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Datum 2010/04/06 18:44:49
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Autor 2010/04/06 18:44:49
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[Regionalforum-Saar] Der Historiker als Detektiv - der Detektiv als Historiker

Date: 2010/04/06 18:41:34
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

From:    David Oels <David.Oels(a)...   07.04.2010
Subject: Rez. GVD: A. Saupe: Der Historiker als Detektiv
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Saupe, Achim: Der Historiker als Detektiv - der Detektiv als Historiker.
Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman (=
Histoire 7). Bielefeld: Transcript - Verlag für Kommunikation, Kultur
und soziale Praxis 2009. ISBN 978-3-8376-1108-3; 538 S.; EUR 44,80.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
David Oels, Institut für deutsche Literatur, Humboldt-Universität zu
Berlin
E-Mail: <David.Oels(a)... Passwort wird eingegeben, ein Tor öffnet sich, die Musik klingt
dramatisch. Um einen mit Büchern, Papieren und Notebooks bedeckten Tisch
sitzen beratend zehn Frauen und Männer. Eine Einsatzbesprechung? Ein
Team von Profilern? Eine Sonderkommission? Nein. Aus dem Off wird
erklärt: "Detektive der Vergangenheit. Ungelöste Fälle. Bewegendes
Schicksal. Große Geschichte." - So beginnt allsonntäglich ZDF-History,
und die vermeintlichen Kriminalisten sind junge Historiker, die dem
öffentlich-rechtlichen Großinterpreten Guido Knopp zuarbeiten. Dass
diese Nähe von Historiker und Detektiv keineswegs auf die populäre
Geschichtsvermittlung im Fernsehen und auf Gegenwart und jüngere
Vergangenheit beschränkt ist, dass sie zudem zentral für das
Selbstverständnis, die Theoriebildung und die Rhetorik der
Geschichtswissenschaften spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert
ist, das zeigt der Potsdamer Zeithistoriker Achim Saupe in einer
vielschichtigen und gehaltvollen Studie.

Saupe beginnt mit einem Kapitel zum narrative turn in den
Geschichtswissenschaften, das als themenzentrierte Einführung in die
wesentlichen Positionen Hayden Whites, Paul Ricoeurs und Carlo Ginzburgs
lesbar ist. Zunächst wird die "strukturelle Ähnlichkeit von
historiographischen und detektivischen Erzählungen" deutlich, denn beide
erzählen "zwei Geschichten: die (rekonstruierte) Geschichte und die
Geschichte der Rekonstruktion der Geschichte", bzw. vom Verbrechen und
seiner Aufklärung (S. 46f.). Damit wird dann der "Konstruktionscharakter
der Geschichte" einer kritischen Analyse zugänglich, die in
epistemologischen, auf die Referenzialisierbarkeit gerichteten, und in
literaturtheoretischen, auf den Eigenwert der Fiktion gerichteten
Debatten vernachlässigt wurde.

Zentraler Bezugspunkt der folgenden Kapitel, die historisch den
Interferenzen von Geschichtsschreibung und Kriminalroman, von
Kriminalistik und Geschichtstheorie nachspüren, ist Johann Gustav
Droysen, dessen "Historik" (1857) das längste Kapitel gewidmet ist.
Droysen habe die "richterliche freie Beweisführung" und den
"Indizienbeweis" zum Verfahren historischer Erkenntnis befördert. Seine
Kritik an der "Suche nach den ersten Quellen als Garanten historisch
wahrer Aussagen" und "dass er die rekonstruktive Praxis in eine
Tatbestandsaufnahme überführte, [...] findet ihre Erklärung in den
Veränderungen innerhalb der Strafrechtswissenschaften und der
Kriminalistik" (S. 118). Damit sind historische Theoriebildung und
Kriminalistik enggeführt, der Historiker wird zum Untersuchungsrichter
in Sachen Vergangenheit.

Saupe zeigt, dass Droysens Typologie historiographischer Darstellungen
nicht nur im Zusammenhang mit der Abkehr der Geschichtswissenschaft vom
neuzeitlichen Roman hin zu einer Verwissenschaftlichung verstanden
werden kann, sondern sich ebenso als Theorie der Kriminalliteratur und
als von der Kriminalliteratur inspirierte Geschichtstheorie lesen lässt.
Droysens "untersuchende Darstellung", die den Hergang der
Erkenntnisgewinnung erzählt und reflektiert, ist keine Entrhetorisierung
der Historiographie, sondern folgt dem Narrativ des Krimis.

Dezidiert auf den Kriminalroman, genauer auf den Rätselroman etwa Agatha
Christies im golden age of crime der Zwischenkriegszeit bezieht sich
Robin George Collingwood. Dort ist nicht mehr der Untersuchungsrichter
Alter Ego des Historikers, sondern der fiktionale Detektiv, der das
Geschehene erfasst, in innerer Zwiesprache analysiert und das Ergebnis
als faktengestützte Re-Konstruktion seinem erstaunten Publikum
darbietet. Im Gegensatz zu Hercule Poirot kann der Historiker jedoch
nicht auf ein Schuldeingeständnis als endgültigen Beweis hoffen, sondern
bleibt auf die "historische Imagination" und den verstehenden
Nachvollzug im "re-enactment" angewiesen. Trotzdem ist die
hermeneutische Theorie Collingwoods, wie Saupe überzeugend nachweist,
auf den Kriminalroman bezogen, indem das Rätsel der Vergangenheit
heuristisch als lösbar angenommen wird, lösbar im Hinblick auf eine je
gegenwärtige Fragestellung. Denn so wie der Detektiv von einem
zweifellos vorhandenen Verbrechen ausgeht, das es aufzuklären gilt,
widmet sich der Collingwoodsche Historiker der Vergangenheit von der
Gegenwart aus. Saupe bemüht für dieses Schlussverfahren den Peirceschen
Begriff Abduktion. Problematisch am abduktiven Schließen und damit an
Collingwoods historischer Theorie und Praxis ist jedoch, wie Saupe mit
Siegfried Kracauer konstatiert, dass ein rationaler Welt- und
Handlungszusammenhang sowohl vorausgesetzt als auch bestätigt wird. Eine
Eigenlogik wird dem Verbrechen genauso wenig zugestanden wie der
Vergangenheit.

Ging es bislang aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft um die
Interdependenzen, Interferenzen, metaphorischen Bezüge zum oder Anleihen
und expliziten Übernahmen aus dem juridisch-kriminologischen Diskurs,
dem wissenschaftlichen wie dem literarischen, wechselt Saupe im
folgenden Kapitel über den Nationalsozialismus als Kriminalroman die
Seiten. In einer empirisch gesättigten, insbesondere im Kapitel über
NS-Täter im Kriminalroman der DDR auch archivalisch abgesicherten
Untersuchung, widmet er sich nun literarischen Werken, die sich
kriminalistisch mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen: etwa Hans
Helmut Kirsts "Die Nacht der Generale", Horst Bosetzkys "Sozio-Krimis",
Robert Harris "Fatherland" und Friedrich Dürrenmatts "Der Verdacht".
Überraschenderweise fehlt Peter Weiß' "Ermittlung", ein dem
Dokumentartheater zugerechnetes Stück, das dem Genre Kriminalroman nicht
ferner steht, als Bertolt Brechts "Gangsterdrama" "Der aufhaltsame
Aufstieg des Arturo Ui", das bei Saupe eine zentrale Stellung einnimmt.

Es fällt dem Leser nicht leicht, diesem Perspektivwechsel zu folgen.
Dafür hätte die These, bei der Kriminalliteratur handele es sich um
einen "reintegrativen Interdiskurs" im Sinne Jürgen Links, stärker
prononciert werden müssen (vergleiche zum Beispiel S. 482). Trotzdem
bereichern die Ergebnisse dieses Abschnitts die Forschungen zur
Nachgeschichte des Nationalsozialismus. Denn gerade die
populärkulturelle Thematisierung des Nationalsozialismus in
verschiedenen Ländern und Systemen aber innerhalb eines
konventionalisierten Genres, lässt empirisch abgesicherte Rückschlüsse
auf die jeweilige kulturelle Gestimmtheit zu. Insofern ist es
folgerichtig, dass Saupe abschließend die erfolgreichen Bände
Christopher R. Brownings und Daniel Goldhagens ebenfalls im
kriminalistischen Narrativ verortet. Während Browning sich dabei eher an
dokumentarische Formen anlehnt, die man gern als "Faction" bezeichnet,
lassen sich bei Goldhagen kontrastive Verfahren der Trivialliteratur
erkennen. Rhetorische Strategien verfolgten beide, bemerkt wurde dies
bislang aber nur bei Goldhagen.

Dieses wiederum auf die Geschichtswissenschaft bezogene Kapitel
entschädigt dafür, dass die Verflechtungen historischer Theoriebildung
mit literarischer und wissenschaftlicher Kriminalistik und Justiz für
die Zeit nach 1945 nur angedeutet werden. Mit Bezug auf Hans Georg
Gadamer heißt es etwa, dessen Hermeneutik nehme "Abschied von einer
Konzeption, die auf die Folter der Quellen, auf die heuristische Fiktion
des Verhörs oder aber auf die detektivisch fragende Analytik
Collingwoods setzt. Verortet man Gadamers Vorstellung vom
hermeneutischen Gespräch zeitgeschichtlich vor dem Hintergrund der
Erfahrungen des Nationalsozialismus und der Folterzellen der Gestapo,
wird dies durchaus verständlich." (S. 251) Allerdings - und auch das
deutet Saupe an - erschien Gadamers Hauptwerk zu einer Zeit, als in der
Bundesrepublik die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen langsam
begann, die auf das Verhör angewiesen blieb. Hier hätten sich durchaus
Erwägungen anschließen lassen - rückwärts zur heftig diskutierten
Rechtspraxis der Kriegsverbrecherprozesse und der Rede von der deutschen
Katastrophe und vorwärts zur Strukturgeschichte und der Abwesenheit der
Täter im bundesdeutschen Gefühlshaushalt oder zum narrative turn und der
Rehabilitation des Zeugen.

Trotz dieser Einschränkung überzeugen These und Darstellung der gut
lesbaren, faktenfreudig erzählten und auf Nachvollziehbarkeit bedachten
Arbeit vollkommen. Denn Saupe belegt, dass es wenig erkenntnisfördernd
ist, Geschichtsschreibung und Literatur engzuführen und auf
archetypische Plotstrukturen zu reduzieren, oder umgekehrt mit Verweis
aufs Faktische die Kontamination historiographischer Erzählungen durch
fachexterne Narrative zu negieren. Vielmehr ist von Wechselverhältnissen
auszugehen, die mithilfe der Begriffe Fakt und Fiktion, Literatur und
Geschichte, U und E kaum sinnvoll erhellt werden können. Beispielsweise
wird im "Geschichtskrimi" der Gegenwart "[n]icht selten [...] die
positivistisch-kriminalistische Aufklärungsarbeit gegen die
Interpretierbarkeit der Geschichte ausgespielt. So entfalten die
historischen Kriminalromane als Aufklärungsfiktion eine mythisierende
Kraft, während die Kriminalliteratur als Fiktion gelingender
Rekonstruktion immer wieder Anlass bot, von Historikern rezipiert zu
werden." (S. 484)

An dieser Aufklärungsfiktion partizipiert auch Guido Knopp, dessen
überstarke Abwehr durch die institutionalisierte Historiographie nun
auch lesbar ist als Projektion. Denn im Wettstreit um die öffentliche
Aufmerksamkeit lässt sich der Detektiv geradezu als Wunschbild
verstehen, das immer seltener tatsächlich vom Historiker ausgefüllt
wird. In der Populärkultur sind es im Falle der Zeitgeschichte oft
Journalisten, die die historische Rekonstruktion leisten und im Falle
der älteren Geschichte seit dem 19. Jahrhundert und bis zu Indiana Jones
oder Lara Croft beinahe ausschließlich Archäologen, die in der Regel
explizit gegen die akademische Geschichtsschreibung in Sachen
Vergangenheit ermitteln. Einen Beleg findet das im mit dem Deutschen
Jugendbuchpreis 2009 ausgezeichneten "Rätsel der Varusschlacht" von
Wolfgang Korn und Klaus Ensikat (2008). In der Einleitung wird dem Leser
erklärt, der "typische Historiker" sei ein "lesewütiger Sammler", der
sich darauf stützen müsse, was bereits niedergeschrieben sei, während
der "typische Archäologe" als "buddelwütiger Detektiv" die materiellen
Spuren freilege. Der Untertitel des Buchs macht dann die Prioritäten
endgültig klar: "Archäologen auf der Spur der verlorenen Legionen".


Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Stefan Jordan <jordan(a)... zur Zitation dieses Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-2-019>

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