie eben auch mit falschen Vorstellungen über die Thematik aufräumen.[2] Diese halten sich teilweise, wie im Band aufgezeigt wird, sehr hartnäckig.

Auf der Fachtagung „Odins Rückkehr – Ahnenkult und Rechtsextremismus“[3] erläuterte Christian Meyer-Heidemann, Landesbeauftragter für politische Bildung in Schleswig-Holstein, dass die extreme Rechte Germanenbilder für zwei Zwecke missbrauche: Erstens nutze sie den ideologisch verfärbten Ahnenkult als positives Identifikationsmittel, zweitens bringe sie unter ihrem Deckmantel rechtsextremes Gedankengut in eine politische Mitte unter. Und genau hierin liegt eine präsente Gefahr.

Dass Germanen „ein geschichtspolitisches Paradebeispiel für die Indienstnahme der Vergangenheit für gegenwärtige oder zukünftige politische Ziele [sind], ohne dass es vielen überhaupt bewusst“ ist (S. 9), darauf macht auch Herausgeber Martin Langebach in seiner Einleitung aufmerksam. Die Fragestellungen des Bandes, so Langebach, zielen daher auf den Ursprung, die Entwicklung und gegenwärtige Formen der Germanenideologie. Und so stellt die Einleitung die folgenden sechs Aufsätze in Aufzeigung der Zusammenhänge vor.

Mischa Meier erläutert in seinem Beitrag zunächst die Frage, ob es überhaupt eine Volksgruppe gegeben hat, die sich als Germanen bezeichnete, und kommt auf die durchaus nicht neue Antwort: Wir wissen es nicht, denn die archäologischen Funde geben uns keinen Beleg hierfür. Viel mehr spitzt die These, Cäsar habe die Germanen „erfunden“, den Fakt zu, dass der Germanenbegriff von Anfang an eine römische Fremd- und Sammelbezeichnung für eine Vielzahl ethnischer Gruppen gewesen ist.

Aufgrund mangelhaften Wissens über „die Germanen“ dienen ebendiese seit jeher als Projektionsfläche eigener Vorstellungen seitens der Rezipienten. So war es schon bei den Römern zur Abgrenzung der eigenen Identität – und dies geschah, wie Ingo Wiwjorra aufzeigt, insbesondere seit dem 19. Jahrhundert, als man durch die Gleichsetzung der Germanen mit dem zur Nation werdenden Deutschland eine historische Kontinuität zur Identitätsstiftung konstruierte. Nationalistisch und rassistisch aufgeladen entstand hier die Germanenideologie, auf der die Völkische Bewegung fußen konnte.

Wie sich diese verbreitete, Netzwerke auf- und ausbaute und wie sie sich zunehmend radikalisierte, erläutert Uwe Puschner in seinem Beitrag. Auf dem Fundament eines teilweise rassistischen und antisemitischen Gedankenguts praktizierten einige Anhänger der unterschiedlichen völkischen Gruppierungen sogar eine neuheidnisch-religiöse Tiefe, die sich vornehmlich aus der nordischen Mythologie speiste und die der Politisierung und weiteren Radikalisierung im folgenden Nationalsozialismus den Weg bereitete.

Wie dann im „Dritten Reich“ viele Archäologen weitestgehend selbstständig ihre Forschungen ideologisierten und dem NS-Regime anpassten, zeigt Uta Halle kritisch auf. Die Archäologen des SS-Ahnenerbes und des Amtes Rosenberg verbreiteten ein Germanenbild, das eine rassische Überlegenheit der Deutschen gegenüber anderen Völkern propagierte. Um auch die Expansionsbestrebungen der Nazis zu legitimieren, erweiterten die Forscher den Germanenbegriff auf die Wikinger und setzten die beiden gleich.

Diese völkisch/nationalsozialistisch geprägten Germanenbilder sind medial so umfassend in die Gesellschaft eingeflossen, dass sie in Teilen bis heute nachwirken. Miriam Sénécheau spricht von einem „lebendigen Wissen“ (S. 167) über Germanen, das sich seit 1945 gehalten hat und ab der Milleniumwende in den populären Geschichtskulturen als „Germanenboom“ (S. 145) wieder stärker ablesen lässt. Dazu skizziert sie, wie teils stark veraltete, aber immer noch gängige Germanenbilder in Filmen, Wissensmagazinen und Schulbüchern transportiert werden.

Den Macherinnen und Machern in den Mainstream-Medien sei dies meist gar nicht bewusst. Sehr bewusst hingegen werden entsprechende Narrative in der extremen Rechten verbreitet. Wie und in welchen Organisationsformen dies geschieht, stellen schließlich Karl Banghard und Jan Raabe in ihrem Aufsatz dar. Obgleich schon die Nationalsozialisten Wikinger zu Germanen machten, wie Halle aufzeigt, und dieses Bild auch heute in den Medien zusammengelegt wird, wie Sénécheau erläutert, sind Wikinger heute immer noch weniger belastet als „Germanen“. Daher nutzt man im rechtsextremen Milieu tendenziell eher das Bild des Wikingers als das des Germanen.

Die Autoren des Bandes sind allesamt ausgewiesene Expertinnen und Experten auf ihren jeweiligen Gebieten. Ihre Aufsätze geben ihren Forschungsstand wieder und bieten daher nicht in erster Linie neue Erkenntnisse, sondern einen breit gefächerten Überblick über die Thematik. Sie bauen sinnvoll aufeinander auf und ergänzen sich dahingehend, dass sie unterschiedliche Episoden der Germanenrezeptionsgeschichte von der Römerzeit bis heute unter unterschiedlichen Gesichtspunkten beleuchten. Es wird herausgestellt, dass das Germanenbild seit jeher eine identitätsstiftende Ebene hatte – zur römischen Zeit zur Abgrenzung der Römer von den Völkern jenseits des Rheins, in der Neuzeit zur Konstruktion einer nationaldeutschen Kontinuität. Wissenslücken über die unter dem Sammelbegriff gefassten Völker wurden seit jeher durch ideologische Narrative aufgefüllt und so der eigenen Weltanschauung angepasst. Darum wäre vielleicht auch ein Aufsatz wünschenswert gewesen, der die jüngeren und gegenwärtigen Perspektive(n) außerhalb des deutschsprachigen Raums näher beleuchtet: Welches Germanenbild oder welche Germanenbilder entwickelten sich in den Geschichtskulturen der Länder, die sich nicht im gleichen Maße wie die Deutschen als Nachfolger der Germanen verstehen? Aber auch andere, etwa komparatistische oder medienpädagogische Ansätze hätten den Band bereichern können. Eine Aufzählung von Perspektiven, aus denen Germanenbilder noch untersucht werden müssten und teils ja auch werden, ist aber müßig. Das Thema ist groß und die Möglichkeiten sind vielfältig.

Insgesamt bietet der vorliegende Band nicht nur einen breiten Überblick über die Geschichte und aktuellen Tendenzen von Germanenbildern, sondern wird auch der Intention seines Herausgebers vollkommen gerecht, sich „auf die Spurensuche der Germanenideologie“ zu begeben und „entsprechende Bilder“ zu hinterfragen (S. 11). Dadurch sensibilisiert er in recht kompakter Weise dafür, welche politischen Dimensionen hinter scheinbar unpolitischen Narrativen stehen können.

Anmerkungen:
[1] Vgl. Deutsche Serie "Barbaren" stellt Netflix-Rekord auf, in: Süddeutsche Zeitung, 20.11.2020, https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/medien-deutsche-serie-barbaren-stellt-netflix-rekord-auf-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-201120-99-404452 (20.12.2020).
[2] Vgl. Michael Schmauder / Matthias Wemhoff, Einleitung, in: Gabriele Uelsberg / Matthias Wemhoff (Hrsg.), Germanen. Eine archäologische Bestandaufnahme. Begleitband zur Ausstellung, Berlin 2020, S. 14.
[3] Diese fand vom 14. bis 15. Dezember 2020 Corona-bedingt online statt, vgl. https://ahnenkult-und-rechtsextremismus.de (20.12.2020).

Zitation

Marcus Coesfeld: Rezension zu: Langebach, Martin (Hrsg.): Germanenideologie. Einer völkischen Weltanschauung auf der Spur. Bonn  2020. ISBN 978-3-7425-0589-7, In: H-Soz-Kult, 29.01.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-93832>.

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[Regionalforum-Saar] Hinweis auf Verkaufsstart "Verwirrende Wege"

Date: 2021/01/30 08:13:02
From: Hans-Joachim Hoffmann via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Verkaufsstart der Lokalgeschichte „Verwirrende Wege - Ottweiler 1918/19 - 1956 - Entstehung, Zerschlagung und Neuaufbau demokratischer Strukturen“


Endlich ist es soweit: Ab dem 1. Februar 2021 kommt die Darstellung „Verwirrende Wege – Ottweiler 1918/19–1956 – Entstehung, Zerschlagung und Neuaufbau demokratischer Strukturen“ (ISBN 978-3-00-067119-7), verfasst von Hans-Joachim Hoffmann, in den Verkauf.
In seinem Vorwort führt der Verfasser u.a. aus:
„Die vorliegende Darstellung zur Ottweiler Lokalgeschichte von 1918 bis 1956 richtet sich nicht in erster Linie an den Fachhistoriker, sondern an historisch interessierte LeserInnen, die sich die Frage stellen:
Wie kam es auf örtlicher Ebene zum Zerfall demokratischer Strukturen und zur Machtergreifung durch den Nationalsozialismus?
Um diese Frage zu beantworten, bedurfte es der Recherchen, um zunächst die Anfänge des politischen Lebens in Ottweiler nach dem 1. Weltkrieg zu ermitteln, also zu fragen:
- Wann erfolgte die Gründung der einzelnen Parteien nach dem 1. Weltkrieg?
 - Wie entwickelten sich die örtlichen Parteien nach ihrer Gründung 1918/19 bis 1935?
Die Rückgliederung des Saargebietes an Deutschland 1935 bedeutete einen radikalen Bruch mit den mühsam entwickelten demokratischen Strukturen und die Durchsetzung der Diktatur. Es galt also zu klären:
- Wie sicherte der Nationalsozialismus seine Macht auf örtlicher Ebene?
Aufbau und Zerfall demokratischer Strukturen waren und sind stets an Personen und ihr poltisch-gesellschaftliches Engagement gebunden. Ihre Leistungen – im positiven wie negativen Sinn – führte zu den Fragestellungen:
- Welche Personen prägten das politische Leben Ottweilers im Zeitraum 1918/19–1956?
- Welche Lokalpolitiker verantworteten den demokratischen Neuaufbau nach dem 2. Weltkrieg?
Die Abfassung der Lokalgeschichte Ottweilers für diesen Zeitraum entwickelte sich in engem Zusammenhang mit den Recherchen der Biographien politisch verfolgter Ottweiler BürgerInnen in der Zeit des Nationalsozialismus. Dabei stellte sich heraus, dass keine quellengestützte Ottweiler Lokalgeschichte für diesen Zeitabschnitt vorliegt. Denn entsprechend der Zielsetzung bisher verfasster Lokalgeschichten, die sich als Überblicksdarstellungen verstehen, findet die politische Entwicklung in Ottweiler seit dem Ende des 1. Weltkrieges sowie die Darstellung der NS-Zeit und der Jahre nach dem 2. Weltkrieg nur in begrenztem Rahmen Beachtung. Dies veranlasste mich, die politische Entwicklung in Ottweiler während der Völkerbundzeit, der Zeit des Nationalsozialismus und im Zeitraum von 1945 bis 1956 auf Quellenbasis nachzuzeichnen. Als wichtigste Grundlage erachtete ich die Auswertung der vorliegenden Protokolle der Ottweiler Stadtverordneten-Versammlung (bzw. des Ottweiler Stadtrates) sowie die Berichte in der Lokalpresse, insbesondere der „Ottweiler Zeitung“; des Weiteren zog ich einschlägige Archivalien des Landesarchivs sowie der Stadtarchive Ottweiler und Neunkirchen zu Rate. [...]
Keine Beachtung fanden die Vorgänge im Umfeld der Reichspogromnacht 1938 sowie die Zeit des 2. Weltkrieges; zu diesen Themen verweise ich auf „Die Kriegs- und Soldatenchronik der Stadt Ottweiler“ (2005) von Dieter Robert Bettinger sowie auf meine Darstellung „Seid vorsichtig mit der Obrigkeit...! – Beitrag zur Erinnerungskultur und Lokalgeschichte Ottweilers“ (2015).
Ich versuchte die in den Quellen, der Literatur und in Presseberichten erwähnten Personen zu identifizieren; dies geschah nicht, um politisch und/oder gesellschaftlich handelnde Personen zu diskreditieren, sondern um zu zeigen, dass in Ottweiler das Gedankengut des Nationalsozialismus in allen gesellschaftlichen Schichten Fuß fassen konnte, während die Gegenentwürfe der Sozialdemokratie und des Kommunismus, getragen von der Arbeiterschaft, bei den anderen Bevölkerungsschichten keine ausreichende Unterstützung fanden. [...]
Nur gestreift wird die parteipolitische Entwicklung in Ottweiler nach dem 2. Weltkrieg, da ihre ausführliche Darstellung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Für die Ortsgruppen der CDU und SPD liegen Festschriften vor, die eine erste Information ermöglichen; eine Geschichte ihrer lokalen Vorläufer und der übrigen bis 1956 im Stadtrat Ottweiler vertretenen Parteien (CVP – DPS – SPS – KP) fehlt.  [...].“

Das Buch kann ab dem 1.2.2021 zum Preis von € 29.80 erworben werden bei: 
Buchhandlung Köhler, Enggass 2,
Pressefachgeschäft Fabio Vitello, Wilhelm-Heinrich-Straße 11
Tourist-Information, Rathausplatz 5
Geschäftsstelle Sparkasse Neunkirchen, Wilhelm-Heinrich-Straße 39
Bücher König, Neunkirchen, Bahnhofstr. 43
Hans-Joachim Hoffmann, Adolf-Kolping-Weg 7, 66564 Ottweiler (06824-7990) - bei Versand: plus € 5.00 (Verpackung/Porto)


Am 1. Februar bietet Hans-Joachim Hoffmann im neueröffneten Pressefachgeschäft Fabio Vitello, Wilhelm-Heinrich-Straße 11 von 9.00–12.00 Uhr sowie von 16.00–18.00 Uhr seine Darstellung persönlich an.

Neben der Sparkasse Neunkirchen, Saartoto und Tobias Hans, Ministerpräsident des Saarlandes, unterstützen der H.-u.-V. Ottweiler durch einen Druckkostenzuschuss und Irene Funk diese Publikation.