Suche Sortierung nach Monatsdigest
2014/07/13 17:20:06
Michaela Becker
[Regionalforum-Saar] Vortrag Wellesweiler Arbeitskreis für Geschichte, Landeskunde und Volkskultur e.V.
Datum 2014/07/14 22:42:01
Roland Geiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] fest rund um die kelten
2014/07/31 09:08:30
Roland Geiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] Cetto. Eine St. Wendeler Familie.
Betreff 2014/07/22 09:14:57
Roland Geiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] Daniel gegen Stier 1947
2014/07/12 14:00:05
Roland Geiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] Hof Haupenthal und Obersöte rn, Siedlungsgeschichte des Hochwaldes
Autor 2014/07/14 22:42:01
Roland Geiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] fest rund um die kelten

[Regionalforum-Saar] cortison

Date: 2014/07/14 21:57:39
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)...

Haller, Lea: Cortison. Geschichte eines Hormons, 1900-1955 (=
Interferenzen 18). Zürich: Chronos Verlag 2012. ISBN 978-3-034-01115-0;
276 S.; EUR 31,00.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Alexander von Schwerin, TU Braunschweig
E-Mail: <a.schwerin(a)... September 1948 injizierte ein amerikanischer Arzt die Laborsubstanz
"Compound E" einer jungen Frau, die an schwerer rheumatischen Arthritis
litt, bettlägerig war und sich kaum noch bewegen konnte. "Nach einer
Woche Behandlung nahm sie ein Taxi, fuhr in die Stadt und machte drei
Stunden lang Einkäufe", wird berichtet (S. 191). Aus diesem Stoff sind
Wunderdrogen gemacht, im doppelten Sinne: Der biochemische Stoff mit der
Industriebezeichnung "Compound E" machte nach diesem Ereignis am
Krankenbett als "Cortison" Furore. Dass sich seitdem um Cortison der
Mythos einer Wunderdroge rankt, hat seinen Grund allerdings nicht nur in
dessen Wirkung, sondern auch in der medialen Verarbeitung der Vorgänge
am Krankenbett zu einem Vorgang der Wunderheilung. So findet sich
Cortison im Pantheon der sogenannten therapeutischen Revolution wieder,
neben Antibiotika oder Psychopharmaka, mithin Arzneistoffen, die der
arzneimittel-basierten Medizin im 20. Jahrhunderts zum Durchbruch
verhalfen. Und trotz der inzwischen bekannten massiven unerwünschten
"Nebenwirkungen" genießt Cortison auch heute noch einen Ruf als eine Art
Allheilmittel, als ein effektiver, entzündungshemmender pharmazeutischer
Wirkstoff, der unzählbare Kranke, die insbesondere unter rheumatischen
Erkrankungen leiden, von starken Schmerzen zu befreien vermag und ihnen
die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben erleichtert oder gar wieder
ermöglicht.

Eine solche Erfolgsgeschichte wissenschaftlichen-medizinischen
Fortschritts fordert heraus, genauer unter die Lupe genommen zu werden.
Es handelt sich nicht zuletzt um Stoffe, die über die Medizin hinaus das
gesellschaftliche Zusammenleben zu verändern in der Lage sind. In ihrem
Buch "Cortison" geht es der Autorin indes nicht um die
Wirkungsgeschichte des Cortisons. Das Buch nimmt den Mythos des
wissenschaftlich-technischen Fortschritts von einer anderen Seite in die
Mangel, indem es die lange Vorgeschichte untersucht und zeigt, dass die
Entwicklung des Arzneimittels Cortisons nicht einer linearen
Entdeckungsgeschichte folgt, wie wir uns geplanten und heroischen
medizinischen Fortschritt gerne vorstellen würden. Haller erzählt die
Geschichte eines Medikaments, das "niemand geplant, ersehnt oder
erfunden hat" (S. 13), und das macht sie auf knappen 270 Seiten
vorbildlich. "Cortison", als Dissertation an der ETH Zürich entstanden,
gehört zu den erfrischenden Highlights der deutschsprachigen
Wissenschaftsgeschichte der letzten Jahre: tiefgründig und zugleich
spannend geschrieben.

Die Autorin hinterfragt die übliche Erfolgsgeschichte von der
sogenannten therapeutischen bzw. pharmazeutischen Revolution. Dazu legt
sie die Schichten historischer Kontingenz und struktureller
Voraussetzungen frei, um zu verdeutlichen, dass Cortison nicht das
Ergebnis planenden Handelns - weder der beteiligten Forscher,
staatlicher Forschungslenker noch von Industriemanagern. Es war aber
auch nicht einfach ein glücklicher Zufall. Solche Erzählungen
unerklärlicher Glücksmomente, die gerade unter Wissenschaftlern beliebt
sind, lösen die Geschehnisse im Labor von ihrem gesellschaftlichen
Kontext und entziehen sie damit der Reflexion. Es stimmt zwar, dass
verschiedene Faktoren glücklich zusammenkamen, aber diese Konstellation
war doch nicht zufällig, sondern ein Resultat der gesellschaftlichen
Verstrickung der Forschung.

Zeitlich ausholend und auf verschiedenen Ebenen setzt das Buch Schritt
für Schritt das Bild der heterogenen Wissenskonstellation zusammen, die
die "Entdeckung" des Cortisons und seiner Wirkung ermöglichte. Weil
diese Ermöglichungsbedingungen über die Wissenschaft hinausreichten,
spricht Haller auch von einer "Wissensgeschichte" des Cortisons (S. 16).
Zwar konzentriert sich die Autorin in ihrer Darstellung im Wesentlichen
auf die Vorgänge in der akademischen und industriellen Forschung, bringt
diese aber immer wieder geschickt und überzeugend in Zusammenhang mit
der gesellschaftlichen Entwicklung. Dabei bekommen wir es mit einer
faszinierenden Dimension der Wissenschaft zu tun, nämlich ihren
materiellen Voraussetzungen. Die lange Vorgeschichte des Arzneimittels
wird so zu einer Geschichte, die von den engen Beziehungen von
Wissenschaft, Technik, Industrie und gesellschaftlichen Anforderungen
handelt.

Das Buch ist übersichtlich in vier Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel
"Fördern und hemmen: Visionen hormoneller Steuerung" setzt im letzten
Drittel des 19. Jahrhundert ein und macht den Leser und die Leserin mit
den Anfängen der nur teilweise erforschten Hormonforschung bekannt.
Voraussetzung dafür war die Einführung der experimentellen Methode in
die Lebenswissenschaften. Darunter darf man nicht nur eine akademische
Entwicklung verstehen. Gerade der Fall der Hormonforschung zeigt, dass
die Experimentalisierung stark durch den medizinischen Anwendungsbezug
vorangetrieben wurde. Ein Schauplatz dieser Entwicklung war die
Endokrinologie, die in vielfach blutigen Tierversuchen nach den
lebensbestimmenden Substanzen fahndete. Der Vorstellung, dass
"biologische Wirkstoffe" das Körpergeschehen regulierten, lag ein
Körper- und Krankheitskonzept zugrunde, das im Widerspruch zu dem in der
zeitgenössischen Forschung vorherrschenden Konzept des Nervenkörpers
stand. Namhafte Vertreter der neuen Forschungsrichtung, wie der
Engländer und Schöpfer des Terminus' "Hormon" Ernest Starling, benutzten
das Konzept des Hormonkörpers, um daraus Visionen für eine neue, auf
chemischer Regulierung basierenden Medizin abzuleiten. Diese Medizin
sollte "neue technowissenschaftliche Lösungsmöglichkeiten für
pathologische Probleme" konzipieren, indem sie die Natur imitiert (S.
69).

In Hallers Argumentation kommt den mit der Hormonforschung
einhergehenden Körper- und Krankheitskonzepten aufgrund ihrer
vermittelnden Funktion zwischen der Arbeit im Labor und den
Anwendungszielen, die sich im Laufe der Zeit immer wieder ändern
sollten, eine zentrale Funktion zu. So stand die Vision der
medizinischen-chemischen Regulierbarkeit des Organismus' am Beginn einer
biologischen Pharmazeutik mit all ihren Konsequenzen. Zudem bildete das
chemisch-regulative Körperkonzept in der Folgezeit einen wichtigen
Bezugs- und Ansatzpunkte für politische Bestrebungen, die auf die
Kontrolle oder Manipulation der Körper der Staatsbürger abzielten.

Die folgenden Kapitel setzen den Gedankengang genau an dieser Stelle
fort. Zum einen werden die wissenschaftlichen Bemühungen nachgezeichnet,
die chemische Konstitution der Hormone, die lange nur als Extrakte im
Labor zur Verfügung standen, aufzuklären. Zum anderen können die Leser
und Leserinnen die beeindruckenden Veränderungen in den Körperkonzepten
und Visionen nachvollziehen, die gleichermaßen die Laborexperimente
anleiteten und von diesen inspiriert wurden. Das zweite Kapitel "Vom
Extrakt zum organischen Molekül" veranschaulicht, dass nicht nur die
Inhalte der Forschung über die Anwendbarkeit wissenschaftlichen Wissens
bestimmen, sondern die Anwendungsziele der biomedizinischen Forschung
von Fall zu Fall auch zu einer "Revision der theoretischen Grundlagen"
führen können (S. 83). Im Mittelpunkt der Geschichte rücken damit
Wissenschaftler in den USA und an der ETH Zürich und verschiedene
Chemiebetriebe, an erster Stelle die Schweizer Pharmafirma Ciba in
Basel. Die diversen Akteure fanden trotz unterschiedlicher Interessen
zusammen und konnten, obwohl sich die Ziele der Kooperationen immer
wieder änderten, in den folgenden Jahrzehnten so etwas wie Kontinuität
in der Hormonforschung herstellen, die letztlich zu dem eingangs
erwähnten Therapieerfolg führte. Der Autorin geht es dabei darum, eine
Kontinuität zu beschreiben, die nicht als teleologisch bezeichnet werden
kann. "Schaut man sich die einzelnen Schritte [...] im jeweiligen
Kontext an, so waren sie keineswegs immer die logische Vorbereitung des
nächsten Schrittes, sondern Verfahren, die unvorhergesehene Konsequenzen
hatten ..." (S. 75) Eine Voraussetzung für eine solche Kontinuität, die
sich quasi stolpernd den Weg durch die Geschichte bahnt, waren zum
Beispiel Anpassungsleistungen der Akteure: die Ausbildung einer
bestimmten Kultur des Unternehmertums auf Seiten der Hochschulchemiker
und eines bestimmten Begriffs von Wissenschaftlichkeit innerhalb der
Industrie.

Das dritte Kapitel verfolgt die Geschichte einige der verschiedenen
Substanzen, von denen sich Unilabore und Industrie Erfolg erhofften.
Ihre Geschichte ist nicht zu trennen von dem Diskurs über die
Körperregulierung, der ab den dreißiger Jahren vor dem Hintergrund der
tiefgreifenden politischen Umbrüche in Europa und dann des Zweiten
Weltkriegs in verschiedene Richtungen hin aufgeladen wurde.
Wissenschaftliche Erklärungen von Notstands- und Stressreaktionen des
Organismus' erhielten mit Blick auf die Leistungsfähigkeit von Piloten
und Soldaten eine aktuelle politische Brisanz. Folglich werden wir in
die Geschichte des "General Adaption Syndromes" eingeführt und dessen
Bedeutung für die staatliche Forschungsförderung. Mit Auftreten des
Staates kumulierte die Nebennierenhormon-Forschung in einem massiven
Interesse an "Biological Engineering" (S. 169), das biopolitisch gesehen
weit über medizinische Interventionsziele hinausging. Aber auch die
Forschungslaboratorien der ETH und der Ciba befassten sich mit den
Konzepten physiologischer Stressbewältigung und richteten sich damit
letztlich sehr anpassungsfreudig auf neue Wege der "Pharmapolitik" aus
(S. 148). Statt mit den Hormonen aus dem Industrielabor weiterhin
Arzneistoffe zur Behandlung von seltenen Mangelkrankheiten zur Verfügung
stellen zu wollen, nahmen die akademisch-industriellen Kooperationen nun
die Schockbehandlung ins Visier, die sie geradewegs und erstaunlich
parallel zur staatsfinanzierten Forschung in England und den USA in die
Kriegsforschung führte. Auch vor diesem Hintergrund
physiologisch-pharmakologischer Forschung nannte man den Luftkrieg über
Europa einen "physiologischen Krieg" (S. 162). Zwischen
Mangelkrankheiten, Stressreaktionen von Piloten, Extrembelastung und
Körper-Enhancement verfolgt die Autorin zielstrebig den Faden bis zu
jenem Moment im Jahr 1948, als eben nicht ganz zufällig Cortison
"geboren" wurde.

Das vierte Kapitel "Normalisierung und Kontrollverlust: Cortison als
ambivalente Droge" führt in die fünfziger und sechziger Jahre, in denen
nicht mehr kriegsbedingte Extrembelastungen, sondern
"Zivilisationskrankheiten" mit allen ihren volkswirtschaftlichen Folgen
zunehmend gesundheitspolitische Bedeutung erlangten. Es wird damit
deutlich, wie sehr die verschlungene Vorgeschichte der
physiologisch-chemisch-pharmazeutischen Forschung und die aktuelle
gesellschaftliche Lage gemeinsam die Vorbedingung formten für den Erfolg
des Cortisons. Eine weitere Vorbedingung bestand in der Beschaffung
geeigneter Ausgangssubstanzen für die chemische Synthese und
Großproduktion des Hormonderivats. Die Geschichte führt nun über
Missionare und Hobbybotanikern nach Südamerika und ins koloniale Afrika
und mündet in einen internationalen Wettlauf zwischen verschiedenen
Firmen um die Suche und Isolierung einer möglichen Ausgangssubstanz in
der lokalen Flora. Plastischer und eindringlicher kann die
Ressourcenökonomie einer auf biologischen Substanzen und den mit diesen
verbundenen Wirkversprechen setzendenden Pharmaindustrie nicht
beschrieben werden. Am Ende stießen die Pharmaagenten auf Yams und
Sisal. Die Cortison-Produktion wurde damit an die
Sisal-Plantagenwirtschaft und den internationalen Rohstoffhandel mit
allen seinen geopolitischen und ökonomischen Restriktionen angebunden.

Die Geschichte des Cortisons ist eine auch allgemeinhistorisch anregende
und hochspannende Geschichte, da sie uns Interdependenzen zwischen
Wissenschaft, Industrie und Gesellschaft vor Augen führt.
Wissenschaftsgeschichte präsentiert sich hier nicht als ein abgetrenntes
Interessengebiet innerhalb der Geschichtswissenschaften, sondern mit dem
Potenzial, unser Verständnis von Geschichte zu bereichern. "Cortison"
ist zugleich eine höchst aktuelle Geschichte, da sie von biologischen
Wirkstoffen - heute: "Biologics" oder "Biologicals" - handelt, jenen
Substanzen und Stoffen, die im 20. Jahrhundert eine außergewöhnliche
Karriere erlebt haben und im Zentrum des heutige biotechnologischen
Zeitalters stehen. Leider wissen wir noch viel zu wenig von den
Besonderheiten dieser Stoffe, den an sie gerichteten gesellschaftlichen
Erwartungen, den von ihnen beförderten Körperpolitiken und den
ökonomischen wie auch technisch-industriellen Bedingungen ihrer
Verbreitung.