Suche Sortierung nach Monatsdigest
2012/02/28 09:30:17
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Ein Schmuckstück, 300 Jah re alt
Datum

2012/02/20 20:38:54
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Der gezähmte Prometheus. Feuer und Sicherheit
Betreff 2012/02/20 11:20:34
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Digitale Sammlungen Bavarica online
2012/02/28 09:30:17
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Ein Schmuckstück, 300 Jah re alt
Autor 2012/02/06 18:34:42
Stefan Reuter
[Regionalforum-Saar] Heute vor 50 Jahren ...

[Regionalforum-Saar] Die Mathematik im Mittelalter

Date: 2012/02/29 00:17:32
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

Hein, Wolfgang: Die Mathematik im Mittelalter. Von Abakus bis
Zahlenspiel [17 Abb.]. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
2010. ISBN 978-3-534-23121-8; geb.; 196 S.; EUR 29,90 (für
WBG-Mitglieder EUR 19,90).

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Immo Warntjes, Mittelalterliche Geschichte und Historische
Hilfswissenschaften, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald
E-Mail: <warntjes(a)... existieren drei grundsätzliche Ansätze, Mathematikgeschichte eines
beliebigen Raumes und einer beliebigen Zeit zu schreiben, der
chronologische, der fächerspezifische und der ideengeschichtliche. Jeder
dieser Ansätze birgt augenscheinlich eine Vielzahl von Problemen in
sich: Im chronologischen werden durch Periodisierungen Akzente gesetzt,
durch die bestimmte zeitliche Abschnitte oder geographische Räume extrem
vernachlässigt werden; zudem finden hier ideengeschichtliche
Entwicklungen häufig zu wenig Berücksichtigung oder das Werk ist
gespickt mit Redundanzen. Der fächerspezifische Ansatz läuft Gefahr, den
modernen Fächerkanon auf Epochen rückzuprojizieren, denen diese
Einteilungen fremd waren. Im ideengeschichtlichen Ansatz verlieren sich
zu schnell die Bezugspunkte Zeit und Raum, parallele und
ineinandergreifende Entwicklungen entrücken dem Fokus. Einen Ausweg aus
diesem Dilemma hat der brillante Mathematikhistoriker Otto Neugebauer
mit seinem 1979 in Wien erschienen Werk Ethiopic astronomy and
computus[1] aufgezeigt, in dem er die seiner Meinung nach relevanten
Themen alphabetisch anordnete. In dieser Tradition scheint sich auf den
ersten Blick auch die nun vorgelegte Monographie von Wolfgang Hein zur
Mathematik im Mittelalter zu bewegen, zumindest suggeriert dies der
Untertitel Von Abakus bis Zahlenkampfspiel. Aber im Buch selbst schlägt
Hein erfolgreich einen anderen Weg ein. Ihm gelingt es mit erstaunlicher
Leichtigkeit, ideengeschichtlich-mathematische Konzepte in
fächerspezifischen Kategorien zu diskutieren, ohne dabei die Chronologie
aus den Augen zu verlieren,  schafft somit eine Synthese der oben
genannten Ansätze. Hain ist damit seinem Anspruch, einen "Beitrag zur
Kulturgeschichte" (oder eher Mentalitätsgeschichte) (S. 7) vorzulegen,
vollauf gerecht geworden.

Nach einer Darstellung der antiken Grundlagen (S. 11-42) diskutiert Hein
die Entwicklung des Quadriviums im Frühmittelalter unter besonderer
Berücksichtigung des primären Impulses für die Beschäftigung mit den
Naturwissenschaften im christlich-monastischen Kontext dieser Zeit, des
Wunsches nämlich nach numerischer Erkenntnis des göttlichen
Schöpfungswerkes (S. 43-74). Im dritten Abschnitt wechselt der Fokus vom
theoretischen Diskurs des Fächerkanons zur Anwendung
frühmittelalterlicher Mathematik (S. 75-109). Handelt dieser Teil von
Umgang mit numerischen Größen, so geht der vierte Abschnitt ganz in
mittelalterlicher Tradition auf das Verhältnis derselben zueinander ein
(S. 110-126); Proportionslehre manifestierte sich vornehmlich in der
Musik, eine praktische Umsetzung fand sie in der Architektur, und so
bewegt sich dieser Teil konsequenterweise im Hochmittelalter, in dem die
Musik im 11. Jahrhundert, die Architektur im 12. Jahrhundert (mit dem
Beginn gotischer Kathedralbauten) eine Blüte erfuhr. Im fünften
Abschnitt wird knapp die Parallelentwicklung in der arabischen Welt
skizziert, um dann die fundamentale Bedeutung der Übersetzungen
griechischer und arabischer Texte im 12. und 13. Jahrhundert für die
Herausbildung einer mathematischen Wissenschaft im modernen Sinne
darzulegen (S. 127-159). Durch die naturphilosophischen, scholastisch
geprägten Diskurse der aufkommenden Universitäten sei
Autoritätshörigkeit durch kritische Auseinandersetzung mit der Materie
ersetzt worden, was die Grundvoraussetzung für die bahnbrechenden
Studien des Jordanus Nemorarius im 13. Jahrhundert gebildet habe. Der
letzte Abschnitt erörtert dann die Anwendung der neugewonnenen
Erkenntnisse auf physikalische Sachverhalte, wobei vor allem auf die
mathematische Modellierung von Naturphänomenen durch
Approximationsverfahren hingewiesen wird, für die besonders Nikolaus von
Kues maßgebend gewesen sei (S. 160-184). Abgerundet werden können hätte
dieser elegante Ein- und Überblick in und über die mittelalterliche
Mathematik durch ein abschließendes Kapitel zu den mittelalterlichen
Grundlagen der modernen Mathematik, das der interessierte Leser leider
vergeblich sucht. Den Abschluss bildet ein knappes Literaturverzeichnis
(S. 185-189) sowie ein Personen- und Sachregister (S. 191-196).

Innerhalb der einzelnen Kapitel gelingt es Hein auf geradezu
meisterhafte Art, auch dem in mathematischen Belangen nicht geschulten
Leser einen konzisen Überblick über den Inhalt der bedeutendsten Texte
sowie anhand exzellent ausgewählter Beispiele einen verständlichen
Einblick in den mathematischen Horizont des Mittelalters zu vermitteln.
Die wesentliche Leistung dieser Monographie besteht aber zweifelsohne in
einer (längst überfälligen) Perspektivverschiebung, die als geradezu
revolutionär betrachtet werden muss. Die klassischen Handbücher zur
Mathematikgeschichte bieten fast durchgängig denselben chronologischen
Aufbau: Zunächst werden die frühen Hochkulturen thematisiert, dann die
griechische Antike, gefolgt von den letzten Jahrhunderten des römischen
Reiches; für das Mittelalter werden zunächst die arabischen Leistungen
dargelegt, dann die auf der sogenannten Renaissance des 12. Jahrhunderts
fußende Weiterentwicklung griechischer und arabischer Wissenschaften in
Westeuropa, bevor der Großteil dieser Standardwerke sich den einzelnen
Errungenschaften der Moderne widmet. Somit wird der westlichen
Mathematik des Zeitraums von ca. 550 bis 1100 in diesen Werken so gut
wie kein Raum gegeben, sie wird einfach durch die arabische Mathematik
überlagert und damit übergangen. Hein widmet hingegen über 80 seiner 180
Seiten diesem Gegenstand. Hierbei profitiert er von den bahnbrechenden
Studien Menso Folkerts, wie er selbst im Vorwort vermerkt (S. 7), und es
kann nur gehofft werden, dass sowohl Folkerts Arbeiten als auch Heins
Monographie dazu führen werden, auch das lateinische Früh- und
Hochmittelalter in der Wissenschafts-, zumal in der Mathematikgeschichte
ernst zu nehmen.

Dennoch ist auch Heins Ansatz nicht frei von Problemfeldern. Das
wesentlichste ist ein strukturelles. Seiner Studie liegt die
weitverbreitete Grundüberlegung zugrunde, dass durch das gesamte
Mittelalter das Quadrivium als der wesentliche Fächerkanon angesehen
wurde. Für das Spätmittelalter relativiert Hein diese Vorstellung
berechtigterweise selbst, indem er eindringlich darauf hinweist, dass
mit dem Aufkommen der Universitäten die Fächer des Quadrivium nur noch
als Grundwissenschaften angesehen, wirkliche Wissenschaft aber außerhalb
ihres Rahmens betrieben wurde. Für das Frühmittelalter suggeriert Hein
jedoch eine prägende Rolle dieses Vier-Fächer-Kanons, die so nicht
existierte. Das Quadrivium als Teil der Artes liberales war ein ideelles
Konstrukt, dessen Diskussion vorläufig mit Cassiodor um die Mitte des 6.
Jahrhunderts endete und dann in den letzten Zügen der karolingischen
Renaissance, besonders am Hofe Karls des Kahlen um die Mitte des 9.
Jahrhunderts, wiederaufgenommen wurde. Auch danach war die
Theoretisierung dieses Konzeptes zunächst nur wenigen Angehörigen der
geistigen Elite überlassen, die eigentliche (Natur-)Wissenschaft vom 6.
bis zum 10. Jahrhundert war der Computus. Dies lässt sich einwandfrei an
den erhaltenen Handschriften belegen, stehen doch hunderte von
Computushandschriften dieser Zeit einer ab der Mitte des 9. Jahrhunderts
zugegebenermaßen immer größer werden, aber nicht im Ansatz ähnlich
bedeutsamen Zahl an Martianus-Capella-Handschriften gegenüber.
Handschriften zu den Quadriviumsfächern Arithmetik, Geometrie oder
Astronomie finden sich hingegen kaum. Den Computus somit zusammen mit
beispielsweise Alcuins (?) Propositiones ad acuendos iuvenes in die
Sektion zur angewandten Mathematik des Frühmittelalters (Abschnitt 3) zu
setzen, wird der Sache, und vor allem einem Verständnis der Zeit ca.
550-850, nicht gerecht. Vielmehr war die Mathematik, insbesondere die
Arithmetik, Teil des allumfassenden Computus, der sich
interessanterweise gerade in den ersten zwei mittelalterlichen
Jahrhunderten (dem 6. und 7.) fast ausschließlich als
mathematisch-theologische - und nicht als astronomische - Wissenschaft
verstand. Eine Geschichte der Mathematik im Mittelalter muss somit dem
Computus, zumal für das 6. bis 9. Jahrhundert, mehr Rechnung tragen.

Diese Kritik soll Heins Leistung nicht schmälern. Er hat mit seiner
Monographie einen außergewöhnlich großen Schritt in Richtung eines
Verständnisses der mittelalterlichen, besonders der
frühmittelalterlichen naturwissenschaftlich-mathematischen Ideenwelt
geleistet. Hierauf gilt es in Zukunft aufzubauen und das Bild zu
verfeinern oder weiter zurechtzurücken. Für den interessierte Leser und
für Studenten bietet Heins Buch einen idealen Einstieg in die
mathematische Gedankenwelt des Mittelalters, für den Forscher einen
weiterzuverfolgenden Ausgangspunkt.


Anmerkung:
[1] Otto Neugebauer, Ethiopic astronomy and computus, Wien 1979.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Wolfgang Eric Wagner <wolfgang-eric.wagner(a)... zur Zitation dieses Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-1-141>