Date: 2017/02/02 20:06:41
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>
Ein Jubiläum der besonderen Art Heute morgen saß ich im „Bruder Jakob“ in der Schloßstraße und trank einen Latte, als am Nebentisch jemand fragte, was das denn heute für ein Markt in St. Wendel sei. „Lichtmeß-Markt“, sagte jemand. Ich drehte mich zu Herrn Jakob, dem Betreiber der Gaststätte um, und fragte, ob wir heute den 2ten Februar zählten, was er bejahte. „Ei“ sagte ich und rechnete schnell durch, „dann feiern Sie heute ein Jubiläum“. Nein, meinte er, das sei erst am 19ten März. Er meinte wohl die Eröffnung. Aber ich sagte ihm, nein, das Haus hat heute ein Jubiläum - wenn auch ein negatives: Es zählte heute vor genau 340 Jahren nicht zu den Häusern, die von den Franzosen an Lichtmeß 1677 niedergebrannt wurden. Denn dieses Haus ist das Haus des Schultheißen, und laut überlieferter Schilderung war es ein von fünf Häusern (inkl. Pfarrkirche), die verschont blieben. „Extract Sicheren
Schreibens über vorgangenes Mord=brennen und erbärmliche
Einaescherung der
Stadt S. Wendel/ wie auch was sonsten in dem Ertz=Stifft Trier
vor Orthen mehr von
denen Frantzosen verbrennet worden de dato den 10. Februarii
1677. (…) dann den 30.
kame der Comte de Bissy, nachdem er Cussel
und alle umbligende
Doerffer eingeaeschert/ mit seinen
Reuteren und Dragonern zu S.
Wendel wieder an/ stelte sich vor
der Statt uffm Berg in
Battaille, schickte zum Schultheissen/ und als selbiger
so bald parirt, und zu
ihme kommen/ hat besagter Comte
de Bissy ihme
vorgehalten/ wie daß Er Ordres
erhalten/ die Statt S.
Wendel gantz abzubrennen/ und ausserhalb
Kirch/ Pfarrhoff/ Frauen von
Soeteren/ und
deß Schultheissen Hauß/ nichts stehen
zulassen; welcher
unchristlich: ja mehr als
barbarischer execution man sich
umb desto weniger versehen/ weil besagte Statt
in Koenigliche
Frantzoesische Protection genohmen worden/ auch an Zahlung
der so schwerer
Contribution niemalen saeumig erschienen/ sondern selbige
biß Joannis Baptistae
anticipando gezahlt/ nunmehr auch nach
auzgestandenen harten
Einquartirungen gantz ruinirt wahre“ Als ich später über den Markt spazierte, gewahrte ich den örtlichen Polizisten, Herrn Fischer, und gemahnte ihn, nach Franzosen mit großen Feuerzeugen Ausschau zu halten. Den Witz mußte ich ihm natürlich erklären. Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen Roland Geiger |
Date: 2017/02/03 20:59:17
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>
Hallo, der nachstehende Artikel - stand heute
morgen in der SZ - gehört vielleicht nicht wirklich ins Forum,
aber ich fand ihn interessant - auch die historische Anmerkung.
Man möge es mir verzeihen. Roland Geiger
Das pädagogische Muselmann-Kaffee-DesasterDie Holländer haben ihn den Arabern und den Türken geklaut. Das ist zwar schon etwa 400 Jahre her, aber die Holländer haben seitdem bei uns Deutschen eigentlich etwas gut, denn wir mögen mehr als fast alle anderen Europäer kaum etwas lieber als ihn. Es geht um Kaffee.Die Warnung vor den miesen Angewohnheiten dieses Muselmanns war zwar sehr melodisch, aber ich hatte schon früh den Verdacht: Da stimmt etwas nicht. „C-a-f-f-e-e, trink nicht so viel Kaffee!“, lautetet die Warnung. Der „Türkentrank“ schwäche die Nerven, mache „blass und krank“. „Sei doch kein Muselmann, der ihn nicht lassen kann!“, sangen wir in der Klasse. Und im Lehrerzimmer roch es nach Kaffee. Meine Oma sprach immer vom „guten Bohnenkaffee“. Lange bevor ich selbst meine erste Tasse bekam, durfte ich bei der Zubereitung helfen, das Wasser in den Filter aufs Pulver schütten, dem Tröpfelgeräsuch zuhören und den Duft einatmen. Als ich dann meinen ersten Kaffee hinter mir hatte, entwickelte ich mich schnell zum guten Enkel und warnte meine Oma: Nicht die weißen Papierfilter nehmen, die braunen sind besser. Sie ließ sich überzeugen. Das ließ ich mich auch, als mir Thomas Brinkmann von der Kaffeeschule in Hannover vor ein paar Tagen erklärte: Nicht die braunen Filter nehmen, die weißen sind besser. Die werden nämlich inzwischen nicht mehr mit Chlor, sondern mit Sauerstoff gebleicht und verändern den Geschmack des Kaffees nicht so sehr wie die braunen Filter. Außerdem habe ich gelernt: Kaffeewasser sollte nicht kochen, sondern nur etwa 90 bis 96 Grad heiß sein. Kaffee wird besser, wenn man den leeren Papierfilter erstmal mit heißem Wasser begießt. Und am besten ist Kaffee, wenn man ihn nicht länger als eine Viertelstunde vor dem Brühen mahlt. Denn mehr als die Hälfte der wundervollen Kaffeearomen verflüchtigen sich nach dem Mahlen ruck, zuck. Und der Muselmann? Der hatte eine Art Kaffeemonopol – die Türken und Araber verkauften nur Bohnen, die nicht mehr keimen konnten. Clever. Bis die Holländern 1616 im damals osmanischen Jemen, wo wohl schon 1454 der erste Kaffee angebaut wurde, Kaffeepflanzen klauten, um selbst welchen in Ceylon und Java anzubauen. Es gibt viele solcher Geschichten, aber das ist die glaubwürdigste. Ganz sicher ist: Kaffee ist nach Wasser und vor Bier das Lieblingsgetränk der Deutschen. 162 Liter davon trinken wir pro Kopf im Jahresdurchschnitt. Die Warnung vor dem muselmanischen Kaffeelaster scheint also nicht nur bei mir ein pädagogisches Desaster gewesen zu sein. Wie machen Sie Kaffee? Was trinken Sie am liebsten? Sagen Sie dem Autor Ihre Meinung. Postadresse: Gutenbergstraße 11-23, 66103 Saarbrücken, E-Mail m.rolshausen(a)sz-sb.de |
Date: 2017/02/05 18:44:17
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>
From: Beate Dettinger <b.dettinger(a)web.de> Date: 06.02.2017 Subject: Tagber: 1816 - Das Jahr ohne Sommer ------------------------------------------------------------------------ Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart; Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg; Universität Stuttgart; Universität Hohenheim 21.10.2016-23.10.2016, Stuttgart Bericht von: Beate Dettinger / Amelie Bieg / Theresa Reich / Lea Schneider, Historisches Institut, Universität Stuttgart E-Mail: <b.dettinger(a)web.de> Der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im Jahr 1815 löste eine globale Naturkatastrophe aus. Wegen der freigesetzten Asche- und Gaswolke sanken die Temperaturen im Folgejahr so erheblich, dass in weiten Teilen Nordamerikas und Europas im Jahr 1816 ein winterliches Klima herrschte. 2016 jährt sich das sogenannte Jahr ohne Sommer zum zweihundertsten Mal. Aus diesem Anlass befasste sich die interdisziplinär angelegte Tagung mit den klimatischen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Folgen einer Katastrophe, die über die Zeitgenossen hereinbrach und für die sie keine Erklärung hatten. Der geographische Schwerpunkt der Tagung lag in Südwestdeutschland, vergleichende Studien (Schweiz, China) wurden herangezogen. Die Tagung fragte danach, wie diese Katastrophe von den Zeitgenossen wahrgenommen, gedeutet und bewältigt wurde. Sie befasste sich konkret damit, welche Anstrengungen unternommen wurden, um Wege aus der Not zu finden, welche Auswirkungen sie auf die Volkswirtschaft hatte und ob sie sich beispielsweise auch etwa in der Musik der Zeit widerspiegelte. FRANZ MAUELSHAGEN (Potsdam) konstatierte in der ersten Sektion, moderiert von SABINE HOLTZ (Stuttgart), dass die globale Dimension von Naturkatastrophen und die interdisziplinäre Perspektive wichtig seien, um die Kausalitäten zu verstehen. Für das moderne Verständnis einer globalgeschichtlichen Dimension müsse berücksichtigt werden, dass die Kausalzusammenhänge den Zeitgenossen nicht klar waren. Zwar wurden der Ausbruch des Tamboras und die fatalen Auswirkungen im nahen Umfeld durch die Kolonialmächte wahrgenommen, jedoch herrschte im 19. Jahrhundert ein anderer Klimabegriff und ein anderes Klimaverständnis als in der modernen Klimaforschung. Kausalität und Wirkung wurden zeitgenössisch vor allem in lokalen Zusammenhängen und somit in ihren kurzfristigen Auswirkungen gesehen. Zu einem globalen Ereignis konnte der Vulkanausbruch erst durch Kausalzusammenhänge werden, welche durch die Interaktion Mensch und Natur sowie Mensch und Bakterium, wie im Falle der ersten Choleraepidemie 1817 bis 1822, beeinflusst wurden. Abschließend setzte Mauelshagen den Ausbruch des Tamboras in den Kontext der langfristigen Klimageschichte und bettete dessen Eruption in den weltgeschichtlichen Zusammenhang der Kleinen Eiszeit ein. Die zweite Sektion beleuchtete die politischen und wirtschaftlichen Folgen der Tamborakrise und wurde von SABINE HOLTZ (Stuttgart) und SENTA HERKLE (Stuttgart) moderiert. Das Krisenmanagement der badischen Regierung stellte CLEMENS ZIMMERMANN (Saarbrücken) vor. Die Krise war von den Behörden als nicht bedrohlich eingeschätzt worden: Man führte die Preisentwicklung vielmehr auf die noch nicht fortgeschrittene Agrarmodernisierung, Gerüchte wie auch kollektive Emotionen und Zukunftserwartungen zurück. Aufgrund dessen wollte die badische Regierung nur zögerlich ihre Marktregulierungsprinzipien aufgeben. Denn der Fokus der badischen Beamten lag weniger auf der Ernährungskrise, sondern auf dem Staatshaushalt, weshalb sie erst am 21. April 1817 das erste Ausfuhrverbot verhängten und mit großen Getreideankäufen reagierten. Zu diesen Entscheidungen führten nicht nur zentrale Vorgaben und lokale Konstellationen, sondern besonders die sozialen Erwartungen und die lokalen Interessen. Daher war die Krisenpolitik der badischen Regierung zur Vermeidung von Aufständen eher symbolischer Natur und diente dem Auffangen emotionaler Stimmungen. Um dies zu verdeutlichen, ging Zimmermann auf die kommunikationsgeschichtlichen Aspekte ein, denn letztlich zwang die öffentliche Meinung die Regierung dazu, flexibler zu reagieren. Die Folgen der Tamborakrise für die württembergische Wirtschaftspolitik zeigte GERT KOLLMER-VON OHEIMB-LOUP (Hohenheim) auf. Diese Agrarkrise traf die württembergische Volkswirtschaft besonders hart. Um der Krise zu begegnen, wurden neben kurzfristigen besonders langfristige Ziele verfolgt, welche die volkswirtschaftlichen Strukturen des Landes verändern und den Ausbau der Industrie vorantreiben sollten. Als Mittel sollten die finanzielle Förderung von Gewerbe und Industrie durch die Regierung dienen sowie der Einsatz propagandistischer Maßnahmen. Um die Ziele schnell zu erreichen, wurden Vereine gegründet, wie etwa der Handels- und Gewerbeverein. Zudem verfolgte Wilhelm I. ab 1817 eine aktive Zollpolitik. Der König kann also keinesfalls nur als Förderer der Landwirtschaft gesehen werden, sondern auch als Visionär eines industrialisierten Württembergs. Diese Veränderungen hätten vermutlich auch ohne die Tamborakrise stattgefunden, so Kollmer-von Oheimb-Loup, wobei diese Agrarkrise katalytische Wirkung auf die staatlichen Reformen gehabt haben wird. Am Nachmittag referierte THORSTEN PROETTEL (Hohenheim) in seinem Vortrag über die Entstehung der Württembergischen Sparkasse, welche 1818 in Stuttgart auf Initiative von Königin Katharina als Maßnahme zur allgemeinen Verbesserung der Armut gegründet wurde. Proettel stellte die These auf, dass es im Zuge einer ab 1816 von Großbritannien ausgehenden Gründungswelle auch ohne das Engagement der Königin in den darauffolgenden Jahren zur Gründung einer vergleichbaren Institution in Württemberg gekommen wäre. Charakteristisch sei der Umstand, dass die württembergische Landessparkasse ausdrücklich Menschen mit geringem Einkommen zum Sparen anhalten wollte, damit diese bei einem erneuten Anstieg des Getreidepreises auf Geldreserven zurückgreifen konnten. Gleichzeitig verwies Proettel auf den sich entwickelnden Dualismus von Landessparkasse und regionalen Sparkassen. Zudem zeigte Proettel den Vorbildcharakter der Satzung der Württembergischen Landessparkasse für andere Sparkassengründungen in Wien und Nürnberg auf. JOCHEN KREBBER (Trier) charakterisierte das Jahr 1817 als Scharnierjahr der südwestdeutschen Auswanderung. So sei zum einen das Ende konfessionell geprägter Wanderungsmuster des 18. Jahrhunderts, weg von einer kontinentalen hin zu einer interkontinentalen Auswanderung mit Amerika als Hauptauswanderungsziel, zu erkennen. Zum anderen führte die Massenauswanderung infolge der Tamborakrise 1817 zum Zusammenbruch des sogenannten Redemptioner-Systems, das von einem System der freien Einwanderung abgelöst wurde. Darüber hinaus sei es zu einem Wandel in der Ein- und Auswanderungspolitik der Staaten gekommen: Seit 1817 erlaubte Württemberg seinen Untertanen die Auswanderung ohne Abzugsgeld und durch den Steerage Act wurde 1819 in den USA die Migration erstmals staatlich geregelt. Anschließend schilderte DANIEL KRÄMER (Bern) die Hungerkrise der Jahre 1816/17 in der Ostschweiz und verwies nicht nur auf die Not der Menschen, sondern auch auf die regionalen Unterschiede der Hungerkrise innerhalb der Schweiz. Krämer betonte die unterschiedliche wirtschaftliche Ausrichtung der Kantone sowie deren fehlende Zusammenarbeit bei der Bewältigung der Krise, sodass eine Getreideverteilung durch gegenseitige Kantonsperren verhindert wurde. Besonders stark betraf die Hungerkrise Gebiete mit einer Baumwoll-, Leinwand-, Seiden- oder Uhrenindustrie, da hier die Landwirtschaft zugunsten der Industrie zurückgegangen sei, weshalb Getreide 1816/17 teuer zugekauft werden musste. Krämer verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass die Krise von 1816/17 in der Schweiz eine doppelte Krise von Agrar- und Textilindustrie gewesen sei, welche durch die Folgen der vorangegangenen Koalitionskriege und Missernten verschärft worden war. Hinsichtlich des Aspekts der Kirche konnte für die Schweiz keine Bemühung eines strafenden Gottes im Sinne des Alten Testaments beobachtet werden. MARTIN UEBELE (Groningen) untersuchte die Auswirkungen der Agrarkrise 1816/17 auf die Getreidepreise in Europa, China und den USA. Während mithilfe der Comovement-Analyse ein Tambora-Effekt, welcher einen Anstieg der Preise bezeichnet, bei den Getreidepreisen der Jahre 1806 bis 1821 in Europa durchaus nachzuweisen sei, ist ein solcher Effekt für China nicht zu beobachten. Uebele stellte einen Widerspruch fest zwischen den Quellenberichten über eine Hungersnot in einigen chinesischen Provinzen, wie beispielsweise Yunnan, und einem gleichbleibenden Getreidepreis. Dieses Ergebnis bedürfe der weiteren Forschung und könne mit begrenzten regionalen Ernteausfällen und geringeren Temperaturanomalien in China zu begründen sein. Die zweite Sektion endete mit dem öffentlichen Abendvortrag von WOLFGANG BEHRINGER (Saarbrücken), der die globalen Auswirkungen des Tamboraausbruchs im April 1815 ausführte. Durch Besitzumschichtungen aufgrund von Missernten und Arbeitslosigkeit setzte bereits 1816/17 die Pauperisierung der Gesellschaft ein und nicht erst bedingt durch die Industrialisierung in den 1830er-Jahren - so die Kernthese Behringers. Zu den weiteren Folgen zählten Migrationsbewegungen, Unruhen und Proteste in Europa sowie Hexenverfolgungen in Südafrika. Um der Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken, wurden infrastrukturelle Maßnahmen initiiert, wie beispielsweise der Bau des Erie-Kanals in den USA, der die Erschließung neuer Gebiete ermöglichte. Zu den langfristigen globalen Auswirkungen zählte Behringer etwa den Niedergang des chinesischen Kaiserreichs, Indiens Selbständigkeitsverlust und Mfecane in Südafrika oder die Wiederherstellung der Ordnung und der Staaten Europas. Neben der Gründung von Zoll- und Handelsvereinen, der Verbreitung von Dampfschiffen und der Erfindung der Draisine ist auch die Errichtung von Spar- und Sterbekassen, welche unter dem Stichwort 'Hilfe zur Selbsthilfe' subsumiert wurden, als Entwicklung aus den Krisenjahren hervorgegangen. Die dritte Sektion zur Wahrnehmung der Krise und ihrer kulturellen Folgen wurde von GERD KOLLMER-VON OHEIMB-LOUP (Hohenheim) und PETRA KURZ (Stuttgart) moderiert. Wie die Ereignisse in den Jahren 1816 und 1817 in der zeitgenössischen europäischen Publizistik dargestellt und wahrgenommen wurden, stellte SENTA HERKLE (Stuttgart) zu Beginn des zweiten Konferenztages vor. Die untersuchten Pressegattungen geben Hinweise auf zeitgenössische Interpretationen für die Ursachen der Krise. Die Autoren des frühen 19. Jahrhunderts versuchten Kausalitätsketten herzuleiten, indem sie die vorangegangenen napoleonischen Kriege sowie die dürftige Ernte des Jahres 1815 und die Missernte des Folgejahres in einen gemeinsamen Kontext setzten und sie als Entstehungsursache für Armut und Teuerung deuteten. Zudem wurde deutlich, dass die einzelnen Gattungen unterschiedliche Themenfelder behandelten und sich an den Interessensgebieten der Rezipienten orientierten. Hervorgehoben wurde die Bedeutung der regionalen Regierungs- und Intelligenzblätter. SABINE HOLTZ (Stuttgart) widmete sich in ihrem Beitrag der Krisenbewältigung der evangelischen und katholischen Kirche im deutschen Südwesten. Die Auswertung von gedruckten Predigten verdeutlichte das Spannungsverhältnis zwischen den rational agierenden Amtskirchen und den traditionsverhafteten Gläubigen. Während die Kirchen die Hinwendung zu einem barmherzigen Gott lancierten und ihre Unterstützung auf fürsorgliche Hilfsmaßnahmen konzentrierten, war in der Bevölkerung immer noch der Glaube vorherrschend, der die Forderung nach Buß- und Bettagen implizierte. Erst nach der Überwindung der Krise, mit der feierlichen Einholung der Erntewägen im Jahr 1817, wurde die Krise seitens der Kirche thematisiert, sowie Deutungsversuche, die sich an traditionellen Mustern orientierten, unternommen. ANDREAS LINK (Augsburg), richtete seinen Schwerpunkt auf die religiösen Reaktionen infolge der Hungerkatastrophe in Bayrisch Schwaben. Die Beleuchtung der praktischen Beiträge der Pfarrer, die als Erfüllungsgehilfen der staatlichen Kontrolle agierten, ist hierbei elementar. Als Fallbeispiel zog Link die Aktivitäten des Dorfpfarrers Ignaz Lindl (1774-1845) heran, der als ein wichtiger Protagonist der chiliastischen Allgäuer Erweckungsbewegung in Süddeutschland hervortrat. In erste Linie griff die katholische Kirche im Königreich Bayern auf die traditionellen Mittel der Krisenbewältigung zurück und ordnete beispielsweise Buß- und Betstunden an. Gleichzeitig fand auch in Bayrisch Schwaben eine verstärkte Wohltätigkeit statt, während die Stiftungen für die Kirchen an Bedeutung verloren. MATTHIAS OHM (Stuttgart) erläuterte anhand von fünf ausgewählten Medaillen die Erinnerungskultur, welche auf die Erfahrungen aus und Überwindung der Krise folgte. Neben gewöhnlichen zweiseitigen Medaillen aus Metall erläuterte Ohm das Bildprogramm einer von Thomas Stettner gefertigten Steckmedaille, die neben der Gegenüberstellung von Hunger und Elend aus dem Jahr 1816 und der Ernte von 1817 auch Preisangaben der Krisenjahre auf Papiereinlagen enthielten. Die Funktion der Medaillen war zum einen Erinnerungsort, zum anderen dienten sie als Instrument, um Gott für die Rettung zu danken und die kommenden Generationen zu mahnen. Im letzten Vortrag untersuchte JOACHIM KREMER (Stuttgart) unter musikwissenschaftlicher Perspektive den Zusammenhang zwischen der Krise 1816/17 und der Komposition von Vampiropern, begleitet durch musikalische Hörbeispiele. Hierbei wurde herausgehoben, dass der Ursprung der Vampirfigur in der nordischen Mythologie zu finden sei. Im 19. Jahrhundert habe sie ihren Eingang zunächst in Melodramen und Erzählungen gefunden und sei erst durch den Transfer aus Pariser Opern durch Heinrich Marschners 'Der Vampyr' (1828) und Peter von Lindpaintners 'Der Vampyr' (1828) auch auf deutschen Opernbühnen gespielt worden. Beide Komponisten beziehen sich motivgeschichtlich auf John Polidoris 1816 entstandene Erzählung 'The Vampyre'. Durch die Schriftstellergruppe um Lord Byron verdeutlichte Kremer den Zusammenhang zwischen Byrons Dichtung und den Wetterphänomenen von 1816, wodurch er die Wechselbeziehung zwischen Wetter und Literatur bestätigt sah. Der Zusammenhang zwischen Wetter und Oper wurde aber der Literatur nachgeordnet. Den Höhepunkt der Vampirthematik in Opern der 1820er-Jahre erklärte Kremer durch die zeitliche Nähe zu den Erfahrungen in den Krisenjahren 1816/17. In der Abschlussdiskussion wurde nochmals die gelungene Interdisziplinarität und Medienvielfalt als Schwerpunkte der Tagung hervorgehoben. Besonders die Verknüpfung von Naturwissenschaft und Geschichte, wie auch von globaler Geschichtswissenschaft und Landesgeschichte waren inspirierend für alle Disziplinen. Die sich aus den Diskussionen ergebenden Fragen wurden von Sabine Holtz am Ende der Tagung zusammengefasst: Aus klimageschichtlicher Perspektive blieb offen, welchen Einfluss der Vulkanismus auf die Kleine Eiszeit hatte. Unter dem Aspekt der Wirtschaftsgeschichte ist die Frage, ob in der Landwirtschaft oder in der Industrie die dominanten Innovationen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu finden seien, noch nicht abschließend beantwortet. Daneben bleiben die religiösen Erwartungen von Laien und Amtskirche sowie deren Reaktionen weiter zu erörtern. Franz Mauelshagen ergänzte die offenen Punkte um das Defizit aus Sicht der Klimaforschung, wonach noch ein Mangel an systematischen Auswertungen regionaler Daten besteht, welche eine Unterscheidung von Klimawandel und -veränderung herbeiführen könnten. Zudem wäre im Hinblick auf die Wirtschaftsgeschichte eine Spezifizierung von Hunger und Teuerung als bisher allgemeine Kategorien wünschenswert. Konferenzübersicht: Sektion I: Der Ausbruch des Tambora. Globale und umweltgeschichtliche Folgen Franz Mauelshagen (Potsdam), Tambora. Der Krater der Geschichte und die Kleine Eiszeit Sektion II: Politische und wirtschaftliche Folgen Clemens Zimmermann (Saarbrücken), Hunger, Kommunikation und Emotionen. Krisenmanagement der badischen Verwaltung 1816-1818 Gert Kollmer-von Oheimb-Loup (Hohenheim), Das Jahr 1816 und die Folgen für die württembergische Wirtschaftspolitik Thorsten Proettel (Hohenheim), Die Sparkassen und das Jahr ohne Sommer. Entwicklungsschub und Weichenstellung als Reaktion auf die Krise Jochen Krebber (Trier), 1817 als Scharnierjahr der südwestdeutschen Auswanderung Daniel Krämer (Bern), "[...] haben die Kinder oft im Grase geweidet, wie Schafe". Die Hungerkrise 1816/17 in der Ostschweiz Martin Uebele (Groningen), Auswirkungen der Agrarkrise 1816/17 auf Getreidepreise in Europa, China und den USA Öffentlicher Abendvortrag Wolfgang Behringer (Saarbrücken), Der Ausbruch des Tambora im April 1815. Einfluss der Geologie auf die (menschliche) Weltgeschichte Sektion III: Die Wahrnehmung der Krise und ihre kulturellen Folgen Senta Herkle (Stuttgart), "Das erschöpfte Land sieht mir Sehnsucht nach Hülfe [...]". Die Krise im Spiegel der zeitgenössischen europäischen Publizistik Sabine Holtz (Stuttgart), "Vor Mißwachs, Frost und Hagelwolke Behüt uns aller Engel Schar". Religion und Kirche in Zeiten der Krise Andreas Link (Augsburg), Religiöse Reaktionen auf das Jahr "achtzehnhundertunderfroren" im Raum Bayrisch Schwaben Mattias Ohm (Stuttgart), "GROS IST DIE NOTH - O HERR ERBARME DICH". Medaillen auf die Hungersnot 1816 und den Erntesegen 1817 Joachim Kremer (Stuttgart), "Wie nach verderblichem Wettergetose [...]". Dunkle Welten auf der Opernbühne URL zur Zitation dieses Beitrages <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=6975> ------------------------------------------------------------------------ Copyright (c) 2017 by H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact H-SOZ-U-KULT(a)H-NET.MSU.EDU. ________________________________________________________________________ H-Soz-Kult: Kommunikation und Fachinformation für die Geschichtswissenschaften hsk.redaktion(a)geschichte.hu-berlin.de <http://www.hsozkult.de> -- |
Date: 2017/02/10 18:04:40
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>
Amerika ------------------------------------------------------------------------ Bremen, 05.11.2016 Übersee Museum Bremen WWW: <http://www.uebersee-museum.de/veranstaltungen/aktuelles/amerika/> Katalog: Ahrndt, Wiebke; Übersee Museum Bremen (Hrsg.): Amerika (= TenDenZen 2016. Jahrbuch XXIV). Bramsche: Rasch Verlag 2016. ISBN 978-3-89946-255-5; 180 S.; EUR 15,80. Rezensiert für H-Soz-Kult von: Sarah Ehlers, CHF/Beckman Center for the History of Chemistry, Philadelphia E-Mail: <sarahanjaehlers(a)gmail.com> Amerika im 21. Jahrhundert ist das Thema der neugestalteten Dauerausstellung im Bremer Übersee-Museum, die im November 2016 eröffnet wurde. Nach insgesamt drei Jahren Umbau ist mit ihr nun die letzte der Kontinent-Ausstellungen des Museums überarbeitet, so dass, wie die Direktorin Wiebke Ahrndt betont, den Besucher/innen wieder eine Reise um die Welt geboten wird. Eben dieses Anliegen, Gründungsdirektor Hugo Schauinsland formulierte es als "die Welt unter einem Dach", verfolgt das Übersee-Museum seit seiner Eröffnung 1896, als Sammlungen von Reichtümern, die Bremer Kaufleute aus der Ferne in die Hansestadt gebracht hatten, in Schaugruppen und Dioramen dem Publikum geöffnet wurden. Die Geschichte des Museums ist mit der Bremens eng verknüpft, der Umfang der Sammlungen und der imposante Bau nicht zuletzt aus Bremens Vergangenheit als Kolonial- und Überseehandelsstadt zu erklären. Besonders ist für den deutschen Kontext zudem die Kombination von Völker-, Handels- und Naturkunde in einem Haus. Bild: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/daten/2017/rezausstellungen-259--Abb1--public.jpg> Abb. 1: Außenansicht Übersee-Museum Bremen © Übersee-Museum Bremen, Foto: Matthias Haase Mit dem Beibehalten der traditionellen Kontinent-Struktur setzt sich das Museum von jüngeren Trends ethnologischer Ausstellungspraxis ab, vorwiegend thematisch zu strukturieren. Innerhalb der geographischen Sektionen (Asien, Afrika, Amerika, Ozeanien) gliedern allerdings thematische Blöcke das Material. Die Sektion "Erleben, was die Welt bewegt" ergänzt den kontinentalen Zugriff zudem mit Fragen zur Globalisierung. In dieser Aufteilung zeigt sich ebenso wie in den einzelnen Ausstellungen ein gestalterischer Zugriff, der insgesamt sehr traditionell wirkt, jedoch punktuell Kritik und Anregungen zu insbesondere ethnologischer Ausstellungspraxis aufnimmt. Deren Umsetzung allerdings - um die Leitthese dieser Rezension vorwegzunehmen - ist vielfach halbherzig und verkopft, so dass die Zuschauer/innen eher die Zielsetzung der Kurator/innen durchschauen, als dass der gewünschte Effekt auch tatsächlich eintritt. Die Amerika-Ausstellung nimmt beide Kontinente in den Blick und setzt dabei die Schwerpunkte auf die Länder USA, Brasilien und Mexiko. Die vier Kapitel "Einwanderung", "Religion", "Politik & Gesellschaft" und "Welthandel" sollen Amerika in seiner Vielfalt fassbar machen, indem sie Verbindungen, Parallelen und Unterschiede zwischen Nord und Süd herausstellen. Entsprechend der Tradition des Museums an der Schnittstelle von Ethnologie und Naturkunde gerät die Tier- und Pflanzenwelt dabei nicht aus dem Blick: So beschreibt die Einwanderungssektion Wege von Puritanern und Sklaven neben denen von Bison und Opossum während die Folgen des Welthandels für Bauern in Chiapas sowie für Ökosysteme des Amazonas diskutiert werden. Ein visueller Rahmen entsteht durch über 60 fotographische Portraits von Amerikaner/innen in Bremen sowie einer Serie von Natur-, Architektur- und Menschenaufnahmen von Kanada bis Brasilien. Zudem führen acht Filmportraits durch die Ausstellung, in denen Menschen aus den Schwerpunktländern über ihre Geschichte und ihr Leben reflektieren. Der Begleitband zur Ausstellung liefert kurze Essays zur Vertiefung einzelner Aspekte der vier Kapitel sowie zahlreiche Abbildungen ausgestellter Objekte. Bild: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/daten/2017/rezausstellungen-259--Abb2--public.jpg> Abb. 2: Bison im Bereich Einwanderung © Übersee-Museum Bremen, Foto: Matthias Haase Am Anfang der Ausstellung steht die Auseinandersetzung mit Immigration nach Amerika. Hier gibt die Darstellung der Einwanderungsschübe seit 1492 die Perspektive, um die im Folgenden erörterten Phänomene aus Kultur, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft zu verstehen. Historisch stehen Immigration aus Europa, Landkonflikte, die Indianerkriege, Sklaverei und Plantagenwirtschaft in knappen Abhandlungen zur Diskussion und werden mit vergleichsweise wenigen, aber ausführlich kommentierten Objekten illustriert. Eine irokesische Perlenstickerei wird beispielsweise hinsichtlich ihrer einzelnen europäischen und indianischen Einflüssen entschlüsselt; ein Brandeisen ist nicht nur ein voyeuristisches Accessoire zur Darstellung der Sklaverei, sondern wird als Instrument benannter Sklavenbesitzer beschrieben und durch eine Aufstellung ihrer Vermögensverhältnisse kontextualisiert. Auch die Objekte aus Mittelamerika erzählen eine gewaltsame Geschichte der Einwanderung: Masken aus Guatemala verarbeiten Eroberung und Zerstörung durch die Kolonisatoren im 16. Jahrhundert, Handwerksgegenstände illustrieren Ausbeutung und zerstörte Lebensgrundlagen. Das zweite Kapitel der Ausstellung beschreibt die Suche europäischer Auswanderer nach religiöser Freiheit, um dann Schlaglichter auf verschiedene Religionen zu werfen. In sämtlichen Abhandlungen betonen die Kurator/innen Verschmelzungen verschiedener Einflüsse und Traditionen, was das Religiöse an das vorherige Kapitel bindet. Der Kult um die Jungfrau von Guadeloupe beispielsweise dient als historisches Prisma, an dem sich Konjunkturen jahrhundertelanger religiöser und nationaler Identitätssuche Mexikos erkennen lassen. Vodou-Objekte wie die kunstvoll verzierten Pakés öffnen den Blick darauf, wie verschleppte Sklaven in der Karibik spirituelle Praktiken unter dem Deckmantel des Katholizismus fortsetzten und diese Geschichte der Unterdrückung und Unterwanderung die soziale Funktion der Religion im heutigen Haiti prägt. Anhand des Sonnentanzes der Plains-Indianer wird der Kampf um kulturelle Aneignung in den USA diskutiert. Filmausschnitte aus Megakirchen, kreationistische Kinderbücher, Spielzeug wie Bibelbingo und Jesus-Actionfiguren sowie Anti-Darwin-Accessoires repräsentieren Evangelikale in den USA, während eine Portraitserie sämtlicher Kirchen im US-amerikanischen Bremen, Indiana, protestantische Lebenswelten veranschaulicht. Die Ausstellungsmacher/innen betonen anhand der Kleinstadt im Mittleren Westen die soziale Funktion der Kirche, die sie mit dem Fehlen eines staatlichen Sozialnetzes begründen und mit einer monotonen Videoendlosschleifenfahrt durch die Tristesse der Stadt illustrieren. Bild: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/daten/2017/rezausstellungen-259--Abb3--public.jpg> Abb. 3: Sonnentanzaltar im Bereich Religion © Übersee-Museum Bremen, Foto: Matthias Haase Der dritte Bereich "Politik und Gesellschaft" bietet ein Potpourri aus gesellschaftlichen Impressionen von Nationalfesten, Wochenmärkten, Highways, Kleidung und mehr. Bei den Besuchern beliebt ist die Vitrine mit Handfeuerwaffen, die das Second Amendment illustriert. In Bezug auf Lateinamerika stehen Fragen des gesellschaftlichen Friedens und der sozialen Gerechtigkeit im Mittelpunkt, die durch Schautafeln zur US-mexikanischen Grenze und Dollardiplomatie Fragen zum Nord-Süd-Verhältnis aufwerfen. Den Bezug zu Deutschland und Bremen stellt die Auseinandersetzung mit der Familie Klee-Ubico als Beispiel von Machteliten in Guatemala dar. Das einflussreiche Familienbündnis geht zurück auf das 19. Jahrhundert und den Geschäftsmann und Generalkonsul der Hansestädte in Mittelamerika Carl Friedrich Rudolf Klee. Nach Aufbau eines Farbstoff-Handelsimperiums stieg die Familie später - wie so viele deutsche Einwanderer - in den Kaffeehandel ein, wovon in erster Linie Bremer und Hamburger Handelshäuser profitierten. In den 1930er-Jahren ermöglichte die Verbindung mit der Ubico-Familie es dem Diktator Jorge Ubico Castañeda sich auf ein breites Netzwerk zu stützen, deren Nachkommen noch heute über politische Posten und beträchtlichen Landbesitz verfügen. "Welthandel", das Schlusskapitel der Ausstellung, sucht anhand der Themen Kaffee, Mais, Soja, Rinderzucht, Erdöl und Silber eine globale Rahmung und diskutiert inneramerikanische Gefälle und Abhängigkeiten. Hier ist mit dem Fokus auf Flächenverbräuche, Ökosysteme, Biodiversität und indigene Lebensgrundlagen die Verzahnung zwischen natur-, volks- und handelskundlicher Fragestellungen am besten gelungen. Mais in Mexiko beispielsweise verweist auf die negativen Folgen von NAFTA für die mexikanische Wirtschaft, auf den symbolischen Wert der Pflanze in der Mythologie und auf die ökologischen Folgen des Anbaus von Monokulturen. Zusammengenommen lässt die in weiten Teilen kritische und gelungene Schau somit ein deutliches Bemühen erkennen, aktuelle Postulate ethnologischen Ausstellens aufzunehmen. Davon zeugt der sparsame Umgang mit Objekten bei gleichzeitig mühevoller Kontextualisierung, die wiederkehrende Verknüpfung des Ausgestellten mit eigener, hier Bremer, Geschichte, der Versuch, indigene Lebenswelten nicht statisch und in Isolation, sondern in Aushandlung (beispielsweise mit Europäern) zu thematisieren sowie die Übertragung der Deutungshoheit über die gezeigten Objekte an Vertreter ihrer Kultur. Eines der Probleme der Umsetzung ist allerdings, dass sie in weiten Teilen nicht zu fesseln vermag. Objekte fremder Kulturen unter Glas auszustellen, um sie dann mit ausführlichen, schulbuchartig strikten Interpretationen zu ergänzen, ist ein zu zaghafter wie durchschaubarer Versuch des Blickwechsels. Damit verbunden ist das altbekannte Problem (ethnologischer) Ausstellungen, dass Besucher/innen häufig stärker am Objekt als am Kontext interessiert sind. Diesen Kontrast erlebte ich beim anschließenden Besuch des Schaumagazins, wo ein Großteil der 1,2 Millionen Objekte aus der Sammlung des Museums auf engem Raum und nur mit spärlichsten Informationen versehen gezeigt wird - und wo das Publikum auf einmal begeistert staunte. Ebenfalls eine Kopfgeburt ist der Versuch einen Perspektivwechsel zu erreichen, indem portraitierte Amerikaner/innen selbst Auskunft geben dürfen, was für sie das Entscheidende am Leben in Amerika ist. Die kurzen Statements an den Wänden der Ausstellung zeigen eine bemühte Vielfalt erwartbarer Stichworte von Familie, Natur, Selbstverwirklichung zu Armut, Gewalt und Diskriminierung, ändern in ihrer Oberflächigkeit die Blickachse aber keineswegs. Die Videoportraits dagegen sind zwar in ihrer Begrenzung auf acht Personen selektiv und in der Darstellung etwas sperrig, geben aber in der Tat Deutungsmacht ab. Ernie LaPointe, Urenkel von Sitting Bull, kann beispielsweise seine - durchaus kontroverse - Interpretation zur Rolle des Lakota-Häuptlings darlegen und Reservate als Konzentrationslager bezeichnen, ohne dass Kommentare seinen Auftritt einhegen. Was völlig fehlt, ist zudem die Frage nach der eigenen Perspektive. Die Ausstellung ist insgesamt sehr US-kritisch, was anhand der Themen vielleicht nicht verwundert, ohne Thematisierung deutscher Amerika-Faszination und -Klischees und von Antiamerikanismus aber schablonenhaft wirkt. Möglichkeiten dazu, wie auch zur Auseinandersetzung mit deutscher Lateinamerika-Romantik, hätte es zahlreiche gegeben. Allein das Interesse, das Ernie LaPointe bei seinen Besuchen in Bremen von Presse und Öffentlichkeit entgegengebracht wird, wäre hierzu eine Steilvorlage gewesen. Zur Verschleierung der eigenen Perspektive gehört zudem, dass - obwohl seit Jahrzehnten und in verschiedensten Tonarten an ethnologische Museen herangetragen - der Weg der ausgestellten Objekte in die Sammlungen kein Thema ist.[1] Dass das Übersee-Museum momentan an einer eigenen Ausstellung zur Geschichte seiner Objekte arbeitet, ist zwar zu begrüßen, als Einwand allerdings etwas schal. Selbstverständlich zielte die Kritik nicht darauf ab, die Auseinandersetzung mit der Sammlungsgeschichte in Sonderausstellungen oder Veröffentlichungen auszulagern, sondern die Ausstellungspraxis selbst zu verändern. Anmerkung: [1] Siehe stellvertretend: Christina F. Kreps, Liberating Culture. Cross-Cultural Perspectives on Museums, Curation and Heritage Preservation, London 2003. |
Date: 2017/02/10 18:05:43
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>
Barock - Nur schöner Schein? ------------------------------------------------------------------------ Mannheim, 11.09.2016-19.02.2017 Reiss-Engelhorn-Museen, Mannheim Katalog: Wieczorek, Alfred; Lind, Christoph; Coburger, Uta (Hrsg.): Barock - Nur schöner Schein? Mannheim: Schnell & Steiner 2016. ISBN 978-3-7954-3111-2; 232 S.; 34,95 EUR. Rezensiert für H-Soz-Kult von: Louis Delpech, Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg E-Mail: <louis.delpech(a)zegk.uni-heidelberg.de> Was haben ein Himmelsglobus von 1601, die Frankfurter Ausgabe von Galileis "Sidereus Nuncius" aus dem Jahr 1610, ein Grundstückregister der Stadt Mannheim von 1663, eine Meißner Teedose der 1720er-Jahren, eine Brille mit grünen Gläsern und eine Kutschenuhr aus dem 18. Jahrhundert miteinander zu tun? Dieses Sammelsurium könnte zwar aus dem Inventar einer Wunderkammer des späten 18. Jahrhunderts kommen, aber derzeit und noch bis zum 19. Februar 2017 werden diese sechs Objekte zusammen mit vielen anderen in einer Sonderausstellung in den Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim gezeigt. Die sehr gut besuchte und in der Presse einhellig gefeierte Ausstellung soll laut der Präsentationsbroschüre "die Epoche erstmals in ihrer ganzen Vielschichtigkeit" vorstellen und damit beweisen, dass der Barock nicht nur grandiose Paläste, pompöse Fürsten, üppige Frauen oder glänzende Bilder zu bieten hatte, sondern auch eine Zeit voll seltsamer und heterodoxer Erfindungen, sozialer Widersprüche und geistiger Spaltungen war. Die zu entdeckenden Rück- und Schattenseiten des Barock werden hier in sechs Bereiche aufgeteilt, die weniger bekannte Facetten der Epoche aufdecken sollen: Raum, Körper, Wissen, Glaube, Ordnung und Zeit. Zwar werden die neuesten Tendenzen der historischen Forschung leider an keiner Stelle von den Kuratoren ausdrücklich thematisiert, doch ist ihr Einfluss trotzdem an mehreren Stellen sichtbar: die Thematik einer frühen Globalisierung oder einer Eroberung des Raumes im ersten Bereich weist auf eine Art von Global History hin, der Bereich über den Körper wird offenbar stark von den Gender Studies beeinflusst, und die jüngsten Entwicklungen der Wissensgeschichte - mit einem wachsenden Interesse für konkurrierende, gesellschaftlich produzierte und manchmal okkulte Formen von Wissen - sind im Bereich "Wissen" treffend abgebildet. In jedem Kapitel der Ausstellung werden zahlreiche Gemälde, Bücher und Objekte vorgestellt, die größtenteils aus den Sammlungen der Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen, der Universitätsbibliothek Heidelberg und des Kunsthistorischen Museums in Wien kommen. Auch wenn die dunkle Seite der Epoche hier im Mittelpunkt stehen soll, wäre es vielleicht wünschenswert, dass die Säle nicht allzu sehr in einem barocken Chiaroscuro gehalten und die Texte wie auch einige Werke besser ausgeleuchtet wären, damit Besucher nicht auf die Idee kommen müssen, mit iPhone als Beleuchtung durch die Ausstellung zu gehen. Aus der Wiener Sammlung kommen zweifellos einige der schönsten Werke der Ausstellung - unter anderem ein atemberaubendes Gemälde von Rembrandt, auf dem der Apostel Paulus sich aus dem Schreiben zu den Zuschauern hinwendet, ein manieristischer Engelssturz des Cavaliere d'Arpino, eine lesende Frau von Rubens und eine badende Susanne mit den Alten von Jacob Jordaens, die ein interessantes Pendant zu den Werken von Tintoretto oder van Dyck bietet. Die Kopie des Heiligen Sebastian von Guido Reni, ebenfalls aus Wien, ist auch wunderschön, hätte aber in die christliche Tradition eines 'süßen Leidens' und einer impliziten Sublimierung von homosexuellen und sadomasochistischen Tendenzen besser eingeordnet werden können. Insgesamt ist die Ausstellung somit sehr innovativ gestaltet: Ihr Material besteht nicht nur aus kanonischen Meisterwerken der Kunstgeschichte, sondern auch aus manchen gedruckten Quellen, Büchern, Flugblättern oder Kupferstichen, sowie aus schönen oder schrecklichen, gewohnten oder unheimlichen Objekten der Zeit. Viele spannende und in klassischeren Ausstellungen kaum zu sehende Exponate werden dem Zuschauer vorgestellt: natürlich manche exotisierende Meißner und Frankenthaler Porzellane aus den Mannheimer Sammlungen, sehr schöne Himmels- und Erdgloben, ein Reiseschreibtisch des Herzogs von Sachsen-Meiningen, eine Miniatur der Grabeskirche in Jerusalem, aber auch ein frühes Mikroskop von Antoni van Leeuwenhoeck oder ein kurioser Christus anatomicus, der eine scheinbar harmlose und orthodoxe Frömmigkeitspraxis mit dem Interesse an menschlicher Anatomie überraschend kombiniert. Einige Kunstwerke aus den letzten Jahren, die mit barocken Klischees oder Techniken spielen, werden überzeugend als zeitgenössische Pendants vorgestellt. Ihre Ausstellung inmitten der anderen Werke hat wahrscheinlich einen (gelungenen) Verfremdungseffekt zum Ziel, bleibt aber oft etwas unreflektiert und von daher problematisch: Was heutige Künstler mit dem Barock machen ist einerseits (auch qualitativ) sehr heterogen und sollte nicht unbedingt auf derselben Ebene wie die historischen Werke gezeigt werden. In jedem Raum stehen auch kleine Stände, an denen Kinder mit Gewürzen aus der Neuen Welt oder Mikroskopen dem Spaß und der Freude am Experimentieren freien Lauf lassen können. Eine multimediale Erfahrung wird zudem durch Musikbeispiele geboten, die an bestimmten Punkten der Ausstellung über Kopfhörer angehört werden können. Insgesamt bemühen sich die Präsentationstexte offensichtlich, den Zuschauer nicht zu sehr mit Daten, Fakten oder langen didaktischen Erklärungen anzustrengen. Nach dem Motto "Barock muss nicht langweilig sein" stellt diese Ausstellung einen lobenswerten Versuch dar, Kunst zu demokratisieren und Wissen zu popularisieren. "Barock - Nur schöner Schein?": Es bleibt allerdings die Frage, ob eine provokant anmutende rhetorische Frage ohne Weiteres als Konzept für die Zusammenstellung von allerlei Objekten und Kunstwerken ausreicht, oder ob aus mangelnder Historisierung und Kontextualisierung hier nicht vielmehr das Risiko entsteht, vermeintlich alte Vorurteile durch neuere, aber ebenfalls unbegründete und pauschale Klischees zu ersetzen. Es ist in der Tat sehr auffällig und oft verwirrend, dass sowohl die Kommentare als auch die Anordnung der Werke und Objekte sich offenbar jenseits von Chronologie und Geographie bewegen, mit nur seltenem Bezug auf konkrete Akteure oder Ereignisse - also auf einer konzeptuellen Ebene, die extrem breite Themen schön und leicht berührt, aber dafür jede Art von klarer Kontextualisierung oder nuancierter Periodisierung verweigert, und schließlich alle Regionen, Sprachen, Kulturen, Ereignisse und Perioden in einen allgemeinen Diskurs zwingt. Dieser konzeptuelle Mangel ist an mehreren Stellen sichtbar. Schon der chronologische Rahmen der Ausstellung - die gesamte Zeit von 1580 bis "ca." 1770, wie man im ersten Raum erfährt, ohne irgendeine Art von geographischer Abgrenzung - ist unbequem und kann kaum mit dem Etikett 'Barock' konsequent erfasst werden. Dass das Barockzeitalter erst im 19. Jahrhundert erfunden wurde, nicht nur vom europäischen Adel bestimmt war und eine Myriade von Realitäten umfasst, wäre eigentlich als Schulwissen zu erwarten. Um diesen Begriff wirklich dekonstruieren zu können, bräuchte der Zuschauer aber eine differenzierte Reflexion über prägnante Ereignisse, lokale Konstellationen, intellektuelle oder künstlerische Tendenzen, sowie über andere, ebenfalls problematische Begriffe oder mögliche Gegenmodelle - wie zum Beispiel 'Renaissance', 'Aufklärung' oder 'frühe Neuzeit'. Der reichliche Gebrauch von Anführungszeichen in den Kommentaren - eine "barocke" Figur, ein "barockes" Thema - lässt sowohl das Unbehagen der Kuratoren am Begriff erkennen als auch ihre Unfähigkeit, ihn zu überwinden. Das Ergebnis ist ein in mancher Hinsicht recht unverdauliches Patchwork von Werken, die wenig miteinander zu tun haben, außer vielleicht den praktischen Kontingenzen der Ausstellung. Problematisch ist leider auch der Platz der Musik in der Ausstellung: ein paar zumeist sehr berühmte Musikwerke werden hie und da als Hörproben zur Verfügung gestellt, ohne jegliche Erklärung zu Entstehungskontext oder Rezeptionsgeschichte. Auch wenn sich Musiker und Musikwissenschaftler an die Idee haben gewöhnen müssen, dass die klassische Musik mehr und mehr als Geräuschkulisse für kulturelle Ereignisse fungieren muss, wird man wohl zugeben müssen, dass Claudio Monteverdi, François Couperin oder Georg Friedrich Händel kaum ohne Weiteres als Vertreter einer einheitlichen Musikbewegung gesehen werden sollten und ihre gemeinsame Präsenz in der Ausstellung zumindest eine kurze Erklärung verdient hätte. Es ist zu bedauern, dass ausgerechnet die Mannheimer Schule, die sich während der Regierungszeit des Kurfürsten Carl Theodor in der Zusammenarbeit vieler europäischer Musiker entwickelte und in der Musikgeschichtsschreibung sehr oft als Muster einer sogenannten Übergangsphase zwischen Barock und Klassik diskutiert wird, hier in Mannheim völlig unerwähnt bleibt, obwohl sie eine sehr gute Gelegenheit für eine Problematisierung des Begriffs 'Barock' geboten hätte. Auf formaler Ebene ist auch die Entscheidung zu beklagen, einige Werke nur in Form von photographischen Reproduktionen zu zeigen. Das betrifft unter anderem das Gemälde einer Regensburger Kunstkammer von Joseph Arnold aus dem Ulmer Museum, das hier nur als Photographie in einer schockierend schlechten Auflösung gezeigt wird - obwohl das Thema des Bildes womöglich ein guter Leitfaden der Ausstellung hätte sein können: Wo und wann erscheinen erstmals solche Wunderkammer? Inwieweit können sie als Versuch verstanden werden, die Geheimnisse einer erschlossenem Welt zu domestizieren? Was verraten sie über die Weltanschauung, die gesellschaftliche Stellung und die wissenschaftliche Ansprüche ihrer Besitzer? Derartige Fragen werden hier allerdings noch nicht einmal gestellt. Das intellektuelle Projekt dieser Ausstellung ist damit zwar reizend und spannend, seine praktische Umsetzung aber letztlich nicht befriedigend. Statt sich dezidiert mit den jüngsten Tendenzen der Historiographie auseinanderzusetzen und die Komplexität des Zeitalters anhand konkreter und gut kontextualisierter Beispiele zu zeigen, produziert die Ausstellung einen eher pauschalen und unhistorischen Diskurs über vermeintliche Merkmale einer Epoche, die nicht gründlich definiert und hinterfragt wird. Hinter solchen Schwierigkeiten verbergen sich letztlich die Gefahren einer Kulturwissenschaft, die sich zu stark von der Geschichte löst. |
Date: 2017/02/12 10:48:18
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>
Den 1. Beitrag des Ehepaares Dr. Maria und Thomas Blesse über die historischen Karten des Bohnentales und der Umgebung auf über 40 Seiten bescheinigte er eine besonders gute Arbeit bezüglich der Beschreibung und Sortierung der alten Karten vom 15.Jahrhundert bis 1878.
Beitrag 2 vom bereits verstorbenen Ignatz Dieudonné, ehemaliger Ortsvorsteher in Scheuern von 1984- 94, ist ein Manuskript, das er noch zu Lebzeiten geschrieben hat und in Teilen schon im Heimatheft Nr. 4 aus 2008 veröffentlicht ist. Josef Brachmann hat es überarbeitet und auf den neuesten Stand gebracht. Der Beitrag beschäftigt sich mit der Saarpolitik und dem Zeitgeschehen von 1814 bis heute. Hauptsächlich wird die Zugehörigkeit der Bohnentalorte zur Amtsbürgermeisterei Tholey und dem Kreis Ottweiler untersucht.
Im Beitrag 3 „Vom Bauern zum Bergmann: Arbeits- und Lebensverhältnisse“ von Alois Johann untersucht und beschreibt er die Situation der Menschen im Bohnental. Viele Fragen, die sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgetan haben, versucht er zu beantworten. Warum gab es so viel Armut und Hungersnot, wie sollten die Menschen dem entgegen wirken? Jos Arno Graf konnte beispielhaft an Hand von Erzählungen und Erlebnissen seines Großvaters, der auch Bergmann in dieser Zeit war, diese Armut und Abhängigkeit bestätigen Missernten, Kleinparzellierung, karge Böden und Überbevölkerung waren Ursachen der Armut in unserem Land. Viele Bewohner sahen nur die Möglichkeit, ihr Hab und Gut zu verkaufen und in fremde Länder, wie Nord- u. Südamerika, auszuwandern. Allein aus dem Bohnental waren das mehr als 35 Familien und 55 Einzelpersonen, die Alles hinter sich ließen und in einem neuen Land von vorne anfingen.
Gottseidank gab es für die Daheimgebliebenen zunehmend Arbeit auf den immer größer werdenden Steinkohlengruben und Hüttenwerken im südlichen Saarland. Aber welche Strapazen, Schikanen durch Preußenbeamten, Lebensbedingungen, Gefahren und sozialen Problemen damit verbunden waren, kann sich heute keiner mehr vorstellen. Es gab keinen 8-Stundentag, normalerweise wurde an 300 Tagen im Jahr von Montag bis Samstag zwischen 10 und 12 Stunden gearbeitet. Einen Arbeitsschutz wie heute kannte man nicht. Wer weiß denn schon, daß von 1846 bis 1986 mehr als 1132 Bergleute durch Grubenunglücke und allein von 1935 bis 1997 noch 1640 Menschen durch Unfälle im Bergbau im Saarland ums Leben kamen. Starke Gewerkschaften, die es heute gibt und die sich um die Belange der Arbeitnehmer kümmern, waren nicht vorhanden.
Beitrag 4 von Josef Brachmann beschäftigt sich mit der Geschichte der St. Barbara-Bruderschaft Bohnental „einer christlich-sozialen Solidargemeinschaft im Lichte des ausgelaufenen Bergbaus“ von der Gründung 1880 bis zur Auflösung im Jahre 2010. Der Zweck und die Gründung werden hier ausführlich beschrieben.
Josef Brachmann beschreibt im Beitrag 5 den geschichtlichen Ablauf des Bergbaus an der Saar von den Anfängen bis zur Schließung des letzten Bergwerks Saar am 30.06.2012. Am Ende seines Beitrages gibt er auch noch Informationen zum neuen Wahrzeichen auf der Bergehalde in Ensdorf. Der Verein „Bergbauerbe Saar“ hat das neue Saarpolygon, wie es genannt wird, im Jahre 2016 aufbauen lassen und im Herbst des letzten Jahres wurde es eingeweiht. „Heute ist es selbstverständlich, wenn man den Wasserhahn aufdreht, daß ein sauberes und hygienisch einwandfreies Grundnahrungsmittel dort heraus kommt“, so ArnoJos Graf zur Einleitung zum 6. Beitrag, der sich mit der Wasserversorgung der Bohnentalorte befasst. Rüdiger Holz aus Hasborn beleuchtet zuerst die Entstehung des Wasserzweck-verbandes Bohnental, wie sie seit 1951 gewachsen ist. Holz beschreibt auch die Situation mit Keimbelastungen und deren Abhilfeschaffung durch Chloranlagen im Bohnental. Letztendlich führt es zur Aufgabe der Frischwasserbrunnen im Bohnental und zum Anschluss 1972 an die Wasserversorgung Ost im östlichen Saarland. In den einzelnen Beiträgen von Edwin Warken und Alois Johann wird die Wasserversorgung über Brunnen und Pütze bis zur Sammel-versorgung in den Ortschaften und den späteren Anschluss an größere Gebietseinheiten dargestellt. Den Abschluss des Heimatheftes bildete ein Vortrag von Bürgermeister Hermann Josef Schmidt „Ich bin ein Scheuerner Rentner – ich hab` Zeit“, den er aus Anlass eines Seniorentages in Scheuern im Jahre 2012 gehalten hat. Musikalisch wurde der Abend von den „Großen des Jugendchores der Pfarreiengemeinschaft Schmelz“ unter der Leitung von Reiner Vogel gestaltet.
Das Heft ist für 10 €uro beim 1.Vorsitzenden Edwin Warken, Tel. 06888/8641 zu erwerben.
Quelle: https://www.bohnental.de/abc_print.php?id=4507
Date: 2017/02/12 15:31:00
From: maryse rupp <maryse.rupp(a)sfr.fr>
Date: 2017/02/12 23:26:23
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>
Guten Abend, wer vielleicht meint, das Buch sei mit 199 Euro teuer - nun, der schaue sich die Karten an. Ich habe für meine Ausgabe vor 20 Jahren gut 200 Mark bezahlt, wobei allerdings jedes Kartenblatt in Originalgröße abgebildet ist. Etwas sperrig. Aber ich noch heute immer fasziniert davon. Eins der Bücher, die mich immer Zeit kosten - das andere ist Ballards Buch über die Titanic. Roland Geiger --------------------- Rathmann, Michael: Tabula Peutingeriana. Die einzige Weltkarte aus der Antike. Darmstadt: Philipp von Zabern Verlag 2016. ISBN 978-3-8053-4999-4; 112 S.; EUR 199,00. Rezensiert für H-Soz-Kult von: Frank Schleicher, Institut für Altertumswissenschaften, Friedrich-Schiller-Universität Jena E-Mail: <Frank.Schleicher(a)uni-jena.de> Es ist nicht selbstverständlich, dass in unserer Zeit, die doch weitgehend durch elektronische Dokumente geprägt ist, ein solches Buch erscheint. Die Forschung zur Tabula Peutingeriana hat zwar eine lange Tradition, und es sind auch einige Werke erschienen, die dem Leser maßstabsgetreue Abbildungen der Karte bieten. Heute sind solche Werke jedoch wegen der hohen Herstellungskosten und der damit verbundenen geringen Anzahl gedruckter Exemplare oft nur noch schwer zu greifen.[1] Umso erfreulicher ist es da, dass Michael Rathmann nicht die Ansicht Richard Talberts teilt, der noch vor sechs Jahren meinte, eine gedruckte Ausgabe der Kartenteile sei heute nicht mehr nötig, weil doch die elektronische Bereitstellung vorteilhafter und günstiger sei.[2] Mit dem vorliegenden Band will Rathmann im Gegenteil dem Leser den ästhetischen Genuss bereiten (S. 31), den nur die Betrachtung gedruckter Karten bieten kann. Außerdem wird die Tabula durch diese Publikation einer breiten Öffentlichkeit zugänglicher.[3] Das Buch besteht aus zwei Teilen: einer Einführung und dem Kartenteil. Obwohl die Ausgabe keinen wissenschaftlichen Kommentar bietet, ist die Einleitung doch solide und fundiert. Zunächst beschreibt Rathmann die Handschrift selbst und deren Geschichte seit dem 'Fund' zu Beginn des 16. Jahrhunderts (S. 6-8). Hier findet sich eine beeindruckende Collage der heute getrennten Pergamentblätter in verkleinerter Form, die einen Eindruck von den Dimensionen der Karte vermittelt. Im zweiten Abschnitt (S. 8-12) verortet der Autor die Tabula in der antiken Kartographiegeschichte, wobei auch die Forschungsdiskussion zum Thema Berücksichtigung findet. Rathmann löst sich hier von der traditionellen Vorstellung, die Tabula beruhe auf der berühmten Weltkarte des Agrippa, um im folgenden Abschnitt (S. 12-14) seine eigene Theorie ausbreiten zu können. Hier präsentiert er die Ergebnisse seiner Forschungen der letzten Jahre und zeigt, dass die Tabula auf Vorgänger aus hellenistischer Zeit zurückgeht.[4] Diese These hat sich in den letzten Jahren in der Forschung zunehmend durchgesetzt. Im vierten und fünften Abschnitt (S. 15-17) ordnet der Autor die Tabula in die antike Geographiegeschichte ein. Die zentrale Aussage ist hier, dass es sich nicht um ein selbstständiges Kartenwerk handelt, dass der antiken Geographie entstammt, sondern um eine Illustration zu einem chorographischen Text. Der sechste Abschnitt (S. 16-20) präsentiert neuere Funde, durch die sich das Wissen um die Tabula ergänzen lässt. Besonders prominent ist hier die Karte des Pellegrino Prisciani (1435-1518). Diese basiert nämlich auf einer cosmographia vetustissima, die jener im Vorzimmer des Bischofs von Padua gesehen hatte (S. 18). Allem Anschein nach hat es sich hier um eine Karte vom selben Typ wie die Tabula Peutingeriana gehandelt. Im 15. Jahrhundert gab es also noch mehrere solche Karten. Im siebten Abschnitt (S. 20-25) behandelt Rathmann die Veränderungen, die die Tabula durch das fortwährende Kopieren erfahren hat. Im Zuge dieses Reproduktionsprozesses veränderten sich die Beschriftungen auf der Karte. Immer mehr Hellenistisches ging verloren und neue oder veränderte Informationen wurden hinzugefügt, bis die Karte um 435 ihre letzte antike Redaktion erfuhr. Der kurze achte Abschnitt (S. 26) fragt danach, wer in der Antike eine solche Karte besessen hat. Rathmann glaubt, dass es vor allem Senatoren waren, in deren Bibliotheken sich solche Karten befanden.[5] Nicht für die öffentliche Präsentation, sondern den privaten Gebrauch seien solche Karten geschaffen worden.[6] Der neunte Abschnitt (S. 27-29) behandelt die Techniken, mit denen die Karte gezeichnet wurde. Hier versucht der Autor die verzerrte Darstellung zu erklären und mittels 'Achsen' eine Systematik in die Karte zu bringen. Zudem erklärt er, warum sich im Laufe der Zeit die Beschriftung zwar veränderte, die gezeichnete Karte aber weitgehend gleichblieb. Im zehnten Abschnitt (S. 29f.) behandelt der Autor schließlich das Straßennetz. Er kann einige Belege dafür anbringen, dass an der Tabula mehrere Zeichner und Schreiber gearbeitet haben, sie also nicht das Werk eines einzelnen Kopisten war. Abschnitt elf (S. 30f.) beschäftigt sich dann mit den Vignetten. Bisher sind alle Versuche gescheitert, historisch zu erklären, warum die Vignetten mancher Städte (etwa Antiochia oder Thessalonica) so groß ausfallen, während andere bedeutende Orte (etwa Mailand oder Trier) nicht in dieser herausragenden Form verzeichnet sind. Der Autor bringt diese nun mit seiner Theorie einer stufenweisen Entwicklung der Beschriftung von der hellenistischen Zeit bis in die Spätantike zusammen und glaubt damit eine mögliche Erklärung gefunden zu haben: Im Laufe der Antike hatten zahlreiche Städte ihre 'große Zeit', die sich durch entsprechend große Vignetten auf der Tabula manifestierte (S. 31). In jeder Stufe konnten Orte beibehalten oder auch weggelassen werden. Ein letzter kurzer zwölfter Abschnitt (S. 31) geht schließlich noch auf die mittelalterlichen Kopisten ein. Diese hatten das Material ihrer Vorlage wohl exakt dimensioniert, dass die Zeichnung 1:1 übertragen werden konnte. Interessant ist hier die Beobachtung, dass die Qualität und Sorgfalt der Kopisten von Westen nach Osten abnahm. Der zweite, umfangreichere Teil des Buches enthält Abbildungen der Karteteile (S. 33-99). Da ein Abdruck der einzelnen Pergamentblätter im Ganzen für heutige Buchformate nicht möglich ist, wurden sie jeweils gedrittelt. Jedes Teil nimmt eine Doppelseite in Anspruch, wobei immer auf der rechten Seite die Farbaufnahme und auf der linken eine monochrome Version mit einigen Kommentaren gegeben wird. Zur Orientierung des Lesers, gibt es in der linken unteren Ecke einen Apparat, der anzeigt, auf welchem Blatt und in welchem Drittel man sich jeweils befindet. Die Abbildungen sind von sehr guter Qualität. Neben der linken Karte befindet sich jeweils eine Spalte mit Namen und Plätzen, die mit Linien auf Angaben in der Tabula verweist. Die Erklärungen zu nicht bezeichneten topographischen Elementen geben nur den heutigen Namen, jene zu Städten enthalten den auf der Tabula verzeichneten Namen und - sofern es einen solchen gibt - auch den modernen Namen der Stadt. Die Auswahl der angemerkten Orte erscheint dem Rezensenten etwas zufällig und folgt wohl nur der Absicht, die Spalte zu füllen, ohne dass sich die Linien auf der Karte kreuzen. Dem Tafelteil folgt ein Anhang mit einigen Endnoten, einer knappen Bibliographie und den Indices (S.102-112). Das Ziel des Buches ist es, die Tabula Peutingereiana "nach ihrer Restaurierung einer breiten Öffentlichkeit bequem zugänglich zu machen und einleitend zentrale Aspekte dieses wunderbaren Dokumentes zu erläutern" (S. 31). Dieses Ziel wird voll erfüllt. Der Einleitungsteil ist auf der Höhe der aktuellen Forschung, aber leserfreundlich verfasst. Für eine wissenschaftliche Beschäftigung mag er zu knapp sein, aber dem an der Tabula interessierten Laien sowie Studenten bietet er einen guten Einstieg. Eine etwas ausführlichere Behandlung der Forschungsgeschichte hätte diesen aber noch erleichtert. Wichtiger als der Text sind in diesem Band aber natürlich die Bilder. Der Tafelteil ist eindrucksvoll und lädt zu intensiver Betrachtung ein. Die Karten sind nahezu in Originalgröße abgedruckt. Die Drittelung der Blätter macht die einzelnen Abschnitte zwar übersichtlicher, lässt das Dokument aber weniger eindrucksvoll erscheinen. Auch die Bilder im Textsteil sind von ausgezeichneter Qualität. Haptisch ist das Buch durch das große Format aber ein Erlebnis.[7] Das Fazit des Rezensenten: Ein sehr schönes Buch für den Laien, dass aber wegen der klaren Darstellung durchaus auch für die Lehre nützlich ist. Anmerkungen: [1] Hier wäre aus der jüngeren Forschung vor allen Ekkehard Weber, Tabula Peutingeriana. Codex Vindobonensis 324, Graz 1976 (mit separatem Kommentarband) und Annalina Levi / Mario Levi, Tabula Peutingeriana, Bologna 1978 (mit der Tabula in Form einer Rolle) zu nennen. [2] Richard J. A. Talbert, Rome's World. The Peutinger Map Reconsidered, Cambridge 2010, S. xiv. [3] So praktisch für den Wissenschaftler auch die Werkzeuge sind, die z.B. die elektronische Publikation Talberts bietet (<http://peutinger.atlantides.org>), muss man doch genau wissen, was man sucht, um diese zu finden. Generell ist fraglich, wie lange solche Publikationen zugänglich sind. Schon heute lässt sich der Betrachter nicht in jedem Browser benutzen und wer kann schon sagen, wie lange die Kosten und die Pflege der Internetseite sichergestellt werden. [4] Die Idee wurde erstmals von Friedrich Gisinger, Art. Peutingeriana, in: RE XIX 2 (1938), Sp. 1405-1412, hier Sp. 1408ff. geäußert. [5] Dass in größeren Bibliotheken solche Karten vorhanden waren, lassen auch chorographische Beschreibungen, wie sie beispielsweise Prokop und Photius geben, vermuten, z.B. Phot. bibl. cod. 63 zu Prokop (BP 1, 10): "Das Taurusgebirge in Kilikien durchquert erst Kappadokien, Armenien, Persarmenien, Albanien, Iberien und all die anderen unabhängigen Reiche, die unter die Herrschaft Persiens kamen. Genau über den Grenzen Iberiens ist ein schmaler Pfad um die 50 Stadien Länge, [...] , der in alten Zeiten das Kaspische Tor genannt wurde." [6] Anders Talbert, der in der Vorlage der Tabula eine Wandkarte aus dem Kaiserpalast des Diokletian sieht: Talbert, World, S. 133. [7] Ein kleiner Fehler fiel dem Rezensenten auf S. 7 auf, wo auf Abb. 3 verwiesen wird, obwohl Abb. 2 gemeint ist. |
Date: 2017/02/13 22:26:09
From: Roland Geiger <alsfassen(a)web.de>
Thomaschke, Dirk: Abseits der Geschichte. Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg in Ortschroniken (= Formen der Erinnerung 60). Göttingen: V&R unipress 2016. ISBN 978-3-8471-0536-7; 356 S., 4 Abb.; EUR 50,00. Rezensiert für H-Soz-Kult von: Mathias Beer, Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Tübingen E-Mail: <mathias.beer(a)idgl.bwl.de> Ortschroniken und Heimatbücher gehören zu den markantesten Genres eines breiten Spektrums an Publikationen, die unter dem Oberbegriff "heimatgeschichtliche Literatur" zu fassen sind. Dabei stehen nicht Städte, sondern überschaubare Gemeinschaften im Mittelpunkt, meist die Geschichte und Gesellschaft eines Dorfes oder einer Gemeinde. Selbst wenn es nicht möglich ist, die Zahl solcher Veröffentlichungen für den deutschsprachigen Raum einigermaßen genau zu beziffern, gibt es zuverlässige Indizien dafür, dass sie sich, wenn auch Konjunkturen unterworfen, seit rund eineinhalb Jahrhunderten einer massenhaften Verbreitung erfreuen. Ihre große Popularität und nicht hoch genug einzuschätzende Wirkung auf die Geschichtskenntnisse und Geschichtsbilder von Laien hält bis in die Gegenwart an - und wohl auch in der Zukunft. Im Kontrast zur Verbreitung und Wirkungsmacht steht die lange Zeit fehlende wissenschaftliche Aufmerksamkeit, die diese in ihren Erscheinungsformen heterogene, in ihrer Zielsetzung, Struktur und Rezeption jedoch eher homogene Form populärer Geschichtsschreibung erfahren hat. Erst 2010 erfolgte eine nähere Bestandsaufnahme der Geschichte, Methodik und Wirkung von Heimatbüchern.[1] Sie war mit dem Plädoyer verbunden, das Heimatbuch nicht bloß als eine gegenüber der akademischen Geschichtsforschung defizitäre Form der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu sehen, sondern als eigene, durch spezifische Merkmale gekennzeichnete Schriftenklasse - eine Form der Lokalgeschichtsschreibung von geschichtswissenschaftlichen Laien. Dieses Desiderat der Forschung greift der Oldenburger Historiker Dirk Thomaschke in seiner lesenswerten Studie auf. Dabei vertritt er die zu hinterfragende These, dass sich in der Bundesrepublik (erst) in den späten 1970er-Jahren - und nach der Wiedervereinigung auch in den neuen Bundesländern - mit den Ortschroniken und Heimatbüchern ein eigenständiges Genre der Geschichtsschreibung herausgebildet habe (S. 8). Um dessen Stellenwert als erinnerungskulturelles Phänomen zutreffend einzuschätzen, so sein nachvollziehbares Argument, genüge es nicht, die disziplinäre Perspektive der Geschichtswissenschaft bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit anzusetzen. Deshalb fragt der Autor fokussiert auf zwei Aspekte - die Darstellung des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, auf die sich ein Großteil der Fachkritik an den Ortschroniken konzentriert - nach den Prinzipien, die für die Konstruktion von Geschichte in Ortschroniken maßgeblich sind. Thomaschke geht es nicht um Anklage oder Entlastung. Ihn interessieren vielmehr die historiographischen Mechanismen, die den besonderen Umgang mit der NS- und Kriegsgeschichte in den Ortschroniken erklären können. Das Ziel, die Eigenlogik von Form, Inhalt, Entstehung und Verwendung solcher Historiographie grundsätzlich zu bestimmen (S. 11), ist mit dem hohen Anspruch verbunden, Ortschroniken und Heimatbücher erstmals in einem landesweiten Vergleich für den gesamten Zeitraum der Bundesrepublik und auch der DDR zu analysieren (S. 9). Darüber hinaus versteht sich die Studie als Beitrag zur Erforschung lokaler Erinnerungskulturen an den Nationalsozialismus. Der Leitfrage entspricht die überzeugende Struktur der neben Prolog und Fazit in sechs Kapiteln gegliederten Arbeit. Sie greift maßgeblich auf rund 250 arbiträr ausgewählte Ortschroniken zurück, die in ihrer Mehrheit nach 1945 entstanden sind, wobei Publikationen seit den späten 1980er-Jahren überwiegen. Ergänzend und punktuell werden auch einige wenige Archivbestände zur heimatgeschichtlichen Lokal- und Regionalforschung herangezogen. In beiden Fällen ist trotz des gesamtdeutschen Anspruchs ein mittel- und norddeutscher Schwerpunkt der Arbeit unübersehbar. Die beiden ersten umfangreichen Kapitel - "Ortschroniken als Genre" - gehen der grundsätzlichen Frage nach, was eine Ortschronik ist. Dabei werden mit der schwierigen Begriffsbestimmung, dem Inhalt, den Autoren, der Entstehung und den Quellen einerseits formale und andererseits inhaltliche Kriterien verwendet. Die Befunde bestätigen Bekanntes: Ortschroniken, deren Thema in der Regel das Dorf, die Gemeinde, nicht eine Stadt ist, fehlt verglichen mit geschichtswissenschaftlichen Arbeiten eine allgemeinhistorische Frage. Sie schreiben Lokalgeschichte vom Ursprung bis in die Gegenwart, wobei dem Kontext, wenn er nicht ganz ausgeblendet wird, ein Tapeten-Effekt, eine Funktion als Staffage zukommt. Der Aufbau dieser Publikationen ist unsystematisch, ihr Inhalt eine eklektische Inventur im Dienst einer Ruhmeshalle der Dorfgemeinschaft. Sie bündeln Ergebnisse von Autoren, die das Festhalten von Miterlebtem in der Ortschronik als Gemeinschaftsaufgabe verstehen. Thomaschke bringt es (nicht nur in diesem Fall) klar auf den Punkt: "Statt die Geschichte des Dorfes zu schreiben, schreiben Heimatbücher [eine bestimmte] Geschichte in das Dorf." (S. 76) Vor diesem Hintergrund werden in den zentralen, insgesamt gut 100 Seiten umfassenden zwei folgenden Kapiteln die Darstellungen von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg in den Ortschroniken sowie deren Kontinuität und Wandel bis weit in die 1970er-Jahre thematisiert. Nachvollziehbar wird gezeigt, wie die allgemeinen Merkmale des Genres auch die Art und Weise des Umgangs mit der Kriegs- und Nachkriegszeit bestimmen. Zentral ist dabei die bemühte Trennung von Dorf und Umwelt. Der geographischen entspricht eine angebliche historische Abgeschiedenheit der Dorfgeschichte. Wenn die "große" Geschichte in den Ortschroniken vorkommt, dann in der Regel als unvermeidlicher Einbruch einer schicksalhaften Katastrophe. Der scheinbaren Passivität des Lokalen entsprechen die Politisierung der Dorfgemeinschaft von außen, die "Verführung" und der "Missbrauch" durch den Nationalsozialismus, die Externalisierung der Täter, die Ortsfremdheit überzeugter Nationalsozialisten, die Widerständigkeit des dörflichen Alltags, das Ausgeliefertsein an die Besatzungsmächte und die Displaced Persons sowie die erzwungene Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenen im Rahmen der Opfer- und Aufbaugemeinschaft in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Dichotomie korrespondiert, wie Thomaschke anhand seiner Quellen ausgewogen argumentierend zeigt, mit zwei unterschiedlichen Zeitlinien, die sich in den Heimatbüchern finden: die gleichsam zeitlose, kontinuierliche Entwicklung der Dorfgemeinschaft, der "kleinen" Geschichte, und der von tiefen Einschnitten und Veränderungen gekennzeichnete Strang der Politikgeschichte, der "großen" Geschichte. Diese Parallelität setzte sich nach 1945 weitgehend fort, indem, wie in der akademischen Forschung auch, die NS-Zeit bis zum Beginn der 1980er-Jahre häufig ausgeblendet oder entkonkretisiert wurde. Thomaschke spricht daher zu Recht von einer "Konstanz früher Muster der Vergangenheitsbewältigung" (S. 199), deren Ursache er in der hermetischen Trennung von Mikro- und Makrogeschichte in den Ortschroniken sieht. Seine Befunde zur Art der Darstellung des und der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der frühen Nachkriegszeit in der heimatgeschichtlichen Literatur bettet Thomaschke im fünften Kapitel in einen größeren Zusammenhang ein, indem er grundsätzlich nach dem Verhältnis zwischen Ortschroniken und wissenschaftlicher Geschichtsschreibung fragt. Bis zur Entstehung der Heimatgeschichte im späten 19. Jahrhundert ausholend, verweist er auf das von Anfang an hierarchische Verhältnis zwischen akademischer Forschung und insbesondere der Landesgeschichte und der Heimatgeschichte. Daran änderte sich nach 1945 und auch in den 1970er-Jahren, mit dem Aufkommen einer neuen Heimatbewegung in der Bundesrepublik sowie der Alltagsgeschichte, wenig. Zum "recht steifen Verhältnis" (S. 249) der Landesgeschichte zur Laiengeschichte hat laut Thomaschke die strikte "Dualität zwischen Alltag und Erfahrung auf der einen Seite und Ideologie und Politik auf der anderen Seite" wesentlich beigetragen (S. 243). So gut wie keine Berührungspunkte gab und gibt es nach Thomaschke auch zwischen der etwa zur gleichen Zeit aufkommenden Laiengeschichtsschreibung ("Grabe, wo du stehst") und der sich etablierenden Alltagsgeschichte in der Bundesrepublik. Sie unterscheiden sich in vier zentralen Theoremen: hier der Blick auf eine geschlossene Gemeinschaft, die identitätsstiftende Zielsetzung, die Eindimensionalität und das Verharren auf dem Konkreten des Dorfes; dort der über das Dorf hinausreichende Blick, das von der Methodik der Geschichtswissenschaft bestimmte Erkenntnisziel, die Perspektivenvielfalt und die Intention, die lokalen Ergebnisse breiter zu kontextualisieren und zu vergleichen. Auch gegen die neue Konkurrenz beim Zugang zum Lokalen und Alltäglichen konnten sich die Ortschroniken behaupten. Dass es dabei kaum Annäherungsversuche gab, ist sowohl den Ortschronisten als auch der akademischen Geschichtswissenschaft, der Laienalltagsgeschichte als auch der universitären Alltagsgeschichte zuzuschreiben. Im letzten Kapitel steht die Auseinandersetzung mit der Heimatgeschichte in der DDR im Mittelpunkt. Hier betritt die Arbeit nicht nur Neuland. Indem sie Heimatgeschichte als lokale Praxis in der DDR detailliert analysiert, kann sie auch ein Forschungsfeld abstecken, das es noch zu vertiefen gilt. Doch so wertvoll die hier herausgearbeiteten Erkenntnisse sind, handelt es sich bezogen auf die Gesamtstruktur der Studie letztlich um ein verzichtbares Anhängsel. Thomaschke hat es mit Blick auf einen Vergleich zwischen der heimatgeschichtlichen Literatur der Bundesrepublik und der DDR in seine Studie aufgenommen. Doch fehlt dem angestrebten Vergleich die Grundlage, weil, wie der Autor selbst einräumt, aufgrund völlig unterschiedlicher Voraussetzungen "sich ein vergleichbares Genre mit der hinreichenden Eigenständigkeit in der DDR nicht etablieren konnte" (S. 253). Die gut geschriebene Monographie über die Ortschroniken setzt einen wichtigen Baustein zur Analyse und zum Verständnis einer zentralen Quelle für die Geschichtskultur der kleinen, ländlichen Orte. Mit der angebotenen Deutung der imaginierten Dorfgemeinschaft, der autonomen Zeitschiene und der Essentialisierung von Heimat arbeitet Thomaschke hinsichtlich des Umgangs mit Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und früher Nachkriegszeit drei maßgebliche historiographische Prinzipien heraus, die diese Form der Geschichtsschreibung einerseits charakterisieren und andererseits von der akademischen Geschichtsschreibung deutlich unterscheiden. Aber diese Prinzipien prägten die heimatgeschichtliche Literatur von Anfang an. Deshalb greift Thomaschke, vermutlich aufgrund des untersuchten Zeitraums und des inhaltlichen Schwerpunkts, zu kurz, wenn er die Herausbildung eines eigenen Genres der Ortschroniken und Heimatbücher erst in den 1970er-Jahren ansiedelt. Vielmehr stellten sie, wofür auch die Arbeit selbst besonders im fünften Kapitel eine Reihe von Hinweisen liefert, bereits seit dem späten 19. Jahrhundert neben der universitären Historiographie und der Landesgeschichte einen dritten eigenständigen Weg der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit dar. "Abseits der Geschichte", so der programmatische Titel von Dirk Thomaschkes Publikation, ist die heimatgeschichtliche Literatur nur aus Sicht der akademischen Geschichtsschreibung. Das arbeitet die Studie klar und überzeugend heraus. Die historiographische Eigenständigkeit von Ortschroniken und Heimatbüchern deutlicher sichtbar gemacht zu haben ist ein wesentliches Verdienst der Arbeit. Sie sollte zugleich als Aufforderung verstanden werden, in das noch weite Feld der Erforschung dieser Form der Historiographie weitere Furchen zu ziehen. Anmerkung: [1] Mathias Beer (Hrsg.), Das Heimatbuch. Geschichte, Methodik, Wirkung, Göttingen 2010; rezensiert von Willi Oberkrome, in: H-Soz-Kult, 22.12.2010, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-15120 (04.01.2017). |
Date: 2017/02/16 20:45:24
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Diözesanarchiv St. Pölten; Verein Basilika Sonntagberg 11.10.2017-13.10.2017, Seitenstetten, Stift Seitenstetten Deadline: 31.03.2017 Im Zeitalter der Gegenreformation erfuhr das Landschaftsbild Mitteleuropas maßgebliche Veränderungen durch Errichtung zahlreicher Sakralbauten, seien es Kirchen, Kapellen, Bildstöcke, Kalvarienberge und vieles mehr. Eines der herausragendsten Beispiele dafür ist die Basilika am Sonntagberg, die zwischen 1706 und 1732 erbaut wurde. Sie steht nicht für sich allein, sondern ist Teil einer Entwicklung, die bereits Mitte des 16. Jahrhunderts eingesetzt hatte und im 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt fand. Ziel der Tagung ist es, diese Vorgänge exemplarisch zu untersuchen, um den historischen Kontext zu der Wallfahrt und der Erbauung der Kirche auf dem Sonntagberg im 17. und 18. Jahrhundert herzustellen. Besonderer Wert wird dabei auf die grenzüberschreitende mitteleuropäische Perspektive gelegt, um die internationale Dimension des Phänomens "Sakralisierung der Landschaft" zu betonen. Damit ist jedoch nicht nur die bauliche Komponente gemeint, sondern auch der Aspekt der Verwendung der Landschaft im Dienste religiöser Kulthandlungen wie Wallfahrten oder Prozessionen. Im Besonderen sollen folgende Themen zur Sprache kommen: - Veränderung von Landschaft durch Baulichkeiten - Landschaft als "Bühne": Baulichkeiten, Feste und Kulthandlungen - Die Verehrung der heiligsten Dreifaltigkeit - Der Sonntagberg im 17./18. Jhdt. - Bruderschaften - Soziale und wirtschaftliche Auswirkungen: welche Folgen hat die Gründung eines Wallfahrtsortes für die Umgebung? - Kleindenkmäler als Wegmarken persönlicher Frömmigkeit und Repräsentation - etc. - weitere Themenanregungen sind willkommen! Interessierte Referentinnen und Referenten sind eingeladen, bis 31. März 2017 ein kurzes Exposé ihres geplanten Vortrags (max. 2000 Zeichen, Dauer der Vorträge: ca. 20 min) an h.bachhofer(a)kirche.at zu senden. ------------------------------------------------------------------------ Heidemarie Bachhofer Diözesanarchiv St. Pölten h.bachhofer(a)kirche.at Homepage <http://www.dasp.at> |