Die andere Seite des Saarlouiser „Helden“ Paul von
Lettow-Vorbeck
Aus Spiegel Online „Eines Tages“ Zeitgeschichten vom 8. Januar
2012
Lebensmittelskandal 1919
Schuld und Sülze
Von Johanna
Lutteroth
Durch Zufall wurde im Juni 1919 in Hamburg ein Lebensmittelskandal
bekannt: Der Industrielle Jacob Heil hatte aus Fleischabfällen Sülze hergestellt
und an die hungernde Bevölkerung verscherbelt. Der Ekel-Eklat trieb die
Bevölkerung auf die Barrikaden - bis die Reichswehr die Revolte brutal
niederknüppelte. Formularbeginn
Formularende
Schweigend wuchtete Fuhrmann Rüssau ein Fass nach dem anderen auf seinen
Wagen. Regelmäßig fuhr er für die Fleischwarenfabrik Heil & Co. Dieses Mal
sollte er verdorbene Fleischabfälle nach Ochsenwerder bringen, die die Bauern
dort als Dung verwendeten. Für ihn war dieser Morgen des 23. Juni 1919 wie alle
anderen. Bis eines der Fässer aus Versehen auf den Boden fiel und zerbarst. Eine
stinkende, undefinierbare gelbliche Masse ergoss sich über die Straße.
Fassungslos starrten einige herumstehende Arbeiter den widerlichen Brei an.
War es möglich, dass die Fleischwarenfabrik Heil & Co. daraus ihre
Sülze herstellte, die sie mit dem Spruch "Sülze von größtem Nährwert und
delikatem Geschmack" bewarb? Aufgebracht stürmten die Arbeiter die Fabrik und
förderten eine Reihe von Fellen und Häuten zutage, die mit einer dicken
Schimmelschicht überzogen waren. Aus einem Fass zogen sie sogar einen
vergammelten Hundekopf. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht. Bald
tuschelte die ganze Stadt: In der Heilschen Fleischfabrik werden Hunde, Katzen
und Ratten zu Sülze verarbeitet.
Hundertschaften erstürmten die
Fleischfabrik. Aufgebracht. Wütend. Gewaltbereit. Es war der Auftakt der
heftigsten Hungerproteste, die die Stadt je gesehen hatte. "Immer wilder schien
die Masse, immer rasender tobte sie und wollte ihre Opfer haben", erinnerte sich
ein Augenzeuge. Seit Jahren hungerten die Hamburger. Selbst das Kriegsende hatte
keine Verbesserung der Versorgungslage gebracht. Dass Leute wie Heil aus dem
Hungerelend auf so ekelerregende Weise Kapital schlugen, hatte das Fass
buchstäblich zum Überlaufen gebracht.
Erste Todesopfer
"Wenn die
Behörden uns nicht helfen, helfen wir uns eben selber", brüllte die Masse. Sie
marodierten durch die Heilsche Fleischfabrik, verprügelten die Angestellten und
den Fabrikbesitzer Jacob Heil, den sie schließlich auf den Rathausmarkt
schleppten und dort publikumswirksam in die Alster schmissen. Am nächsten Tag
stürmten die aufgebrachten Arbeiter weitere Fleischfabriken und machten dort
ähnliche Entdeckungen wie bei Heil. Schließlich machte das Gerücht die Runde,
die Angestellten hätten hohe Schweigegelder kassiert. Vom Gedanken der
Lynchjustiz beseelt, zerrte die Masse die Fleischarbeiter durch die Straßen und
zwang sie, die ekelhaften Fleischabfälle zu essen.
Polizei und Senat
waren sich schnell einig, dass die KPD die Menschen systematisch aufhetzte und
legten daher die Unruhen als Putschversuch der Kommunisten aus. Doch die KPD war
genauso überrascht von den Tumulten wie alle anderen. Es war der Hunger, der die
Menschen auf die Straße trieb. Die Massen, die sich im Laufe des Tages auf dem
Rathausmarkt angesammelt hatten, waren auch ohne Zutun der KPD nicht mehr zu
kontrollieren. Reihenweise versuchten die Arbeiter, in das Regierungsgebäude
einzudringen, warfen Fenster ein und randalierten.
In seiner Not
entschied der für die Sicherheit zuständige Kommandant von Groß-Hamburg, Walther
Lamp'l, schließlich das Freiwilligenbataillon der Bahrenfelder um Hilfe zu
rufen, in dem sich 600 Männer aus meist gutbürgerlichen Verhältnissen
zusammengeschlossen hatten. Kaum tauchten die Bahrenfelder mit ihren Stahlhelmen
und Maschinengewehren am Abend des 24. Juni 1919 auf dem Rathausmarkt auf,
eskalierte die Situation.
Brennende Autos, geplünderte Läden
Die
Menge der protestierenden Arbeiter stand nun den schwerbewaffneten Bahrenfeldern
gegenüber, die sich ruppig ihren Weg zum Rathaus bahnten. Schließlich kam es zu
einem Handgemenge, bei dem die ersten Schüsse fielen. Einige Demonstranten, die
durch Plünderungen an Waffen gekommen waren, schossen zurück. Nicht nur der
Lastwagen der Bahrenfelder ging in Flammen auf, sondern auch die Hamburger
Börse. Die ganze Nacht hindurch wurde gekämpft. Bilanz des Tages: ein
Todesopfer, 15 Verletzte.
Noch in der Nacht breiteten sich die Unruhen
auf die ganze Stadt aus. Autos brannten, Fenster wurden eingeworfen, Läden
geplündert und demoliert - selbst in den Nobelstadtteilen Harvestehude,
Eppendorf und Rotherbaum. In seiner Verzweiflung rief Lamp'l am folgenden Morgen
den Belagerungszustand aus. Doch die Zwangsmaßnahme verpuffte wirkungslos. Die
Menge stürmte das Rathaus, erbeutete die dort gelagerten Waffen und nahm einige
Bahrenfelder gefangen. 14 der freiwilligen Kämpfer kamen bei der
Auseinandersetzung ums Leben. Wenig später zogen die Aufständischen weiter und
eroberten das Untersuchungsgefängnis und das Polizeigefängnis in Altona.
Vollkommen überfordert bat der frischgewählte Hamburger Senat Berlin um
Hilfe. Die Andeutung, dass es sich möglicherweise um einen Revolutionsversuch
der KPD handeln könne, versetzte die Reichsregierung in Alarmbereitschaft. Eine
neue Räte-Regierung wollte sie um jeden Preis vermeiden. Berlin ging es aber
auch darum, die Kontrolle über den Hafen und damit über die Lebensmittelein- und
Ausfuhren zu behalten. Reichswehrminister Gustav Noske signalisierte angesichts
dieser Gemengelage sofort seine Unterstützung.
Reichswehr knüppelt den
Aufstand nieder
Zeitgleich bemühten sich Betriebsräte, Arbeiterparteien
und Gewerkschaften um eine Beruhigung der Lage, in der Hoffnung, so einen
Einmarsch der Reichswehr verhindern zu können. Tatsächlich konnten sie einiges
erreichen. Die festgesetzten Bahrenfelder wurden wieder freigelassen. Die
Krawalle nahmen spürbar ab. Doch obwohl sich die Situation deutlich entspannt
hatte, marschierten am 1. Juli 1919 insgesamt 10.000 Reichswehr-Soldaten in
Hamburg ein. Noske rief den Belagerungszustand aus. Die politische und
militärische Kontrolle in Hamburg lag damit in den Händen von General Paul Emil
von Lettow-Vorbeck, dem Kommandanten der Truppe.
Laut Zeitungsberichten
bereitete die Reichswehr dem Aufstand mit äußerster Brutalität ein Ende. Mit dem
Ruf "Fenster zu, Straße frei" marschierte die Reichswehr durch die Stadt. Wer
nicht schnell genug verschwand, wurde niedergeschossen. Eine Arbeiterin
berichtete später, dass ihren Mann genau dieses Schicksal ereilt hatte. Die
Soldaten marschierten an ihm vorbei, ohne von seiner Verletzung Notiz zu nehmen.
Er starb Stunden später im Krankenhaus. Zu ähnlichen Zwischenfällen kam es immer
wieder. Am Ende hatte die Reichswehr zwar die Zivilbevölkerung erfolgreich
entwaffnet und damit endgültig für Ruhe gesorgt. Insgesamt waren aber auch 80
Menschen gestorben.
Sechs Monate sorgte die Reichswehr in Hamburg für
Ordnung. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, sie hätte einen kommunistischen
Revolutionsversuch vereitelt. Dabei hatte die KPD nichts mit den Ausschreitungen
zu tun. Im Gegenteil: Sie versuchte sogar, gegenzusteuern. In der
"Kommunistischen Arbeiterzeitung" ließ sie bereits am 25. Juni einen Aufruf
veröffentlichen, der die Genossen zur Ruhe ermahnte: "Die Kommunistische Partei,
die mit diesen Tumulten nichts zu schaffen hat, fordert Euch auf, Euch von
Ansammlungen fernzuhalten und nicht vor die Maschinengewehre zu laufen." Und
kurz nach dem Einmarsch der Reichswehr ließ die KPD verlauten: "Die Partei
verwirft jeden Versuch, sich mit Waffengewalt dem Einmarsch der
Regierungstruppen zu widersetzen."
Uneinsichtiger Lebensmittelfälscher
Ob Fleischfabrikant Heil tatsächlich Ratten, Hunde und Katzen zu Sülze
verarbeite hatte, konnte nie eindeutig geklärt werden. Dass er aber aus
Kalbskopfhäuten in zweifelhaftem Zustand - matschig, schimmelig und mit Maden
durchsetzt - Sülze machte, war durch die Aussagen von Arbeiterinnen eindeutig zu
beweisen. Auch dass sein Betrieb den hygienischen Anforderungen nicht genügte,
war nach den Funden nur allzu offensichtlich. Und so wurde er am 25. Oktober
1919 zu drei Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe von 1000 Reichsmark
verurteilt.
Heil zeigte sich angesichts der Vorfälle, die er ausgelöst
hatte, überraschend uneinsichtig. Was er produziert habe, sei "geradezu ein
Bedürfnis" der Menschen gewesen. Insofern habe man sich mit seiner Verurteilung
"der Menschheit gegenüber versündigt". Den Grund für diese verzerrte
Selbstwahrnehmung ließ sich einem psychatrischen Gutachten über Heil entnehmen.
Darin hieß es, bei Heil sei "eine sich hauptsächlich in einem erhöhten
Selbstbewusstsein ausdrückende Hypomanie festzustellen".
Kaum war der
Sülzepanscher wieder auf freiem Fuß, eröffnete er eine neue Fleischfabrik.
Dieser Artikel ist in Kooperation mit dem Geschichtswettbewerb des
Bundespräsidenten "Aufsehen, Empörung, Ärgernis: Skandale" 2010/2011 entstanden.
Literaturhinweis:
Eine umfangreiche und
ideologisch unverbrämte Darstellung der Ereignisse ist nachzulesen bei Uwe
Schulte-Varendorff in "Die Hungerunruhen in Hamburg im Juni 1919 - eine zweite
Revolution?" (Beiträge zur Geschichte Hamburgs, herausgegeben vom Verein für
Hamburgische Geschichte, Band 65). Sehr empfehlenswert - auch zur Rolle von
Noske und Lettow-Vorbeck.
Volkmar Zimmermann,
Elmshorn.
238 S., 48 Abb. s/w,
Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 25,80 EUR
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unter: order.hup(a)... Fax: 040/42838-3352 oder telefonisch unter
040/42838-7146
Fazit:
„In der Geschichtsschreibung der
Bundesrepublik Deutschland blieben die „Sülzeunruhen“ nur eine Randnotiz, wenn
auch zumindest seit den achtziger Jahren in der hamburgischen Historiografie
eindeutig eine kritischere, wissenschaftlich seriösere und damit angemessene
Betrachtung und Einordnung der Ereignisse feststellbar ist. Dies war lange Zeit
nicht so. Die wissenschaftlichen Untersuchungen, in denen die „Sülzeunruhen“
zumindest als Teilaspekt aufgegriffen wurden, blieben rar und in ihrer Deutung
der Ereignisse einseitig strukturiert. Dies lag eindeutig daran, dass fast
ausschließlich Zeitzeugenberichte von konservativen und rechtsnationalistischen
Beteiligten herangezogen wurden. Die vorhandenen Akten blieben weitestgehend
unbeachtet. Damit wurde ein „schiefes“, um nicht zu sagen falsches
Geschichtsbild der Vorkommnisse erzeugt, welches sich über Jahrzehnte hinweg
halten und immer weiter verfestigen konnte.“
Aus: Uwe Schulte-Varendorff in:
„Die Hungerunruhen in Hamburg im Juni 1919 - eine zweite Revolution?“ (Beiträge zur Geschichte Hamburgs,
herausgegeben vom Verein für Hamburgische Geschichte, Band 65) Hamburg 2010, S.
211.
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eingereicht von Edgar
Schwer.