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2012/01/07 09:37:25
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] ist die Goldmark heute immer noch Gold wert?
Datum 2012/01/08 13:18:10
anneliese.schumacher(a)t-online.de
Re: [Regionalforum-Saar] Die andere Seite des Saarlouiser „Helden“ Paul von Lettow-Vorbeck
2012/01/16 22:46:59
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Fwd: [Saar] Diakonissen im Krieg - gibt es Aufzeichnungen über Krankenschwest ...
Betreff 2012/01/08 13:18:10
anneliese.schumacher(a)t-online.de
Re: [Regionalforum-Saar] Die andere Seite des Saarlouiser „Helden“ Paul von Lettow-Vorbeck
2012/01/07 09:37:25
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] ist die Goldmark heute immer noch Gold wert?
Autor 2012/01/08 20:12:28
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Romans, Barbarians, and the Transformation of the Roman World

[Regionalforum-Saar] Die andere Seite des Saarlouiser „Helden“ Paul von Lettow-Vorbeck

Date: 2012/01/08 12:49:31
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

Die andere Seite des Saarlouiser „Helden“ Paul von Lettow-Vorbeck

Aus Spiegel Online „Eines Tages“ Zeitgeschichten vom 8. Januar 2012

 

Lebensmittelskandal 1919

Schuld und Sülze

Von Johanna Lutteroth

Durch Zufall wurde im Juni 1919 in Hamburg ein Lebensmittelskandal bekannt: Der Industrielle Jacob Heil hatte aus Fleischabfällen Sülze hergestellt und an die hungernde Bevölkerung verscherbelt. Der Ekel-Eklat trieb die Bevölkerung auf die Barrikaden - bis die Reichswehr die Revolte brutal niederknüppelte. Formularbeginn

 

Formularende

Schweigend wuchtete Fuhrmann Rüssau ein Fass nach dem anderen auf seinen Wagen. Regelmäßig fuhr er für die Fleischwarenfabrik Heil & Co. Dieses Mal sollte er verdorbene Fleischabfälle nach Ochsenwerder bringen, die die Bauern dort als Dung verwendeten. Für ihn war dieser Morgen des 23. Juni 1919 wie alle anderen. Bis eines der Fässer aus Versehen auf den Boden fiel und zerbarst. Eine stinkende, undefinierbare gelbliche Masse ergoss sich über die Straße. Fassungslos starrten einige herumstehende Arbeiter den widerlichen Brei an.

War es möglich, dass die Fleischwarenfabrik Heil & Co. daraus ihre Sülze herstellte, die sie mit dem Spruch "Sülze von größtem Nährwert und delikatem Geschmack" bewarb? Aufgebracht stürmten die Arbeiter die Fabrik und förderten eine Reihe von Fellen und Häuten zutage, die mit einer dicken Schimmelschicht überzogen waren. Aus einem Fass zogen sie sogar einen vergammelten Hundekopf. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht. Bald tuschelte die ganze Stadt: In der Heilschen Fleischfabrik werden Hunde, Katzen und Ratten zu Sülze verarbeitet.

Hundertschaften erstürmten die Fleischfabrik. Aufgebracht. Wütend. Gewaltbereit. Es war der Auftakt der heftigsten Hungerproteste, die die Stadt je gesehen hatte. "Immer wilder schien die Masse, immer rasender tobte sie und wollte ihre Opfer haben", erinnerte sich ein Augenzeuge. Seit Jahren hungerten die Hamburger. Selbst das Kriegsende hatte keine Verbesserung der Versorgungslage gebracht. Dass Leute wie Heil aus dem Hungerelend auf so ekelerregende Weise Kapital schlugen, hatte das Fass buchstäblich zum Überlaufen gebracht.

Erste Todesopfer

"Wenn die Behörden uns nicht helfen, helfen wir uns eben selber", brüllte die Masse. Sie marodierten durch die Heilsche Fleischfabrik, verprügelten die Angestellten und den Fabrikbesitzer Jacob Heil, den sie schließlich auf den Rathausmarkt schleppten und dort publikumswirksam in die Alster schmissen. Am nächsten Tag stürmten die aufgebrachten Arbeiter weitere Fleischfabriken und machten dort ähnliche Entdeckungen wie bei Heil. Schließlich machte das Gerücht die Runde, die Angestellten hätten hohe Schweigegelder kassiert. Vom Gedanken der Lynchjustiz beseelt, zerrte die Masse die Fleischarbeiter durch die Straßen und zwang sie, die ekelhaften Fleischabfälle zu essen.

Polizei und Senat waren sich schnell einig, dass die KPD die Menschen systematisch aufhetzte und legten daher die Unruhen als Putschversuch der Kommunisten aus. Doch die KPD war genauso überrascht von den Tumulten wie alle anderen. Es war der Hunger, der die Menschen auf die Straße trieb. Die Massen, die sich im Laufe des Tages auf dem Rathausmarkt angesammelt hatten, waren auch ohne Zutun der KPD nicht mehr zu kontrollieren. Reihenweise versuchten die Arbeiter, in das Regierungsgebäude einzudringen, warfen Fenster ein und randalierten.

In seiner Not entschied der für die Sicherheit zuständige Kommandant von Groß-Hamburg, Walther Lamp'l, schließlich das Freiwilligenbataillon der Bahrenfelder um Hilfe zu rufen, in dem sich 600 Männer aus meist gutbürgerlichen Verhältnissen zusammengeschlossen hatten. Kaum tauchten die Bahrenfelder mit ihren Stahlhelmen und Maschinengewehren am Abend des 24. Juni 1919 auf dem Rathausmarkt auf, eskalierte die Situation.

Brennende Autos, geplünderte Läden

Die Menge der protestierenden Arbeiter stand nun den schwerbewaffneten Bahrenfeldern gegenüber, die sich ruppig ihren Weg zum Rathaus bahnten. Schließlich kam es zu einem Handgemenge, bei dem die ersten Schüsse fielen. Einige Demonstranten, die durch Plünderungen an Waffen gekommen waren, schossen zurück. Nicht nur der Lastwagen der Bahrenfelder ging in Flammen auf, sondern auch die Hamburger Börse. Die ganze Nacht hindurch wurde gekämpft. Bilanz des Tages: ein Todesopfer, 15 Verletzte.

Noch in der Nacht breiteten sich die Unruhen auf die ganze Stadt aus. Autos brannten, Fenster wurden eingeworfen, Läden geplündert und demoliert - selbst in den Nobelstadtteilen Harvestehude, Eppendorf und Rotherbaum. In seiner Verzweiflung rief Lamp'l am folgenden Morgen den Belagerungszustand aus. Doch die Zwangsmaßnahme verpuffte wirkungslos. Die Menge stürmte das Rathaus, erbeutete die dort gelagerten Waffen und nahm einige Bahrenfelder gefangen. 14 der freiwilligen Kämpfer kamen bei der Auseinandersetzung ums Leben. Wenig später zogen die Aufständischen weiter und eroberten das Untersuchungsgefängnis und das Polizeigefängnis in Altona.

Vollkommen überfordert bat der frischgewählte Hamburger Senat Berlin um Hilfe. Die Andeutung, dass es sich möglicherweise um einen Revolutionsversuch der KPD handeln könne, versetzte die Reichsregierung in Alarmbereitschaft. Eine neue Räte-Regierung wollte sie um jeden Preis vermeiden. Berlin ging es aber auch darum, die Kontrolle über den Hafen und damit über die Lebensmittelein- und Ausfuhren zu behalten. Reichswehrminister Gustav Noske signalisierte angesichts dieser Gemengelage sofort seine Unterstützung.

Reichswehr knüppelt den Aufstand nieder

Zeitgleich bemühten sich Betriebsräte, Arbeiterparteien und Gewerkschaften um eine Beruhigung der Lage, in der Hoffnung, so einen Einmarsch der Reichswehr verhindern zu können. Tatsächlich konnten sie einiges erreichen. Die festgesetzten Bahrenfelder wurden wieder freigelassen. Die Krawalle nahmen spürbar ab. Doch obwohl sich die Situation deutlich entspannt hatte, marschierten am 1. Juli 1919 insgesamt 10.000 Reichswehr-Soldaten in Hamburg ein. Noske rief den Belagerungszustand aus. Die politische und militärische Kontrolle in Hamburg lag damit in den Händen von General Paul Emil von Lettow-Vorbeck, dem Kommandanten der Truppe.

Laut Zeitungsberichten bereitete die Reichswehr dem Aufstand mit äußerster Brutalität ein Ende. Mit dem Ruf "Fenster zu, Straße frei" marschierte die Reichswehr durch die Stadt. Wer nicht schnell genug verschwand, wurde niedergeschossen. Eine Arbeiterin berichtete später, dass ihren Mann genau dieses Schicksal ereilt hatte. Die Soldaten marschierten an ihm vorbei, ohne von seiner Verletzung Notiz zu nehmen. Er starb Stunden später im Krankenhaus. Zu ähnlichen Zwischenfällen kam es immer wieder. Am Ende hatte die Reichswehr zwar die Zivilbevölkerung erfolgreich entwaffnet und damit endgültig für Ruhe gesorgt. Insgesamt waren aber auch 80 Menschen gestorben.

Sechs Monate sorgte die Reichswehr in Hamburg für Ordnung. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, sie hätte einen kommunistischen Revolutionsversuch vereitelt. Dabei hatte die KPD nichts mit den Ausschreitungen zu tun. Im Gegenteil: Sie versuchte sogar, gegenzusteuern. In der "Kommunistischen Arbeiterzeitung" ließ sie bereits am 25. Juni einen Aufruf veröffentlichen, der die Genossen zur Ruhe ermahnte: "Die Kommunistische Partei, die mit diesen Tumulten nichts zu schaffen hat, fordert Euch auf, Euch von Ansammlungen fernzuhalten und nicht vor die Maschinengewehre zu laufen." Und kurz nach dem Einmarsch der Reichswehr ließ die KPD verlauten: "Die Partei verwirft jeden Versuch, sich mit Waffengewalt dem Einmarsch der Regierungstruppen zu widersetzen."

Uneinsichtiger Lebensmittelfälscher

Ob Fleischfabrikant Heil tatsächlich Ratten, Hunde und Katzen zu Sülze verarbeite hatte, konnte nie eindeutig geklärt werden. Dass er aber aus Kalbskopfhäuten in zweifelhaftem Zustand - matschig, schimmelig und mit Maden durchsetzt - Sülze machte, war durch die Aussagen von Arbeiterinnen eindeutig zu beweisen. Auch dass sein Betrieb den hygienischen Anforderungen nicht genügte, war nach den Funden nur allzu offensichtlich. Und so wurde er am 25. Oktober 1919 zu drei Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe von 1000 Reichsmark verurteilt.

Heil zeigte sich angesichts der Vorfälle, die er ausgelöst hatte, überraschend uneinsichtig. Was er produziert habe, sei "geradezu ein Bedürfnis" der Menschen gewesen. Insofern habe man sich mit seiner Verurteilung "der Menschheit gegenüber versündigt". Den Grund für diese verzerrte Selbstwahrnehmung ließ sich einem psychatrischen Gutachten über Heil entnehmen. Darin hieß es, bei Heil sei "eine sich hauptsächlich in einem erhöhten Selbstbewusstsein ausdrückende Hypomanie festzustellen".

Kaum war der Sülzepanscher wieder auf freiem Fuß, eröffnete er eine neue Fleischfabrik.

Dieser Artikel ist in Kooperation mit dem Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten "Aufsehen, Empörung, Ärgernis: Skandale" 2010/2011 entstanden.

 

Literaturhinweis:
Eine umfangreiche und ideologisch unverbrämte Darstellung der Ereignisse ist nachzulesen bei Uwe Schulte-Varendorff in "Die Hungerunruhen in Hamburg im Juni 1919 - eine zweite Revolution?" (Beiträge zur Geschichte Hamburgs, herausgegeben vom Verein für Hamburgische Geschichte, Band 65). Sehr empfehlenswert - auch zur Rolle von Noske und Lettow-Vorbeck.
Volkmar Zimmermann, Elmshorn.

238 S., 48 Abb. s/w, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 25,80 EUR
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Fazit:

In der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik Deutschland blieben die „Sülzeunruhen“ nur eine Randnotiz, wenn auch zumindest seit den achtziger Jahren in der hamburgischen Historiografie eindeutig eine kritischere, wissenschaftlich seriösere und damit angemessene Betrachtung und Einordnung der Ereignisse feststellbar ist. Dies war lange Zeit nicht so. Die wissenschaftlichen Untersuchungen, in denen die „Sülzeunruhen“ zumindest als Teilaspekt aufgegriffen wurden, blieben rar und in ihrer Deutung der Ereignisse einseitig strukturiert. Dies lag eindeutig daran, dass fast ausschließlich Zeitzeugenberichte von konservativen und rechtsnationalistischen Beteiligten herangezogen wurden. Die vorhandenen Akten blieben weitestgehend unbeachtet. Damit wurde ein „schiefes“, um nicht zu sagen falsches Geschichtsbild der Vorkommnisse erzeugt, welches sich über Jahrzehnte hinweg halten und immer weiter verfestigen konnte.“

Aus: Uwe Schulte-Varendorff in: „Die Hungerunruhen in Hamburg im Juni 1919 - eine zweite Revolution?“  (Beiträge zur Geschichte Hamburgs, herausgegeben vom Verein für Hamburgische Geschichte, Band 65) Hamburg 2010, S. 211.

 

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eingereicht von Edgar Schwer.