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2011/05/26 18:04:28
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] über die Kelten
Datum 2011/05/29 23:35:50
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[Regionalforum-Saar] "Die Amis kommen" in Ebay
2011/05/09 22:55:55
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[Regionalforum-Saar] Tag der offenen Tür im Bist umsarchiv Trier am Samstag, 28. Mai 2011
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[Regionalforum-Saar] Vortrag Wellesweiler Arbeitsk reis für Geschichte, Landeskunde und Volkskultu r e.V.
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[Regionalforum-Saar] über die Kelten
Autor 2011/05/29 23:35:50
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[Regionalforum-Saar] Tagber: Das lange 10. Jahrhundert

Date: 2011/05/27 20:05:42
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

Bericht von:
Christine Kleinjung/Davina Brückner/René Welter, Historisches Seminar,
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
E-Mail: <kleinjun(a)... Römisch-Germanische Zentralmuseum Mainz, der Forschungsschwerpunkt
Historische Kulturwissenschaften und der Arbeitsbereich Mittelalterliche
Geschichte der Universität Mainz  luden vom 14.-16. März 2011 zu einer
interdisziplinären Konferenz mit dem Titel "Das lange 10. Jahrhundert -
struktureller Wandel zwischen Fragmentierung und Zentralisierung,
äußerem Druck und innerer Krise" ein. Die Tagung setzte bei der Frage
an, welche Wirkung äußerer Druck in Form von Ungarn- und
Normannenüberfällen in dezentralen Gebilden mit personalisierter
Herrschaft entfalten konnte.  Ausgehend von einer Neubewertung von
"Staatlichkeit" und "Institutionen" sollte auch nach der Rolle der
äußeren Bedrohung auf die Entwicklungen und Krisen in den je betroffenen
Gebieten im 10. Jahrhundert nachgedacht werden. Im Fokus der Tagung
standen kleinere Einheiten der Gesellschaft wie Klöster, Bischofsstädte,
Adelssitze und Dörfer in West- und Mitteleuropa.

Die Eröffnungssektion beschäftigte sich mit aktuellen
Forschungsproblemen in Bezug auf Zentralität, frühe Staatlichkeit und
äußeren Druck im 10. Jahrhundert. Ausgangspunkt war die Tradition der
deutschen Forschung, dem Sieg Ottos I. über die Ungarn 955 eine
konstituierende Rolle bei der "deutschen" Nationsbildung beizumessen.
Die Tagungsorganisatoren CHRISTINE KLEINJUNG und STEFAN ALBRECHT (Mainz)
setzten sich in ihren Vorträgen jeweils mit dieser Forschungstradition
auseinander. Kleinjung problematisierte die gängigen Deutungsmuster in
Hinblick auf den Zusammenhang von innerer Krise und äußerer Bedrohung am
Beispiel der deutschen, französischen und englischen Forschung. Sie
regte einen Perspektivwechsel  an, um die Gleichsetzung von Stärke,
Staatlichkeit und Zentralität zu überwinden. Gerade starke
Partikularkräfte mit eigenen Leitvorstellungen und Identitäten könnten
auch die "Stärke" eines politischen Systems ausmachen. Albrecht widmete
sich in einer intensiven Quellenanalyse der Frage, inwiefern die
Aufzeichnungen über die Ungarnstürme im ostfränkischen Reich zu einer
Identitätsbildung beitragen konnten. Es zeigte sich, dass es durchaus
Texte gibt, die die Ungarnstürme mit einer Aufforderung zur Einheit
verbanden und damit ein starkes Königtum unterstützten. Dem gegenüber
gibt es aber auch Texte, die zwar die Ungarnstürme mit lokalen
Ereignissen verknüpfen, aber keinen Konnex zu einem "nationalen" oder
"royalen" Überbau herstellen. Entscheidend sei, dass die Adressaten die
Erzählungen von den Ungarnstürmen als sinnvolle Erklärungsmuster für
lokalen strukturellen Wandel akzeptierten. Der mit den Ungarn verbundene
Aufruf zur Einheit stamme von Autoren, die ohnehin ein starkes Königtum
unterstützten.

Mit dem Einfluss nationaler Perspektiven beschäftigen sich auch LÁSZLÓ
RÉVÉSZ (Szeged) und PRZEMYSLAW URBANCZYK (Warschau). Als Folgen der
nationalen Perspektive der Forschung sah Urbanczyk die Konstruktion
einer vermeintlichen ethnischen Kontinuität und eine Art Isolationismus,
der bewirke, dass man die Anfänge des eigenen Staates als Ganzes
betrachte und äußere Einflüsse nur ungern zur Kenntnis nehme. Bei der
Frage nach der "Staatlichkeit" frühmittelalterlicher großer
territorialer Organisationen solle man sich auf die Verschiedenheit
dieser Systeme gegenüber Vorhergehenden konzentrieren und nicht, wie es
allzu oft geschehe, auf den darauf folgenden Zustand.

In den anschließenden Sektionen standen jeweils gesellschaftliche
Gruppen und Einheiten im Mittelpunkt, da nach den konkreten Auswirkungen
der Ungarn- und Normanneneinfällen und ihre eventuelle Bedeutung für
strukturellen Wandel im 10. Jahrhundert gefragt wurde. Wie sich an
vielen Vorträgen zeigte, ist dieser Einfluss sowohl in der
archäologischen als auch in der historischen Forschung nur schwer zu
bestimmen. Ob Burganlagen etwa zur Verteidigung gegen Ungarn oder
Normannen errichtet wurden, lässt sich aus den Grabungsbefunden oft kaum
erschließen, wie die Vorträge von PETER ETTEL (Jena) und ANNIE RENOUX
(Le Mans) zeigten. Jedoch lässt sich eine allgemeine Tendenz zur
Zentralisierung der Adelsherrschaften anhand des Burgenbaus im 10. Und
11. Jahrhundert. Beide Referenten konnten keinen klaren Einschnitt in
der Entwicklung durch die Ungarn- bzw. Normanneneinfälle festmachen.

Ein Schwerpunkt der Tagung lag auf den Bischöfen und ihren civitates.
Mit den verschiedenen Funktionen neuerrichteter Bistümer beschäftigte
sich Ernst-Dieter Hehl in seinem Überblicksvortrag. Bischöfe erscheinen
in den Quellen immer wieder als erfolgreiche Verteidiger ihrer Stadt
gegen die Ungarn und Normannen, prominentes Beispiel aus dem
ostfränkisch-deutschen Bereich ist Ulrich von Augsburg. Aber auch in
Lothringen und Westfranken stieg der Einfluss der Bischöfe offenbar
während des 10. Jahrhunderts. CHARLES WEST (Sheffield) demonstrierte
dies am Beispiel von Trier. Die Bedrohungen und Angriffe durch Ungarn
und Wikinger, aber auch die Gewalt innerhalb der eigenen Grenzen,
führten eher zur Stärkung der bischöflichen Autorität, als das sie diese
bedroht hätten. In dem seit dem 9. Jahrhundert verbreiteten Bischofsbild
nimmt die bischöfliche Bautätigkeit einen wichtigen Rang ein, der ideale
Bischof vermehrt den Reichtum seine civitas und demonstriert den Rang
der Stadt in öffentlichen Bauten. MARTIN KROKER (Paderborn) und RALPH
RÖBER (Konstanz) stellten in ihren Vorträgen die bischöflichen
Bauprojekte in westfälischen Bischofssitzen (Kroker) und Konstanz
(Röber) vor. stellte in seinem Vortrag die Entwicklung der westfälischen
Bischofsitze vom 9. bis zum 11. Jahrhundert vor. Beide betonten zwar die
Funktionen der Repräsentation, Stärkung der wirtschaftlichen Strukturen
und Schutz vor Feinden. Der Einfluss der Ungarnstürme auf die
Bautätigkeit der Konstanzer Bischöfe könne aber laut Röber weder
nachgewiesen noch wiederlegt werden. Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt
FRANK G. HIRSCHMANN in Bezug auf die lothringischen Bischofsstädte. Aus
archäologischer Sicht lässt sich über Verteidigungsanlagen in
Bischofsstädten kaum etwas sagen (JEAN JACQUES SCHWIEN).

Wie wichtig die Einnahmen aus dem Fernhandel für die rege Bau- und
Stiftungstätigkeit im 10. Jahrhundert waren, betonte MATTHIAS HARDT
(Leipzig). Der Handel brach in Zeiten der äußeren Bedrohung nicht
zusammen. Im 10. Jahrhundert wurde durch die Erweiterung um die
östlichen Marken die Grundlage für einen regen Handel geschaffen. Vom
Fernhandel profitierten durch Zölle und Märkte insbesondere die
Herrscher und Bischöfe.

Neben den Angriffen auf Bischofsstädte und Handelsplätze berichten die
Quellen besonders häufig von Überfällen auf Klöster. Auch wenn das
Ausmaß der Angriffe und das Leid, das sie verursachten nicht relativiert
werden kann, so wird doch strukturell allzu oft eine vermeintlich
krisenhafte Entwicklung der jeweiligen Gemeinschaft mit der äußeren
Bedrohung in Zusammenhang gebracht. BERNHARD ZELLER (Wien) hinterfragte
in seinem Vortrag über St. Gallen den Zusammenhang zwischen dem
Ungarneinfall 926 sowie dem Brand 937 und einem Rückgang der
Schriftlichkeit. Zeller konnte zeigen, dass der Rückgang der Urkunden
bereits in den 870er Jahren einsetzte. Die Gründe für den Rückgang der
Schriftlichkeit sieht Zeller vor allem auf der Mikroebene, in der
klösterlichen Grundherrschaft selbst. Die Auswirkungen der Ungarn- und
Normanneneinfälle scheinen immer schwerer greifbar. Auf einem Feld
konnte jedoch ein positiver Befund vermeldet werden. MATTHIAS TISCHLER
(Dresden) sieht in der verstärkten Hiob-Rezeption im 10. Jahrhundert
einen Niederschlag äußerer Bedrohung. Die Bibel als anthropologische und
soziale Orientierungsgröße wurde auch zur Krisenbewältigung zwischen dem
späten 9. und frühen 11. Jahrhundert herangezogen. Das bedeutet, dass
wir zwar nur wenig über die Auswirkungen "vor Ort" wissen, sich aber
zeigen lässt, dass eine Art "Kontingenzbewältigung" und Verarbeitung der
Gewalterfahrung erfolgte.

Die Abschlusssektion beschäftigte sich mit der ländlichen Gesellschaft.
Hauptleidtragende der Normannen- und Ungarneinfälle waren vor allem
Angehörige der einfachen Bevölkerung. Die Auswirkungen auf Siedlungen
und Grundherrschaften lassen sich aber ebenso schwer in den Quellen
fassen, wie dies oben bereits für Bischofsstädte, Klöster und
Burganlagen konstatiert werden musste. THOMAS KOHL (Tübingen) stellte
für Bayern im 10. Jahrhundert fest, dass in den frühen Jahrzehnten des
10. Jahrhunderts Wüstungen entstanden und der Landesausbau zum Erliegen
kam. Klimaverschlechterung, lokale Kriegsereignisse, aber auch gezielte
Arrondierungspolitik der Besitzenden kommen als Gründe in Fragen. Zum
anderen kam es zu Gemeinschaftsbildungen "jenseits" der Grundherrschaft.
Die ländlichen Gesellschaften zeigen laut Kohl, dass ein genauerer Blick
gerade in sozialgeschichtlicher Hinsicht notwendig ist; das 10.
Jahrhundert kann nicht als "Tunnel" fungieren, in den die klare,
rechtlich-sozial gegliederte und durch die klassische bipartite
Grundherrschaft geordnete karolingische Gesellschaft einmündet und dann
um 1000 als ein einheitlicher Bauernstand wieder aufzutauchen. Die
archäologische Dimension präsentierte im Anschluss RAINER SCHREG
(Mainz). Er plädierte für eine Perspektive der "longue durée", um Gründe
für strukturellen Wandel erfassen zu können. Die Siedlungswüstungen
könnten auch eine Folge der Bodenverarmung durch Düngermangel sein. Der
Standortwechsel der Hofstellen diente dann in erster Linie der
Wiederherstellung der Bodenfruchtbarkeit. Schreg sieht im Strukturwandel
des Dorfes ein langfristiges Phänomen, ja geradezu einen Regelfall der
Geschichte, bei dem der Erklärungsansatz der Ungarneinfälle zu kurz
greifen würde. Dass äußere Bedrohung nicht zum Kollaps von ländlichen
Siedlungsstrukturen führen muss, zeigte auch JIRI MACHÁCEK (Brno).

Es stellt sich am Ende der Tagung unvermindert die Frage nach den
Auswirkungen der Ungarn- und Normannenüberfälle und dem Zusammenhang von
innerer Krise und äußerer Bedrohung. Dabei spielten mindestens drei
Ebenen eine Rolle: erstens die konkreten Gewalterfahrungen, die die
Betroffenen zur Zeit der Raubzüge machten, zweitens die Bedeutung der
äußeren Bedrohung für strukturellen Wandel in einer langfristigeren
Perspektive und zuletzt die Frage nach Wahrnehmung der Einfälle durch
Zeitgenossen, spätere Generationen (Katalysatorrolle?) und durch
Historiker in ihren nationalen Perspektiven. Eine Differenzierung der
verschiedenen Ebenen sollte in zukünftigen Forschungen stärker
berücksichtigt werden.

Die  Rolle der Normannen- und Ungarneinfälle sowohl  im 10. Jahrhundert
als auch in den nationalen Forschungstraditionen wurden auf der Tagung
entsprechend kontrovers diskutiert, ebenso die Frage nach einer
vermeintlichen Epochenschwelle zwischen dem 9. und 10. Jahrhundert.
Insgesamt kristallisierte sich für die betrachteten Bereiche (Klöster,
Adelsherrschaften, Bischofsstädte) eine Tendenz zur Regionalisierung
dar, welche Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen bestanden haben
könnten, müssen künftige Untersuchungen zeigen.

Konferenzübersicht:

I. Auswirkungen äußeren Drucks auf Reiche und Völker im 10. Jahrhundert

Christine Kleinjung (Universität Mainz): Die äußere Bedrohung und die
Schwäche des "Staates": Deutungs-muster in der modernen Historiographie
am Beispiel Westeuropas

Stefan Albrecht (RGZM): "Schicksalstage Deutschlands": Der Ungarnsturm
als Erinnerungsort des Mittelalters

László Révész (Universität Szeged): Ungarn und der deutsche Druck. Das
kurze oder lange 10. Jahrhundert? Archäologische Beurteilung der
Gräberfelder im Karpatenbecken.

Przemyslaw Urbanczyk (PAN Warschau): "Piast lands" - imitatio or
refutatio imperii

Moderation: Franz J. Felten (Universität Mainz)

II. Adel / Eliten

Peter Ettel (Universität Jena): Grundstrukturen adeliger Zentralorte in
Süddeutschland. Repräsentationsformen und Raumerschließung

Annie Renoux (Université du Maine Le Mans): Les lieux centraux des
élites dirigeantes au royaume de France (Xe siècle)

Kommentar und Moderation: Sigrid Schmitt (Universität Trier)

IV. Protourbanes Leben

Frank G. Hirschmann (Universität Trier): Städte in Lothringen

Matthias Hardt (GWZO Leipzig): Fernhandel, Markt und frühe Stadt im
östlichen Frankenreich

Jean-Jacques Schwien (MISHA Strasbourg): Straßburg im 10. Jahrhundert

Kommentar und Moderation: Sebastian Brather (Universität Freiburg/Br.)

VI. Klösterliches Leben

Bernhard Zeller (OEAW Wien) St. Gallen: Schriftlichkeit und Krise

Antje Kluge-Pinsker (RGZM): Memoria und Stifter

Matthias Tischler (TU Dresden): Die Bibel als anthropologische und
soziale Orientierungsgröße zwischen dem späten 9. und frühen 11.
Jahrhundert

Kommentar und Moderation: Annette Kehnel (Universität Mannheim)

Abendvortrag: Steffen Patzold (Universität Tübingen): Das lange 10.
Jahrhundert. Aktuelle Tendenzen der europäischen Forschung

VII. Ländliche Gesellschaft

Thomas Kohl (Universität Tübingen): Ländliche Gesellschaft in Bayern

Rainer Schreg (RGZM): Das Dorf im Wandel - Das lange 10. Jahrhundert
zwischen Ereignis- und Strukturgeschichte

Jirí Machácek (Universität Brno)

Kommentar und Moderation: Thomas Meier (Universität Heidelberg)

Abschlussdiskussion, Kommentar und Moderation: Stefan Albrecht,
Christine Kleinjung